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Die Kerntechnik ist eine historisch relativ junge Technologie – und eine mächtige Raum-Produzentin. Anfangs waren die nuklearen Räume unspektakulär. Betrachtet man heute im Museum die Versuchsanordnungen der ersten Atomforscherinnen und -forscher oder Fotos von ihren Laboren und Arbeitszimmern, erstaunt die Einfachheit und Alltäglichkeit der Materialien.

Mit dem »Manhattan Project«, einem militärischen Forschungsprogramm zur Entwicklung und zum Bau der ersten Atombombe, begann sich das inmitten des Zweiten Weltkriegs zu ändern. Die Kerntechnik trat in die Weltgeschichte ein, und es schoben sich Regimes der Geheimhaltung über die nuklearen Experimente. Enrico Fermis Reaktor, in dem am 2. Dezember 1942 die erste selbsterhaltende Kettenreaktion initiiert wurde, stand unter einer Zuschauertribüne des Footballstadions der Universität Chicago. Er stand dort nicht nur, weil man eine geräumige Einhausung brauchte, um den Pile, die kritische Anordnung aus Uranplatten und Grafitblöcken, aufzustapeln. Man brauchte auch einen Ort, an dem man ein nukleares Experiment nicht vermuten würde: einen Alltagsort als Tarnung.

Tarnung und »Kompartmentalisierung« – die Zerlegung der Arbeitsprozesse, Arbeitsräume und Wissensbestände in einzelne »Abteile«, deren Personal stets nur von der eigenen Arbeit wusste, nicht aber von der Arbeit der benachbarten Abteilungen – wurden zum Signum der Atombombenprogramme in Ost und West. Die Militarisierung machte die Räume des Atoms zu Heterotopien. Als solche »Anders-Orte« bezeichnet der Kulturhistoriker und Philosoph Michel Foucault all jene Orte, die sich durch besondere Normsysteme, Symbole, Übergangsriten und Grenzziehungen auszeichnen: das panoptische Gefängnis, die Klinik oder der moderne, regulierte Friedhof. Diese Orte, so Foucault, seien kennzeichnend für die Moderne: Ihnen allen gemeinsam sei ein besonderer Umgang mit menschlichen Körpern, die einer Politik der Kontrolle, der Hygiene, der Vermessung, der ökonomischen Verwertung und der sozialen Disziplinierung unterzogen werden.

Warnschilder, gelb-schwarze Absperrketten hängen an Haken.
Sicherheitsschleuse mit Drehkreuzen und orangefarbenen Kabinen.

Von der normalen Welt waren diese Orte völlig abgetrennt.

Genau das widerfuhr den Menschen, die mit den frühen Atomanlagen in Kontakt gerieten. Die sowjetischen, amerikanischen und britischen Militärreaktoren in der Atom-Frühzeit wurden unter brutalem Verschleiß an menschlicher Arbeitskraft und Gesundheit sowie an natürlichen Ressourcen errichtet und betrieben. In den USA wie der Sowjetunion waren diese Orte von der normalen Welt völlig abgetrennt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter wohnten in Sperrgebiets-Siedlungen oder in Zwangsarbeitslagern, die Kunstnamen oder einfach nur Postleitzahlen trugen: Tomsk-7, Arsamas-16, Čeljabinsk-40. 

Während die Abschottung vor unbefugtem Zutritt perfektioniert wurde, unternahm man jedoch keine großen Anstrengungen, die Anlagen auch technisch von ihrer Umwelt zu trennen: Die ersten Plutoniumreaktoren wurden noch ohne Zwischenkreisläufe direkt aus nahe liegenden Flüssen gekühlt, flüssige radioaktive Abfälle aus der Wiederaufbereitung in Gewässer entsorgt. Die frühe sowjetische Atomwirtschaft beruhte zu Teilen auf der Nutzung von Zwangsarbeitskraft, deren Ausbeutung als Strafe für den gefangenen Menschen gedacht war. Die Menschen in der Nachbarschaft der Anlagen wurden ungefragt in die nukleare Entwicklung einbezogen. Über die Nahrung nahmen sie radioaktive Substanzen auf und waren als Erste von den frühen, meist geheim gehaltenen kerntechnischen Unfällen betroffen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Idee auf, thermische Kraftwerke, die in den meisten Industriestaaten bis heute einen Großteil des Stroms liefern, mit der durch Kernspaltung erzeugten Wärme statt mit Kohlefeuerung zu betreiben. Die vorher dem Militärbereich zugehörige Kerntechnik wurde so allmählich zivilisiert und normalisiert. Sie trat aus dem Schatten der Geheimhaltung heraus und eroberte neue, nicht mehr abgesperrte Orte: die Stromnetze von Energieversorgern und ländliche Räume, die zu Standorten von Atomkraftwerken wurden.

Kleiderständer mit grünen, orangenen und blauen Schutzanzügen.

