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NICOLE DEITELHOFF
leitet das Leibniz-Institut Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung und ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnung an der Frankfurter Goethe-Universität.

 

ASTRID IRRGANG
ist stellvertretende Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze und leitet dort den Bereich Operations, über den jährlich rund 150 zivile Experten in multilaterale Friedensmissionen entsendet werden.

LEIBNIZ Tausende Menschen sterben auf dem Weg nach Europa. Und wir, die wohlhabende, gut organisierte EU, verhindern es nicht. Obendrein zerstreiten wir uns, wo die Geflüchteten leben sollen. Wie kann das sein?

ASTRID IRRGANG Wir sind uns als Staatengemeinschaft nicht einig: Wie wollen wir mit der Flüchtlingsfrage umgehen? Was sind unsere Ansprüche, was unsere Grenzen? Auf europäischer Ebene einen Konsens zu schaffen, wenn man ihn im eigenen Land noch nicht hat, das ist schwierig. Noch dazu müssen wir Lösungen finden, während die Herausforderung jeden Tag existiert. Das erhöht den Handlungsdruck, aber nicht unbedingt die Geschwindigkeit der Verhandlungen.

NICOLE DEITELHOFF Wir sprechen momentan viel über die humanitäre Krise. Aber die Flüchtlingsbewegung ist mehr als das. Sie ist eben auch eine Krise der Europäischen Union. Die Zukunft der EU steht auf dem Spiel, weil sie es nicht schafft, mit ihren Institutionen zu Lösungen zu kommen.

Wer ist daran schuld?

DEITELHOFF Mir geht es überhaupt nicht um Schuld. Natürlich kann man sagen, Deutschland hat das Dublin-System genau so gewollt, wie es ist und hat sich jahrelang gefreut, weil keine Flüchtlinge bei uns ankamen. Weil sie nur an den Rändern des Kontinents auftauchten. Wir wissen seit Jahren, dass Italien und Griechenland überfordert sind und haben nicht reagiert. Die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer hat Deutschland nicht besonders interessiert. Jetzt, wo die Flüchtlinge dank der Durchwink-Politik in Deutschland ankommen, soll plötzlich etwas passieren.

Aber warum werfen uns die europäischen Partner dieses Durchwinken nun vor?

DEITELHOFF Weil Angela Merkel angeblich eine Einladung an alle Flüchtlinge dieser Welt ausgesprochen hat. Das ist natürlich eine krude Stilisierung. Die Nichtrückführung der Flüchtlinge aufgrund einer Krise im Aufnahmeland wird zur Einladung an alle Flüchtlinge — ein wunderbares Beispiel für »Stille Post«, nichts anderes.

IRRGANG Einige EU-Staaten werfen uns vor, dass wir einseitig die Solidarität aufgekündigt, mindestens strapaziert haben. Auch Schweden war übrigens mit unserer Haltung nicht glücklich. Ein Land, das eigentlich dafür bekannt ist, eine humane, an Frieden orientierte Politik zu machen. Wir brauchen unsere europäischen Nachbarn, damit wir Schutz bieten können für jene, die ihn wirklich brauchen.

Hat sich die Kanzlerin falsch verhalten?

IRRGANG Nein, dass sie in dem Moment die Grenzen geöffnet hat, war in meinen Augen richtig. Nach allem, was nach außen gedrungen ist, kam dies aus einer Intuition heraus, aus einem humanitären Impetus. Es war ihr »Schabowski-Moment«: Die Folgen waren für niemanden absehbar. Aber da haben wir als Land einen Alleingang gemacht. Und jetzt brauchen wir die Solidarität von 27 anderen Staaten, damit dieser Alleingang nicht zu einer Verschärfung der Krise führt.

Es muss schmerzhaft sein, Kooperation zu verweigern.

NICOLE DEITELHOFF

Wer stellt sich quer?

DEITELHOFF Es gibt eine Gruppe osteuropäischer Staaten, die unwillig ist, wenn es um die Frage der Verteilung der Flüchtlinge geht. Grundsätzlich haben wir kein Problem mit den Flüchtlingszahlen. Aber wenn eine Gruppe von Staaten sich verweigert, führt das dazu, dass auch andere nicht mehr bereit sind, zu kooperieren. Selbst wenn sie es prinzipiell durchaus wären.

Können wir eine Einigung denn erzwingen?

DEITELHOFF Eine Möglichkeit wäre: Die, die zur Kooperation bereit sind, verteilen die Flüchtlinge untereinander und bezahlen das aus dem EU-Haushalt. Das ist die sanfte Methode, alle müssten zahlen, aber nur ein Teil hätte die Integration zu bewältigen. Eine härtere Methode, die ich befürworte, wäre, die Sanktionen höher zu treiben.

Wie sähen härtere Sanktionen aus?

