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Seine Ehefrau Sigrid legt ihm jede Woche eine Liste hin. »Perlator entkalken« steht da drauf, aber auch »Autobatterie aufladen« oder »Glühbirne im Badschrank«. »Kleinigkeiten halt«, sagt Wolfgang Heckl und grinst: »Ich freu mich, wenn ich‘s gemacht habe, dann werde ich gelobt.«

Das passiert häufig, denn wenn Heckl mit dem Zettel in eine seiner Werkstätten geht, sind hinterher oft Dinge wieder funktionsfähig, die bei anderen Familien in der Müllgelandet wären. »In unserem Haushalt gibt es nichts, was meinen Reparaturanstrengungen entkommen kann.« Und so ist Heckl vermutlich der einzige deutsche Universitätsprofessor, der in einem fast 100 Jahre alten, viele Male geänderten Anzug seines Großvaters zu offiziellen Anlässen geht und dazu eigenhändig gestopfte Socken trägt.

Dabei ist Wolfgang M. Heckl eigentlich für andere Dinge berühmt. Er ist Generaldirektor des Deutschen Museums. Zudem hat der Biophysiker einen Lehrstuhl an der Technischen Universität München inne und sitzt in Gremien wissenschaftlicher Forschungsgruppen und Stiftungen. Er steht im Guinness-­Buch der Rekorde, weil er »das kleinste Loch der Welt« gebohrt hat, berät EU-­Kommission und Bundesregierung zu Nanotechnologie und ist einmal in der Woche im Bayerischen Fernsehen, beim Sonntags-­Stammtisch mit dem Focus-­Herausgeber Helmut Markwort und dem Karikaturisten Dieter Hanitzsch. »Stress ist eine Frage der Einstellung«, findet Heckl. »Mir fällt einfach so vieles ein, was ich tun möchte.«

Dieser Impuls führt ihn häufig auch in den Münchner Westen. An einem Samstagmorgen im Winter steht Heckl in einem dunkelroten Fabrikgebäude in Neuaubing. Früher wurden hier die Schlafwagen der Reichsbahn gewartet, jetzt kommen am Wochenende Menschen, die der Zeit der Schlafwagen hinterher trauern dürften, Nostalgiker und »Kulturgutbewahrer«, wie Heckl Kunden und Verkäufer nennt. Um ihn stapeln sich Wanderführer aus den 1920er Jahren und bestickte Omahandtaschen. Beim »Sammlerkönig«, einem der Verkaufsstände, hängen Perlenketten. Der Titel meint den Standbesitzer, passt aber auch zu vielen Kunden. Zu Wolfgang Heckl zum Beispiel. Der liebt schöne alte Dinge, besitzt, pflegt und repariert sie. Er ist überzeugt: Am Aufbau eines Dieselmotors kann man mehr über die Welt lernen als aus manchem Lehrbuch.

Gestern Nacht habe ich wieder zugeschlagen.

WOLFGANG M. HECKL

Wolfgang M. Heckl zwischen gebrauchten Gegenständen aller Art, unter anderem ein Fahrrad, ein Keyboard und viele Bilderrahmen.
Auf dem Flohmarkt sucht Heckl besondere Stücke. In seinen drei Werkstätten macht er sie wieder fit.

In Neuaubing weiß man, dass »der Wolfgang« ein berühmter Mann ist. Man ist stolz, mit ihm per Du zu sein, nickt ihm zu und sagt »Servus«. Heckl winkt und lächelt zurück. Man legt ihm Stücke beiseite und gibt ihm Kredit. Und ihm wird gleich etwas von der heißen Suppe angeboten, die ein Standeigentümer mitgebracht hat. »Ich werde immer versorgt hier«, sagt Heckl. Kein Wunder, dass er kommt, wann immer er Zeit findet. Gemütlich schlendert er durch die Reihen, selbst, wenn es in den hohen Hallen so kalt ist wie an diesem Wintersamstag.

Heckl nimmt die Hände aus der Trachtenjacke. Auf einem Tischchen hat er ein altes Grammophon entdeckt. Dunkles Holz, eine dünne Staubschicht auf dem Deckel. »Schön ist das«, sagt er und beugt sich nieder. Doch sofort legt sich seine Stirn in Falten. Die Nadel ist angelaufen. Er öffnet mit flinkem Griff das daneben liegende Päckchen mit einer Ersatznadel, doch es ist nicht die passende. Schon hat er mit dem Tüfteln begonnen.

