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Soll Deutschland die Vier-Tage-Woche einführen? Diese Frage sorgt vor allem bei Arbeitgebern für Irritation: Sie plädieren für mehr »Bock auf Arbeit« und eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit. Auf der anderen Seite weisen Politikerinnen und manche Vertreter der Gewerkschaften auf die Vorteile einer kürzeren Arbeitszeit hin – auch für Unternehmen. Diese Diskussion ist wichtig und wegweisend in Zeiten des Umbruchs, des Fachkräftemangels und des technologischen Wandels.

Was also sind die Vorteile und Nachteile einer Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden Wochenarbeitszeit? Eine wissenschaftliche Studie hat im vergangenen Jahr die Vier-Tage-Woche in 33 Unternehmen aus verschiedenen Ländern untersucht – und zwar bei vollem Lohnausgleich. Die Auswertung zeichnet ein sehr positives Bild: Die Produktivität der Beschäftigten pro geleisteter Arbeitsstunde stieg, auch wenn die geleistete Arbeit in vier Tagen geringer war als in fünf Tagen. Die persönliche Zufriedenheit vieler Beschäftigter nahm zu. Ihre Gesundheit verbesserte sich, die Krankheitstage sanken. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbesserte sich, ebenso die Balance zwischen Männern und Frauen, mit wie viel Zeit sie sich für Kinder und Haushalt engagieren.

Auch für die Unternehmen gab es zahlreiche Vorteile durch die Vier-Tage-Woche, selbst bei vollem Lohnausgleich. Sie konnten finanziell die kürzere Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich stemmen, da nicht nur die Produktivität pro Arbeitsstunde zunahm, sondern auch die Abwesenheit durch Krankheit sank und weniger Beschäftigte kündigten. Beides half, die Kosten signifikant zu senken. Und auch Staat und Gesellschaft profitierten, da die Belastung der Sozialsysteme abnahm, Menschen sich stärker ehrenamtlich engagierten und CO2-Emissionen durch die reduzierte Mobilität gesenkt wurden.

Diese Resultate werden durch viele andere Studien bestätigt, etwa aus Island, Skandinavien, aber auch Japan und Korea. Trotzdem ist Vorsicht geboten: Solche Studien laufen immer über einen kurzen Zeitraum. Die Unternehmen kommen meist aus dem Dienstleistungsbereich, wo Arbeitszeitänderungen leichter möglich sind, und sind somit nicht repräsentativ. Eine Übertragung der Resultate auf alle Branchen, Unternehmen und Länder wäre nicht seriös.

Der Ökonom Marcel Fratzscher
Der Ökonom Marcel Fratzscher. Foto DIW BERLIN

MARCEL FRATZSCHER
ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Sein Fokus an dem Berliner Leibniz-Institut liegt unter anderem auf Themen rund um Arbeit, Beschäftigung und Ungleichheit. Der Text erschien zunächst in Fratzscher Kolumne »Verteilungsfragen« auf Zeit Online.

In der Tat gibt es auch zahlreiche starke Argumente gegen eine verpflichtende Vier-Tage-Woche. Zum einen wird es Branchen wie etwa Chemie und Maschinenbau geben, bei denen Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn sie die Arbeitszeit im Vergleich zu ihren Wettbewerbern reduzieren. Auch gibt es bereits heute in den meisten Unternehmen die Möglichkeit, die Wochenarbeitszeit zu reduzieren – allerdings nur, wenn sich auch das Einkommen entsprechend verringert. Und wieso sollte man alle Beschäftigten zwingen, weniger Stunden zu arbeiten, wenn viele diese Option bereits haben – ihnen das höhere Einkommen offensichtlich wichtiger ist?

Zudem könnte eine Vier-Tage-Woche dazu führen, dass noch mehr Beschäftigte Nebentätigkeiten annehmen – eben an dem zusätzlichen freien Tag. Das wiederum könnte prekären Nebenbeschäftigungen Schub verleihen, wenn Unternehmen entstehende Lücken durch temporäre Arbeitsverhältnisse füllen müssen. In der Arbeitsmarktforschung wird dieses Phänomen als »Insider-Outsider«-Problem bezeichnet: Indem die Rechte und Möglichkeiten von Festangestellten (den »Insidern« ) verbessert werden, verschlechtert sich die Lage der prekär Beschäftigten ohen festen Arbeitsvertrag (den »Outsidern«), die diese erhöhte Flexibilität ausgleichen sollen. Zudem gibt es bereits heute ein großes Fachkräfteproblem in Deutschland, das sich durch eine Vier-Tage-Woche nochmals verschärfen würde.