DEITELHOFF Anfang Mai gab es eine Initiative der Kommission, die sagte: 125.000 Euro pro Flüchtling pro Jahr und dann könnt ihr euch freikaufen. Das sind Vorschläge, die ich sehr interessant finde. Schon in der Finanzkrise hat sich gezeigt, dass eine bestimmte Gruppe von Staaten in der EU gelernt hat, dass sie selbst dann Vergünstigungen bekommen, wenn sie nicht kooperieren. Das muss man verhindern.

Aber wie, mit Zwang?

DEITELHOFF Es kann nicht darauf hinaus laufen, Flüchtlingskontingente zwangsweise etwa nach Bulgarien oder Ungarn zu verschiffen. Stattdessen brauchen wir starke Anreize für diese Länder, damit sie sich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Aufnahme von Flüchtlingen etwas ist, das man dauerhaft bewältigen kann.

An diesen Gedanken müssen sich auch in Deutschland viele Menschen erst noch gewöhnen.

DEITELHOFF In ganz Europa sehen wir das: Rechtspopulistische Bewegungen, auch Parteien, werden erfolgreicher. Gleichzeitig kann man eben nicht sagen, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehne Flüchtlinge ab. Das passt nicht zu der unglaublichen Zahl an Deutschen, die sich sehr engagieren. Es gibt eine starke Polarisierung und wir müssen als Land, als Gesellschaft darüber streiten.

IRRGANG Und wir sollten auch politisch wieder thematisieren: Wer ist Flüchtling, wer ist Migrant? Im Moment wagen wenige zu unterscheiden. Auch in den Medien nicht.

DEITELHOFF Das nehme ich nicht so wahr. In den Qualitätsmedien wird schon unterschieden. Auch in der Politik wird die Unterscheidung gemacht, allerdings meist, um dann zu behaupten, es gäbe sie nicht: Entweder sind alle Migranten oder es sind alle Flüchtlinge.

IRRGANG Wir brauchen ein System, das die Schutzbedürftigkeit schnell erkennt.

DEITELHOFF Das wird uns nie gelingen. Das hieße, unser Rechtssystem aufzugeben. Denn Recht braucht Zeit, damit es gerecht sein kann. Wir müssen jeden Einzelfall prüfen und uns Zeit dafür nehmen. Trotz der negativen Aspekte, die lange Verfahren mit sich bringen. Die Schnellverfahren haben bis jetzt nur eines gezeigt: Sie sind unfair und vermindern den Schutz.

Wir brauchen unsere europäischen Nachbarn, damit wir Schutz bieten können.

ASTRID IRRGANG

Astrid Irrgang

Was ist mit den Fluchtursachen in den Heimatländern, kann die EU dort etwas bewirken?

IRRGANG Das ist das neue Zauberwort: Fluchtursachen bekämpfen. Aber ich bin da skeptisch. Das wird uns jetzt nicht helfen, wo die Fluchtbewegungen schon laufen. Selbst wenn wir die Wirtschaftsmigration mal außen vor lassen: Die Ursachen, warum Menschen aufbrechen, um Leib und Leben zu retten — diese Ursachen sind enorm schwierig zu verändern. Trotz großer Investitionen, trotz vieler völkerrechtlicher Anstrengungen.

Das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), für das Sie arbeiten, versucht aber doch genau das.

IRRGANG Die Aufgabe des ZIF ist es, den deutschen zivilen Beitrag in multilateralen Friedensmissionen der EU, OSZE, NATO und der UN zu sichern. Das gelingt aber nur an Orten, für die ein Konsens hergestellt werden kann, dass es eine Friedensmission geben soll. Das Land, aus dem zurzeit besonders viele Flüchtlinge herausdrängen, ist Syrien. Und für Syrien sehe ich bedauerlicherweise nicht voraus, dass wir in naher Zukunft eine Friedensmission etablieren können. Das ist innerhalb des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bislang nicht mehrheitsfähig und die kriegerische Situation vor Ort gestattet es nicht.

DEITELHOFF Trotzdem müssen wir über Fluchtursachen sprechen! Wir müssen besprechen, ob unsere Friedens- und Stabilisierungspolitik erfolgreich war. Da sehen wir viele Rückschläge. Die europäische Sicherheitsstrategie von 2003 hatte das Ziel, einen Kranz verantwortungsvoll regierter Staaten an der Grenze der EU entstehen zu lassen. Ich glaube, von diesem Ziel sind wir weit entfernt. Das gilt für die Europäische Union und auch für den deutschen Politikansatz.