Im östlichen Europa landeten die Anlagen seit Ende der 1960er Jahre wie Raumschiffe der Moderne in dünn besiedelten Wald- und Wasserlandschaften und formten diese zu Energielandschaften um. Direkt neben den Reaktoren wurden moderne Plattenbau-Werksstädte aus dem Boden gestampft, deren Bewohnerinnen und Bewohner ein verhältnismäßig privilegiertes Leben führten und spezifische soziale Identitäten entwickelten: Sie fühlten sich als Pioniere und Kolonisatoren rückständiger Gebiete und identifizierten sich stark mit den Atomanlagen, die als moderne Arbeitswelt mit hochqualifizierter Arbeitskraft wahrgenommen wurden. Eine solche Stadt war Prypjat, die Kerntechnikerstadt des KKW Tschernobyl. In der Atomstadt Kusnezowsk (seit 2016 Warasch), 350 Kilometer weiter westlich in derselben Landschaft gelegen, habe ich für mein Projekt lange geforscht und die Mensch-Maschine-Beziehungen in der Kerntechnik untersucht. Die westdeutschen Kernkraftwerke sind fast alle in den inneren Peripherien der aufstrebenden Bundesrepublik entstanden. Meine deutschen Vergleichsfälle liegen in Unterfranken und im Weserbergland.

Doch bei aller Normalisierung sind die Kernkraftwerke immer auch Heterotopien geblieben – Orte der Zurichtung menschlicher Körper auf die Bedürfnisse der Kerntechnik. Das stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Alltag dieser Anlagen, wo Schichtbetrieb, Werkssport, Betriebsratssitzung und Weihnachtsfeier sich nicht von anderen Betrieben unterschieden. Denn allein der Charakter der kerntechnischen Arbeit erzeugte neue »Anders-Orte«. Sie entstanden durch die Wissenstechniken und Schutzvorkehrungen, die nötig sind, um den Umgang mit radioaktiven Materialien und Medien zu ermöglichen.

Dazu gehörte auch die Absicherung der Anlagen: vor illegaler Weiterverbreitung von spaltbarem Material, vor Angriffen von außen. In den von Linksterrorismus und Anti-Atom-Protesten geprägten westdeutschen 1970er Jahren waren die Kernkraftwerke nicht nur Schauplätze von Schlachten zwischen Polizei und Demonstrierenden. Sie wurden auch zu Orten, die der Staat und die Betreiber immer weiter aufrüsteten und abschotteten: Wassergräben, martialische Zäune, Überwachungstechnik und Sicherheitsüberprüfungen teilten die Welt in Menschen, die außen vor blieben, und Menschen, die Zugang hatten.

ANNA VERONIKA WENDLAND
ist Forschungskoordinatorin in der Direktion des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung. An dem Marburger Leibniz-Institut befasst sie sich mit der Geschichte der Nukleartechnik in Ost und West.

Rund geformter Büroraum mit Schaltpulten und Bildschirmen in einem Atomkraftwerk
Unordentlicher Schreibtisch, an der Wand darüber ein Periodensystem.

Atomanlagen wurden als moderne Arbeitswelt wahrgenommen.

Die deutschen Kernkraftwerke hätten Landmarken einer auch architektonisch stilbildenden Industriemoderne im »Modell Deutschland« werden können, mit ihren archetypischen Ensembles aus Reaktorgebäude, Maschinenhaus und Kühltürmen, die heute weltweit als Symbolbilder für Kernenergie genutzt werden. Stattdessen gerieten sie, giftgrün grundiert, auf das Titelblatt des Buchs »Der Atom-Staat« von Robert Jungk. Der Philosoph, anfangs noch ein begeisterter Jünger der Atomkraft, skizzierte die KKW nun als Orte der Zersetzung von Demokratie und Bürgerrechten. Unsere französischen Nachbarn machten derweil andere Erfahrungen: Dort wurde die Kernenergie unverbrüchlich mit Nationalstolz und Grandeur verbunden, eine Anti-Atom-Bewegung konnte sich nicht politisch etablieren.

Im Inneren der Atomanlagen herrschen besondere Regimes der Grenzziehung, Abschottung, Geheimhaltung und Zonierung. Ein Kernkraftwerk ist in tiefengestaffelte Sicherheitsbereiche aufgeteilt, die jeweils eigene Zutritts- und Kleiderordnungen haben. Im Innersten befindet sich der nukleare Kontrollbereich, wo Menschen in Kontakt mit radioaktiven Stoffen und Strahlung kommen können. Wer dort arbeitet, muss viele Übergangsriten durchlaufen, die tief ins Privatleben eingreifen: die jährlichen Gesundheitschecks, Sicherheitsüberprüfungen und Fachkundeprüfungen, den Check-in beim Strahlenschutzbüro, schließlich alle möglichen gesicherten Türsysteme, einen Kleidungswechsel. Den Ausgang aus dem Kontrollbereich bewachen drei Staffeln von Kontaminationsmonitoren mit aufsteigender Messempfindlichkeit.

