leibniz

Für das Forschungsprojekt »Familienplanung in Ostmitteleuropa vom 19. Jahrhundert bis zur Zulassung der Pille« hat die Historikerin Denisa Nešťáková vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft die Geschichte der sexuellen und reproduktiven Rechte in der Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1965 erforscht. Dabei entdeckte sie erstaunliche Parallelen zwischen historischen und heutigen Bestrebungen, die reproduktiven Rechte slowakischer Frauen einzuschränken. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Zuzana Maďarová vom Institut für Europäische Studien und Internationale Beziehungen an der Comenius Universität in Bratislava hat sie ihre Forschungsergebnisse für »leibniz« knapp zusammengefasst. Die beiden Wissenschaftlerinnen hoffen, dass wir aus der Geschichte lernen können. Sie sagen: »Das Studium der Geschichte gibt uns Hilfsmittel an die Hand, mit denen wir potenzielle Gefahren erkennen, historische Kontinuitäten sichtbar machen, auf frühere Fehler hinweisen und im besten Fall verhindern können, dass sich historische Verfehlungen wiederholen.«

Das Infragestellen von Geschlechtergerechtigkeit, das wir dieser Tage in der Slowakei beobachten können, steht in einer langen Tradition. Denn zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte des Landes und seiner Vorgängerstaaten standen die Wünsche der Frauen selbst im Mittelpunkt, wenn es um ihre reproduktiven Rechte ging. Stattdessen wurde die Frage, in welchem Ausmaß Frauen selbst über ihren Körper und ihre Sexualität bestimmen dürfen, stets von politischen Wunschbildern, repressiven Ideologien und populistischen Regimen bestimmt. 

In der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1939), die sich die religiös-konservativen Züge Österreich-Ungarns bewahrt hatte, war die Angst vor einem »Aussterben der Nation« allgegenwärtig. Frauen sahen sich deshalb mit einem heeren Anspruch konfrontiert: Sie sollten möglichst viele Kinder gebären, um den Fortbestand der tschechoslowakischen Nation sicherzustellen. Obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerung infolge des Ersten Weltkriegs und später der Weltwirtschaftskrise kaum eine Familie leisten konnte, und wenngleich auch viele Wissenschaftler Maßnahmen zur Geburtenkontrolle befürworteten, beschränkte der Staat den Zugang zu Informationen über Verhütungsmethoden. Abtreibungen blieben illegal.

Die faschistisch geprägte Slowakische Republik (1939-1945) wiederum setzte auf die Stärkung des »slowakischen Elements« und die »Produktion« einer ausreichenden Anzahl von Soldaten für Kriege. Die Vorstellung von einer weißen Vorherrschaft ging einher mit einer dogmatischen Form des Katholizismus und misogynen Bestrebungen, Frauen aus dem öffentlichen Leben zurückzudrängen. Die ohnehin problematische Frauenrechtslage wurde nun noch prekärer: Verhütungsmittel wurden verboten, Abtreibungen kriminalisiert. Frauen, die dennoch eine Abtreibung vornehmen ließen, wurden bestraft.

Verhütungsmittel wurden verboten, Abtreibungen kriminalisiert.

Porträt von Denisa Nešťáková
Denisa Nešťáková
Porträt von Zuzana Maďarová
Zuzana Maďarová

DENISA NEŠŤÁKOVÁ
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, einem Leibniz-Institut in Marburg. Außerdem ist sie externe Wissenschaftlerin an der Philosophischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava.

 

ZUZANA MAĎAROVÁ
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Studien und Internationale Beziehungen an der Comenius Universität und arbeitet mit der feministischen Organisation ASPEKT zusammen.

 

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Zu grundlegenden Reformen des Abtreibungsgesetzes kam es erst unter dem staatssozialistischen Regime der Tschechoslowakei (1948-1989). Zum einen versuchte man, die vornehmlich konservative, überwiegend katholische Gesellschaft neu zu definieren und zu strukturieren, zum anderen erkannte man in Frauen wichtige Arbeitskräfte, deren Gesundheit es zu schützen galt. Um illegale Abtreibungen zu verhindern, wurden deshalb unterschiedliche Methoden der Empfängnisverhütung beworben, faktisch fanden Abtreibungen aber weiterhin statt.

Nachdem Abtreibungen in der Sowjetunion schließlich unter bestimmten Bedingungen legalisiert worden waren, zog die Tschechoslowakei 1957 mit gesetzlichen Neuerungen nach. Man sah letztlich ein, dass illegale Abtreibungen eine Gefahr für die Gesundheit der Frauen darstellten: Viele von ihnen kamen ins Gefängnis, andere starben an den Folgen laienhafter medizinischer Eingriffe oder wurden unfruchtbar. Für eine legale Abtreibung mussten Frauen nun gesundheitliche, rechtliche oder sozioökonomische Gründe vorbringen, den Eingriff selbst musste medizinisches Fachpersonal vornehmen. Das neue Gesetz schuf zugleich sogenannte Abtreibungskomitees: Sie zielten darauf ab, die Frauen von ihrer Entscheidung abzubringen (was ihnen in der Regel nicht gelang) – und demütigten die Frauen zutiefst.