IRRGANG Mich wundert nicht, dass viele Menschen Fragen stellen: Wie viel Geld hat die Staatengemeinschaft zum Beispiel in Afghanistan aufgewandt, wie viele Menschen haben dort ihr Leben gelassen, auch deutsche Soldaten? Mit welchem Ergebnis, wo ist eine bleibende Wirkung erkennbar? Ich behaupte, diese Fragen stellt man sich bis in die Regierungsspitze. Unser Werkzeugkasten reicht manchmal nicht über das rein Administrative hinaus.

Fällt es Ihnen da nicht schwer, an Ihre Arbeit für das ZIF zu glauben?

IRRGANG Nein, denn es gibt auch Erfolge. Nehmen Sie die Friedensmission in der Ukraine. Da beobachtet und wahrt die OSZE einen sehr zerbrechlichen Waffenstillstand, eineinhalb Flugstunden von uns entfernt. Eine Organisation, die viele für tot erklärt hatten, ist jetzt die einzige, auf die sich die Konfliktparteien verständigen konnten. Das ist ermutigend.

Die beiden auf dem Dach mit Blick über Berlin.
Die Gesprächsteilnehmerinnen auf dem Dach des Hauses der Leibniz-Gemeinschaft

Frau Deitelhoff, welche Lösungen legt die Forschung nahe?

DEITELHOFF Klassische Versuchsanordnungen funktionieren in der Konfliktforschung ausgesprochen schlecht, insbesondere wenn wir über Hilfsmissionen sprechen. Die Situationen sind einfach zu komplex. Noch dazu forschen wir in Deutschland häufig qualitativ, betrachten einzelne Konflikte, spielen das berühmte lessons learned. Aber um systematisch zu lernen, brauchen wir auf Dauer mehr, da muss auch die Forschungsförderung besser werden.

Ist das der Grund, warum die Politik selten auf die Wissenschaft hört?

DEITELHOFF Nein, das glaube ich nicht. Es hat eher damit zu tun, dass beide Seiten sich nicht besonders gut zuhören. Die Wissenschaft muss zuhören, um zu erkennen, was die Politik von uns braucht, wie wir besser helfen können. Die Politik muss zuhören, was Wissenschaft wirklich kann und wie groß oder eben klein die eigenen Handlungsmöglichkeiten teils sind — auch wenn sie das vielleicht nicht so gern hört.

Wir haben jetzt in der Krise die Türkei als Partner entdeckt, die für Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht. Halten Sie den Deal für richtig?

DEITELHOFF Der hilft uns. So kritisch ich ihn einschätzen würde, allein schon, weil damit die internationalen Regularien sehr »originell« gehandhabt werden. Er hat weder eine nachhaltige Lösung anzubieten, noch eine, die auch nur mittelfristig praktikabel wäre. Aber die Zahl der Flüchtlinge insgesamt ist erst mal zurückgegangen. Der Deal verschafft uns eine Atempause, in der wir wieder eine Versachlichung einleiten können, zumindest zwischen den EU-Mitgliedsländern.

Dafür steigt nun die Zahl der Flüchtlinge wieder, die den Weg von Libyen nach Italien nehmen. Wie verhindern wir das Sterben auf dem Mittelmeer?

DEITELHOFF Wir müssen die Möglichkeit schaffen, dass Flüchtlinge mit dem Flugzeug oder dem Schiff einreisen und dann in der EU ihren Asylantrag stellen können. Dafür braucht es einen supranationalen europäischen Grenzschutz, der nicht nur Risiko- und Gefahrenabwehr macht, sondern den geordneten Grenzübertritt organisiert. Davon sind wir weit entfernt. Und wir brauchen eben ein sanktionsfestes Verteilungssystem innerhalb der EU. Kooperation muss wieder belohnt werden, ihr Ausbleiben schmerzhaft sein.

Wie ist Ihre Prognose für die EU?

DEITELHOFF Es kommt darauf an: Wenn die Mitgliedsstaaten das Gefühl bekommen, dass das Scheitern in der Flüchtlingsfrage die Zukunft der EU selbst riskiert, dann können wir es schaffen. Wir sind in einer Phase der Stagnation, wenn nicht sogar der Desintegration. Das müssen wir mit aller Kraft aufhalten. Ich bin überzeugte Europäerin! Die EU ist mit das überzeugendste politische Projekt, das ich kenne.

IRRGANG Deshalb sollten wir uns davor hüten, dass die Politik — egal ob in Europa oder Deutschland — versäumt, die Diskussion mit der eigenen Bevölkerung zu führen. Was ich positiv finde an der aktuellen Lage: Lange Zeit konnten wir Außenpolitik in Deutschland ziemlich ausblenden, weil wir als zwei getrennte Staaten und dann als junger wiedervereinigter Staat vor allem mit uns selbst beschäftigt waren. Diese Zeiten sind vorbei. Außenpolitik ist nichts mehr, das um 20 Uhr in der Tagesschau aufblitzt und dann kann ich wieder wegschalten.

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