Während er Schrauben löst und Einzelteile abnimmt, erzählt er von seinem letzten Fund. »Gestern Nacht habe ich wieder zugeschlagen«, raunt er. Die Tonlage klingt nach Banküberfall, doch Heckl spricht von einer Musikbox, die so selten ist, dass er nicht einmal verrät, wo er sie her hat. Nur so viel: der Tipp eines Bekannten, eine Scheune auf dem Land. »Und hier ist der Schlüssel für das gute Stück«, sagt Heckl triumphierend und hält ihn kurz in die Höhe.

Dass Heckl heute eine »Kultur der Reparatur« predigt, hat auch mit Musikboxen zu tun. Als junger Mann merkt er, dass wer Musikanlagen zusammenbauen kann und sich mit Bands auskennt, bei den Mädchen begehrt ist. Dem jungen Wolfgang passt das. Er tüftelt schon immer gern. Als Kind hat er das Radio seiner Eltern auseinandergenommen, weil er wissen wollte, wie es funktioniert. Als Student arbeitet er in einem Auktionshaus für technische Geräte und Spielzeug.

Mittlerweile, als 57 Jahre alter Familienvater, hat er drei Werkstätten, eine mechanische, eine für Holz und eine für Elektronik. Er besitzt eine große Sammlung an Raritäten, unter anderem eine Bianchi Aquilotto, ein über 60 Jahre altes Fahrrad mit motorisiertem Antrieb. Das »Sammler-­Gen« habe er von seiner Großmutter geerbt, sagt Heckl amüsiert. Und ihren Nachlass. Bis heute steht ein Teil des Erbes in mehreren Dutzend Kisten in seiner Garage. Jedes Jahr zu Weihnachten macht er eine davon auf.

Bei der Reparatur eines Plattenspielers.

Wie sehr es das Leben bereichert, Dinge respektvoll zu behandeln und sie zu reparieren, ist Heckl mit den Jahren immer klarer geworden. Der Erwerb langlebiger Waren, der Schutz des lokalen Handwerks, der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen — all das hänge damit zusammen. Zu sehr hätten sich die Menschen von den Gegenständen entfremdet. »Wenn man sich das anschaut«, sagt Heckl über seine Bianchi Aquilotto, »dann versteht man, wie Mechanik funktioniert, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert — das sehen Sie in einem modernen Fahrzeug nicht.«

Wer Dinge selbst repariert, habe zudem eine Beschäftigung, die Geist und Hirn wachhält. So ein Mensch ist unabhängig, findet Heckl. Und gleichzeitig abhängig, auf eine gute Weise. Kommt er bei einer Reparatur nicht weiter, fragt er seinen Nachbarn oder seine Freunde vom Reparierclub des Patentamts gegenüber vom Deutschen Museum auf der anderen Isarseite. Dort wurde bereits die Kaffeemaschine seiner Sekretärin vor der Mülltonne gerettet.

»Learning by doing mit Fremdhilfe« nennt Heckl seine Methode. Denn Reparieren sei ein sozialer Akt. »Am Flohmarkt finden Sie so interessante Typen wie sonst nirgendwo, Leute, die sich dem Kulturguterhalt hingeben.« In Repaircafés kämen Menschen zwar, um Dinge wieder funktionsfähig zu machen. Aber am Ende säßen sie meist zusammen und sprächen darüber, wie sie leben möchten.

FIESE MASCHE

Illustration einer weiblichen Person, deren Kopf und Oberkörper eine Glühbirne ist.

Der Anteil der Haushaltsgeräte, die aufgrund eines Defektes innerhalb der ersten fünf Jahre ersetzt werden mussten, ist seit 2004 laut dem Umweltbundesamt stark gestiegen. In einer aktuellen Studie kritisiert die Behörde, dass viele Geräte gar nicht mehr repariert werden können. Steckt Absicht dahinter? »Geplante Obsoleszenz« (lat.: obsolescere = sich abnutzen) ist der Fachbegriff für das strategische Reduzieren der Lebensdauer von Produkten. Ob Hersteller tatsächlich gezielt Schwachstellen einbauen, um Kunden zum Neukauf zu zwingen oder ob das nur ein hartnäckiger Mythos ist, ist nicht geklärt. Zwei Fälle gab es aber mit großer Wahrscheinlichkeit vor dem Zweiten Weltkrieg: Der Nylonstrumpf ohne Laufmasche und die nicht durchbrennende Glühbirne verschwanden vom Markt. Eine dieser Kohlenfadenlampen brennt seit 1901 in einer Feuerwache in Kalifornien. Und zeigt, dass die Lebensdauer von Glühbirnen sehr viel länger sein könnte.

Über kleine Fragen will er im Großen etwas ändern.

