leibniz

Raum greifen ...

Darf eine einzelne Stimme Raum greifen, wenn die Evidenz etwas anderes sagt?

Bitte nicht nur sichtbar, sondern präsent. Deutlich? Nein, laut muss es sein. Sachlich? – Langweilig. Lieber schrill und überspitzt. Nachdenklich ist von gestern. Wir wollen es gleich, tout de suite, wir wollen es direkt, für einmal Atem holen ist kein Platz, für einen Gedanken, eine Umkehrprobe, einen Zweifel erst recht nicht.

So, auf diese Weise, erobert man besonders effektiv den virtuellen medialen Raum, oder besser die medialen Räume, in denen »das Netz« im Großen und Ganzen dieser Logik zu folgen scheint. Das sollen wir glauben und da ist ja auch was dran. Und es ist auch nichts Verwerfliches an einer Pointierung, die für Aufmerksamkeit sorgt – wenn denn die Aufmerksamkeit im Dienste einer Frage, eines Inhalts, einer Überlegung und Diskussion steht. Wenn das Mittel zum Zweck dahinter aber in Aufregung aufgeht, zum Selbstzweck geriert, dann dient das – ja, wem eigentlich? Welcher Sache? Dann ist Raum gegriffen, nun ist er belegt und kostet Zeit und sonst nichts.

Es gibt aber auch das andere Raumgreifen, das das Bild des Greifens umdreht: Es ist kein Griff nach Raum, der dann anderen Menschen und Dingen nicht mehr zur Verfügung steht, sondern ein Erfüllen von innen heraus. Klang-Licht-Installationen werden häufig als raumgreifend beschrieben. Denn Klang und Licht nehmen den Raum nicht im eigentlichen Sinne ein oder gar weg, sondern füllen ihn aus und machen ihn so spür-, sicht- und hörbar. Dann ist »raumgreifend« ein Fingerzeig, eine Weisung: Schaut her, kommt herein, hier gibt es Raum, so klingt er, so sieht er aus, das findet ihr darin, hier könnt ihr suchen und finden.

Mit dieser umgedrehten Metapher springe ich zurück ins Jahr 2014. Da wurde ich Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, einer vielfältigen Forschungsgemeinschaft mit einem Reichtum an disziplinären und funktionalen Räumen. Die meisten von ihnen sind wunderbar erfüllt und gut ausgeleuchtet, da ist viel los. Aber nicht immer dringt ihr Schein und Klang auch nach außen, nicht überall kann man den Weg zu ihnen leicht finden. 

Es war mir von Beginn an Auftrag und Freude, Wege in die Leibniz-Einrichtungen zu weisen, sodass ihre Forschung im Diskurs, in der Erprobung, im Team ihren Raum einnimmt – und Wege aufzuzeigen, sodass Erkenntnisse und Ergebnisse aus den Leibniz-Einrichtungen auch ihren Weg finden in den nächsten wissenschaftlichen Diskurs, in die Praxis, in die Beratung, ins Wissen.

Nein, aufmerksamkeitsheischend, breitschultrig und krakeelig sein, steht Forschung nicht so gut zu Gesicht; allein schon deswegen, weil sie der einen Wahrheit berufshalber nicht vertraut und eine solche deshalb auch nicht lauthals verkünden mag. Darüber haben unlängst bei einer »Langen ZEIT-Nacht« auch drei Herren bisweilen scharf und ein bisschen einsam diskutiert. Wie ist das mit steilen und krassen Thesen aus der Wissenschaft? Finden sie den Weg in die Öffentlichkeit einfach nur deswegen, weil sie steil und krass sind? Werden manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihretwegen eingeladen in Talkshows? Darf, muss eine einzelne Stimme Raum greifen dürfen, wenn die Evidenz etwas anderes sagt?

Das mag man im Einzelfall beurteilen. Das tue ich auch. Darüber hinaus finde ich aber, wir können und müssen uns wissenschaftsintern Mindermeinungen, sogar abseitige Meinungsbeiträge, in jedem Fall leisten, die ja auch einmal Schlussfolgerungen sein oder hervorbringen können, auf die sonst noch niemand gekommen ist. Irrtümer sind nie ausgeschlossen – nicht bei moderaten, nicht bei steilen, nicht bei erwartbaren Thesen, nicht bei überraschenden. Sie wahrzunehmen und zu prüfen, ist nur Möglichkeit und Effekt eines gut hörbaren und hell erleuchteten Raumes, den Wissenschaft und Forschung »greifen« – indem sie ihn öffnen.