Heute werden Schwangerschaftsabbrüche in der Slowakei durch das Gesetz Nr. 73/1986 des Nationalrats der Slowakischen Republik geregelt. Es wurde in der ehemaligen Tschechoslowakischen Republik verabschiedet und 1993 in das slowakische Rechtssystem aufgenommen. Frauen können danach bis in die zwölfte Woche abtreiben. In einem schriftlichen Antrag müssen sie sich zwar nicht rechtfertigen, werden aber über mögliche Folgen, Alternativen und Verhütungsmöglichkeiten aufgeklärt.Der Schwangerschaftsabbruch – nur ein chirurgischer Eingriff ist erlaubt – darf frühestens 48 Stunden nach der Beratung erfolgen. Ein Abbruch im zweiten Trimester ist nur dann legal, wenn medizinische Gründe vorliegen.

Doch schon seit der Samtenen Revolution, den landesweiten Erhebungen gegen die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, die 1989 zu einem weitgehend friedlichen Sturz des Regimes führten, gibt es in der Slowakei politische Bestrebungen, den geregelten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einzuschränken. Bis heute bedienen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner dezidiert antikommunistische Diskurse und deuten das Recht von Frauen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, nicht als Ausdruck von Demokratie und grundlegendes Menschenrecht, sondern als Überbleibsel einer staatssozialistischen und damit antireligiösen Vergangenheit. 

Eine Demonstrantin macht Lärm mit einem Topf und einem Kochlöffel. Auf dem Platz vor einem großen Gebäude sind weitere Personen, darunter ein Fotograf. Im Vordergrund ein Holzkochlöffel mit dem Motto »Nebudeme Ticho!« – »Wir werden nicht schweigen!«
In der slowakischen Hauptstadt Bratislava protestieren Menschen unter dem Motto »Nebudeme Ticho!« – »Wir werden nicht schweigen!« . Foto DOROTA HOLUBOVÁ

Seit 2018 hat das slowakische Parlament insgesamt elf Vorschläge diskutiert, die den Zugang zu Abtreibungen einschränken oder ganz verbieten sollten – und das, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung diese Vorstöße nicht unterstützt. Der letzte Gesetzesentwurf wurde im Oktober 2020 diskutiert und nur knapp abgelehnt. Das Gesetz sollte den öffentlichen Zugang zu abtreibungsrelevanten Informationen einschränken, die obligatorische Wartezeit von 48 auf 96 Stunden verlängern und eine neue Genehmigungspflicht für die Durchführung von Abtreibungen aus gesundheitlichen Gründen einführen. 

Derzeit kann man das Zusammenwirken neuer und alter Akteure, Strategien, Kontexte und politischer Ziele beobachten: Nach der Wahl im Februar 2020 haben sich religiöse Fundamentalist/innen, Populist/innen und rechtsextreme Parteien zusammengeschlossen, um aus dem Parlament heraus Frauen und deren Rechte zu unterdrücken. Unterstützt werden diese Bemühungen durch die (vornehmlich katholische) Kirche und auf Regierungsebene. So soll der »Gender«-Begriff in staatlichen Behörden nicht mehr verwendet werden, zudem hat die Regierung finanzielle Mittel für die Gleichstellung der Geschlechter gestrichen und den Fokus auf »familienpolitische Themen« umgelenkt.

Doch parallel dazu hat sich eine beispiellose Protestbewegung gegen die Einschränkung reproduktiver Rechte formiert. Seit fast drei Jahren gehen im ganzen Land Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Bürger/innen-Initiativen und Einzelpersonen auf die Straße; nicht nur in der Hauptstadt, auch in kleineren Städten demonstrieren sie. Und obwohl das eine gute Nachricht ist, stellen sich mit Blick auf die Nachhaltigkeit dieser Aktivitäten einige Fragen. 

Denn die Feministinnen in der Slowakei stehen vor großen Herausforderungen: Die finanzielle Förderung feministischer NGOs wurde in den vergangenen 20 Jahren immer weiter zurückgefahren, sodass viele Aktivistinnen inzwischen in staatlichen Behörden arbeiten müssen, wodurch die Grenzen zwischen Staat und Zivilgesellschaft durchlässiger geworden sind. Der Staat hat es so geschafft, weitestgehend Deutungshoheit über Fragen der Geschlechtergerechtigkeit zu erlangen, was zu einer »Aushöhlung« des Gleichstellungsbegriffs geführt hat. Darüber hinaus sind NGOs, die Frauenarbeit und feministische Arbeit leisten, verletzlicher geworden. Sie haben sich in jahrelangen Kämpfen um Ressourcen überarbeitet und erschöpft.

Das slowakische Parlament hat besagten Gesetzesvorschlag aus dem vergangenen Jahr, der den Zugang zu legalen Abtreibungen einschränken sollte, letztlich nicht angenommen – den Ausschlag gab jedoch nur eine einzige Stimme. Nur wenige Stunden später kündigten die Initiator/innen an, ihre Bemühungen fortsetzen zu wollen. Die Frauen in der Slowakei können sich also nicht zurücklehnen. Sie haben lediglich ein paar Monate gewonnen, um sich auf weitere Kämpfe vorzubereiten.

*Den Text haben die Autorinnen im Oktober 2020 verfasst.

Ein neuer Gesetzesentwurf zur Einschränkung von Abtreibung wurde nur knapp abgelehnt.

Die Demonstrierenden auf der Straße, das schwarze Banner mit der Aufschrift »Nebudeme Ticho!« – »Wir werden nicht schweigen!« wird ganz vorne getragen.
Foto POVSTANIE POKRAČUJE

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