Nicht nur Heckl hat das Reparieren als sinnstiftende Tätigkeit für sich entdeckt. Die Wieder-­ und Weiterverwendung von Dingen ist eine der wichtigsten globalen Bewegungen der vergangenen Jahre. Neben Repaircafés gehören dazu offene Nähwerkstätten, Flohmärkte und Secondhand­-Läden. Der Erfolg von Büchern wie »Marke Eigenbau« des Journalisten Holm Friebe, Do-­it­-yourself­-Magazinen, Tauschplattformen im Internet und Anleitungen auf Youtube zeugen davon, dass immer mehr Menschen Lust haben, den Dingen Respekt zu zollen.

Heckl beobachtet das mit Freude. Und trägt seinen Teil bei. Er arbeitet mit der artemis Anstiftung zusammen, die Repaircafés unterstützt. Auch im Deutschen Museum gibt es mittlerweile eines. Er hält Vorträge und hat ein Buch geschrieben, das, wie sollte es anders sein, »Die Kultur der Reparatur« heißt. Seiner wissenschaftlichen und museumspädagogischen Arbeit steht das nicht im Weg, im Gegenteil. »Wer repariert, setzt sich mit Dingen auseinander, begreift die Welt — ganz im Sinne des humboldtschen Bildungsideals eines zusammenhängenden Verstehens.«

Reparatur sei keine menschliche Erfindung, sondern ein uraltes, der Natur innewohnendes Prinzip, ohne das sich die Erde vor rund vier Milliarden Jahren niemals hätte bilden können. Heckl möchte die Leser in diesem humboldtschen Sinne anregen. In seinem Buch lädt er sie zu einem Denkspiel ein: Sie sollen sich vorstellen, sie stranden mit einem Boot auf einer Insel und sich fragen: »Wie könnte ich einen Sender aufbauen, wie einen Haken formen, wie meine Wasserversorgung sicherstellen?«

Reparatur eines Geräts.
Eine Schraube liegt auf der Hand.

Über kleine Fragen will Heckl im Großen etwas ändern. »Reparatur und Flohmarkt kaprizieren sich um die Idee des wahren Lebens herum, um die Auseinandersetzung mit den Dingen, die uns täglich umgeben — aber auch um die ernste Frage, wie wir unsere Erde retten.« Er hat konkrete Vorschläge, beispielsweise, dass Firmen nach der Langlebigkeit ihrer Produkte bewertet werden sollen oder Schaltpläne zu technischen Geräten mitgeliefert werden müssen.

Und er hat Visionen von einer Zukunft, in der Tauschen und Bewahren wichtiger sind als Konsumieren. Und wo mehr Menschen »rummuggeln«. So nennt er das, was er tut, wenn er beispielsweise seinen Sommerurlaub damit verbringt, seine beiden Häuser in Stand zu halten. Wie viel sich in einem Monat richten lässt, zeigt eine Liste in seinem Buch. Nahezu jeden Tag im August des Erscheinungsjahrs wurde im Hause Heckl etwas repariert: von der Schwimmbadpumpe über den Duschkopf und die Dachrinne bis zum Gartenstuhl.

Manchmal scheitert sogar Sammlerkönig Heckl. Der nicht austauschbare kaputte Akku in der Zahnbürste seiner Tochter ließ ihn kurz von einer großen Zahnbürsten-­Demo gegen die Produzenten träumen. Und bei seinem alten Feuerwehrjeep fehlte ihm die Kraft, die Bremszylinder zu wechseln. Solche Rückschläge müsse man in Kauf nehmen, sagt Heckl. »Wenn ich nicht durchblicke, wie das Teil funktioniert, erwächst daraus auch Hochachtung vor der Genialität des Erfinders.«

Mittlerweile hat Heckl zu Erklärzwecken eine Schausammlung von kaputten Dingen zusammengestellt. Auch den alten Plattenspieler vom Neuaubinger Flohmarkt könnte er dazustellen. Der bräuchte eine neue Nadel, die vorhandene kann er an Ort und Stelle nicht umarbeiten. Das Gerät bleibt hier, aber es lässt Heckl nicht los. »Da stecken viele Fragen drin: Wie funktioniert eigentlich Schallaufzeichnung? Wie funktioniert es, dass solche Rillen plötzlich unser Ohr zum Schwingen bringen, unsere Neuronen feuern lassen und unser Herz erfreuen?« Ein bisschen große Welt in einem kleinen Gegenstand eben.

Wolfgang M. Heckl hält sich eine große Schraubenmutter und einen großen Schraubenschlüssel vor die Augen und schaut durch die Löcher hindurch.

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