... oder Raum geben?

Forschung und Wissenschaft Raum zu geben, bedeutet, ihre Arbeit wahrzunehmen.

Seltsamerweise wird die Vorstellung, Raum zu geben, zunehmend als problematisch wahrgenommen: Warum sonst heißt es häufig, diesem und jenem solle kein Raum gegeben, kein Platz eingeräumt werden – Meinungen, Gefühlen, Gesprächen, auch Personen? Ist das Ausdruck eines mangelnden (Selbst-)Vertrauens in eigene Positionen und ihre Überzeugungskraft? An welcher und wessen Diskursfähigkeit und Kursfestigkeit wird hier eigentlich gezweifelt? Und wie eng müsste der Raum schon geworden sein, dass er so wenig Bewegung und Vielfalt zulässt?

Ich komme aber eigentlich anderswo her und will anderswo hin: Raum geben heißt Raum schaffen, ihn mehren und weiten, wenn Sie so wollen. Forschung und Wissenschaft als Gesellschaft Raum zu geben, bedeutet, sie in ihre Mitte aufzunehmen, sie zu befragen, sie zu fordern – von ihnen auch zu fordern, ihren Raum einzunehmen, ihre Verantwortung, ihre Ansprechbarkeit, vielleicht schlicht: ihre Arbeit wahrzunehmen. Das ist doch beiden – Forschung und Gesellschaft – trotz und wegen des Drucks der Corona-Pandemie zuletzt gut gelungen. 

Denn wer Raum gibt, tut das in der eigenen Nähe. Diese dann auszuhalten, mit allen Konsequenzen und Einblicken, gehört auch dazu. Forschung und Wissenschaft politisch Raum zu geben, heißt nun schon länger, Universitäten und Forschungsorganisationen in Deutschland über die Pakte für Lehre, Forschung und Innovation mit guten Mitteln und zugleich mit gemeinsam entwickelten Zielen auszustatten. Letztere sichern nicht zuletzt gesellschaftliche Erwartungen an die Forschung – und insgesamt sichert dieser Modus permanenten Dialog zwischen Politik und Organisationen und Raum, auch Freiraum für neue und bewährte Wege der Forschung.

Als Führungskraft Raum zu geben, mag wohl auch einmal heißen, sich selbst zurückzunehmen, die eigenen Anteile am Gesamterfolg unausgesprochen zu lassen oder den eigenen Anteil im Stillen darin zu erkennen, anderen Raum für eigene Wege, Umsetzung und Erfolg gelassen zu haben, sich auf das Ermöglichen zu besinnen.

So tut jeder und jede, der und die führt, sei es eine Organisation, ein Ministerium, ein Unternehmen, eine Gruppe, einen Verein, gut daran, im Großen wie im Kleinen auch zu erkennen, für wen, was und wo welchen Raum zu geben richtig und wirksam sein wird.

Raum geben heißt auch, eine Bühne geben für das, was im Verborgenen passiert: in der Forschung die unendlichen Lektüren, bis sich der neue Gedanke formt, im Experiment die unzähligen Beobachtungen, bis sie ein mögliches Muster ergeben, im Labor das Warten auf Reaktionen, bis etwas Neues entstanden ist. Wir wollen gern davon erzählen. Wir wollen gern begeistern. Dafür braucht es Geduld. Und Raum.

MATTHIAS KLEINER
Manchmal gibt es auf eine Frage nicht nur eine Antwort. Dieses Mal haben wir in unserem »Pro & Contra« deshalb einen Kommentator, der mindestens zwei Blickwinkeln etwas abgewinnen konnte: Matthias Kleiner ist seit 2014 Präsident der Leibniz-Gemeinschaft und hat seither immer wieder Raum gegeben und manches Mal gegriffen. Im Sommer 2022 endet seine Präsidentschaft nach zwei Amtszeiten.

Vielleicht auch interessant?