Kritiker führen noch ein weiteres Gegenargument an: Beschäftigte in Deutschland arbeiten deutlich weniger als in anderen Ländern, nämlich im Durchschnitt nur 1.350 Stunden im Jahr. Zum Vergleich: In den USA sind es 1.800 Stunden und in anderen Industrieländern 1.750 Stunden. Angestellte in Deutschland haben also mit dieser 20 Prozent geringeren Arbeitszeit effektiv bereits eine Vier-Tage-Woche, argumentieren manche Kritikerinnen. Allerdings muss man betonen, dass die vergleichsweise geringe Jahresarbeitszeit in Deutschland nicht durch eine geringere Wochenarbeitszeit in Vollzeit erklärt wird, sondern weil in Deutschland ungewöhnlich viele Menschen in Teilzeit arbeiten, vor allem Frauen. Außerdem hat Deutschland vergleichsweise viele Urlaubs- und Feiertage.

Materieller Wohlstand ist vielen Menschen wichtig, gerade auch im Vergleich zu anderen Menschen.

MARCEL FRATZSCHER

Was aber denken die Beschäftigten selbst? Nach Umfragen wollen viele Menschen mit Vollzeitjobs selbst ohne vollen Lohnausgleich gerne weniger Stunden arbeiten – in Deutschland im Schnitt 37 Stunden die Woche. Dagegen würden viele Beschäftigte in Teilzeit, vor allem Frauen, gerne mehr Stunden arbeiten, wenn dies mit einer besseren Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, mit mehr Wertschätzung und einer besseren Bezahlung ihrer Arbeit einherginge. Es gibt also nicht das eine perfekte Modell für alle, sondern eine große Vielfalt von Wünschen der Beschäftigten und Unternehmen.

Einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, der Brite John Maynard Keynes, schrieb im Jahr 1930, dass durch den technologischen Fortschritt die Menschen im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche oder 3 Stunden am Tag arbeiten würden. Er lag offensichtlich falsch: Obwohl der technologische Fortschritt und der materielle Wohlstand viel schneller wuchsen, als Keynes sich das vor 100 Jahren hätte vorstellen können, liegt die Wochenarbeitszeit bei Vollzeit in den westlichen Demokratien deutlich höher als von Keynes prognostiziert.

Wenig überraschend ist, dass bei gleichem Gehalt eine sehr große Mehrheit lieber vier als fünf Tage arbeiten will. Aber die relevante Frage ist eine andere: Auf wieviel Gehalt sind Beschäftigte bei einer Vier-Tage-Woche gewillt zu verzichten? Umfragen zeigen, dass viele Beschäftigte lieber das höhere Einkommen wählen - und damit die Fünf-Tage-Woche. Und genau hier liegt vermutlich die Erklärung, wieso Keynes vor 100 Jahren falsch lag: Materieller Wohlstand ist vielen Menschen wichtig, gerade auch im Vergleich zu anderen Menschen im eigenen Umfeld.

Welches Fazit also sollte man ziehen? Sicherlich gibt es viele gute Argumente für, aber auch gegen eine Vier-Tage-Woche. Für eine Verpflichtung aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Vier-Tage-Woche spricht, dass es den Wettbewerb bei Arbeitsstunden sowohl zwischen Firmen als auch zwischen Beschäftigten reduzieren würde. Dagegen könnte sich eine Pflicht zur Vier-Tage-Woche im zunehmend globalen Wettbewerb als schwierig erweisen. Und sie könnte von vielen Menschen als unzulässiger Zwang und Einschränkung ihrer Freiheit empfunden werden, wenn nicht ein sehr starker gesellschaftlicher Konsens hierfür besteht.

Auch wenn es keine einfache Lösung gibt, sind die Probleme so drängend, dass sich Politik und Wirtschaft für mehr Flexibilität und für neue Modelle des Arbeitslebens öffnen sollten. Deutschland sollte die Vier-Tage-Woche ausprobieren. Die Politik könnte Pilotprojekte durchführen und Anreize für Unternehmen setzen, diese zu erproben, indem sie etwa die Beiträge zur Sozialversicherung reduziert oder bei der Steuer entlastet. Selbst wenn vielen die Resultate dann nicht gefallen sollten, ist es wichtig zu verstehen, wie Wirtschaft und Gesellschaft reformiert werden können, um Vorteile für alle zu heben: für die Beschäftigten, den sozialen Zusammenhalt, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den Sozialstaat.

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