Der faszinierende, aber auch unheimliche Mythos des Nuklearen als einer exzeptionellen, gefährlichen Welt geht zum Teil auf diese Zonierung und Zugangsregelungen zurück, die fast denen in sakralen Gemeinschaften ähneln: Der Kontrollbereich ist eine Art Klausur. Tatsächlich operierten frühe Debatten über die Absicherung der kerntechnischen Prozeduren und des Millionen Jahre strahlenden Atommülls mit Vorstellungen von einer »nuklearen Priesterschaft«, die allein Zugang zum Allerheiligsten hat und ihre Geheimnisse nur an ausgewählte Nachfolger aus der nächsten Generation weitergeben sollte.

Menschenleerer Kantinenraum mit grünen Stühlen.
Glasvitrine mit Pokalen und anderen Abzeichen.

Die Außergewöhnlichkeit der in diesen Räumen behausten Gegenstände und ihre Visualisierung in Presse, Fernsehen und Büchern tat das Ihre: durch all die Bilder von blitzenden, unergründlichen Apparaturen, mit Instrumenten und Schaltpulten vollgepackten Kontrollräumen und blau strahlenden Brennelementen unter dicken Wasserschichten. Doch der gelebte Alltag im Atomkraftwerk ist relativ unspektakulär und passt nicht in dieses visuelle Schema. Wie ich bei meinen Hospitanzen auf Brennelement-Lademaschinen feststellen konnte, würdigen routinierte Atomarbeiter die magische blaue Tscherenkow-Strahlung keines Blickes. Für sie ist das Brennelement, das draußen die Atommüll-Kontroversen anheizt, ein alltägliches Ladegut. Mein Forscherinnendasein in Kernkraftwerken war über lange Strecken ähnlich unspektakulär – das gemeinsame Kochen auf den Wochenendschichten, der schweißtreibende Alltagstrab durch die labyrinthischen Anlagengebäude bei den schichttäglichen Aufschreibungsrundgängen oder das Verschnaufen auf abgelegenen Leitständen, wo kein Vorgesetzter einen stört, während die Geräuschkulisse aus Lüftern und zwitschernden Rohrleitungen die Hintergrundmusik abgibt.

Doch nicht die Alltags-Kernenergie prägte ihre öffentliche Wahrnehmung, sondern das Zerbrechen des Alltags. Im Lichte der Erfahrungen mit schweren kerntechnischen Unfällen wurde auch der zivile Kernreaktor zum Element einer Dystopie, zur zivilisationszerstörenden Maschine. Die Räume des Atoms, die sich nun im kollektiven Weltgedächtnis festsetzten, waren auf wenige Bilder festgelegt: die körnigen Zooms von dem in Ungewissheit vor sich hinbrütenden Reaktor 2 auf Three Mile Island bei der US-Stadt Harrisburg, der nach einer Kernschmelze einem Großunfall nur knapp entging; die Schockbilder vom brennenden Block 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl sowie die Bilder der in der Folge langsam vom Wald zurückeroberten Geisterstadt Prypjat; die Explosionen in Fukushima und die endlosen Reihen von schwarzen Plastiksäcken, in denen abgetragener kontaminierter Boden aus der Sperrzone am Pazifik aufbewahrt wird.

Unter dem Eindruck der Klimakrise werden neuerdings auch wieder gegenläufige Stimmen laut. Nun, wo CO2-Bilanzen Hauptwährung der Umweltpolitik sind, lagern sich vereinzelt wieder Hoffnungen an die Kernenergietechnik an, weil sie CO2-arm Strom produziert. Insbesondere im östlichen Europa und in China, aber auch in den USA und Frankreich bauen die nuklearen Industrien nun auf eine PR, welche die Kernkraftwerke als Klimaschutzmaschinen zeigt.

In Deutschland hat man die Vollendung des Atomausstiegs beschlossen, unter anderem mit Verweis auf die Gefahr von Unfällen und die ungelöste Frage der Endlagerung des Atommülls. Die Kernkraftwerke hierzulande werden im kommenden Jahr abgeschaltet und zu Rückbaustellen. Die Räume des Atoms bleiben also ambivalent.

Der Alltag im Atomkraftwerk ist relativ unspektakulär.

Durch Zweige hindurch kann man zwei Reaktortürme erkennen.

SELTENE EINBLICKE
Den Beitrag haben wir mit Bildern von Michael Danner illustriert. Sein Projekt »Critical Mass« führte ihn in alle 17 deutschen Atomkraftwerke, das Endlager Asse und nach Gorleben. Dort hatte der Fotograf Zutritt zu sonst unzugänglichen Bereichen. Seine Bilder zeigen das Innere der Anlagen und ihre Architektur — aber auch Alltagsorte zwischen Sicherheitsschleuse, Kantine und Betriebssport.

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