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Den Funken, mit dem die ganze Geschichte beginnt, entzündet Frank Moseler erst zum Schluss, als die Dämmerung weit fortgeschritten ist. Das mit der ganzen Geschichte ist in diesem Fall mehr als eine flapsige Formulierung: Ohne Funken kein Feuer, ohne Feuer kein Kochen, kein Metall, kein Glas, kein Überleben im Winter, keine Zivilisation – keine Geschichte.

Moseler, der Archäologe, schlägt also Feuerstein an Pyrit, bis sich ein glühendes Pünktchen im darunter platzierten Zunderschwamm verfängt. Dem haucht er Leben ein, mit Atemluft, bis es brennt. Frank Moseler hat Feuer gemacht, und zwar ausschließlich mit Mitteln, die im Wald herumliegen.

Denn darum geht es an diesem Nachmittag in Monrepos, dem Archäologischen Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution, in Neuwied bei Koblenz, das Frank Moseler leitet: eine Idee davon zu bekommen, wie die Menschen in der Alt- und Mittelsteinzeit gelebt haben. Die Altsteinzeit ist der längste Abschnitt menschlichen Daseins. Sie begann vor knapp drei Millionen Jahren und endete vor etwa 12.000 Jahren. In dieser auch als Paläolithikum bezeichneten Epoche verarbeiteten die Menschen zwar, was sie fanden – neben Steinen auch Knochen, Tierhäute und Holz. Aber sie erschufen keine neuen Materialien, verhütteten kein Metall, webten keine Fasern zu Garn. Trotzdem hatten sie alles, was sie zum Überleben brauchten, sagt Moseler. In der anschließenden Mittelsteinzeit entwickelten die Menschen zahlreiche Werkzeuge und Techniken, etwa die Jagd mit Pfeil und Bogen, mit der sie in den dichter werdenden Wäldern mehr Beute machten. Dieser Abschnitt endete in Mitteleuropa vor rund 7.000 Jahren, als die Menschen begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben.

Knochen und Zähne liegen auf Steinen - im Museum - Leibniz Magazin
menschlicher Schädel vor einem schwarzen Hintergrund. Leibniz Magazin

Das Museum des Forschungszentrums zeigt das Leben der damaligen Menschen – und zwar, so der Anspruch, weder auf langweilige noch auf abstrakte Weise. Wir wollen die Alt- und Mittelsteinzeit erfahrbar machen, sagt Moseler. Jeder soll im Verhalten der frühen Menschen einen Teil von sich selbst entdecken können. Denn letztlich strebten die an Hochtechnologie gewohnten Menschen des 21. Jahrhunderts nach denselben Dingen wie ihre frühen Vorfahren: Essen, Trinken, Sicherheit, Schutz vor dem Wetter. Aber auch nach menschlicher Nähe, Unterhaltung und Identität.

Damit die Besuchenden sich nicht zwischen Vitrinen langweilen, haben Moseler und sein Team Ausstellungen und Führungen entwickelt, bei denen angefasst, geklettert, gedrückt, gedreht, gesammelt und probiert werden darf. Zwecks kritischer Überprüfung dieses Ansatzes hat die »leibniz«-Redaktion einen Vertreter einer überdurchschnittlich anfass-, kletter-, drück-, dreh-, sammel- und probierfreudigen Bevölkerungsgruppe eingeschleust, nämlich Rasmus, den achtjährigen Sohn des Autors. Das dreiteilige Programm: eine Führung durch die Dauerausstellung im verwinkelten Schlösschen Monrepos hoch über Neuwied, gefolgt von einem Ausflug in den Wald mit dem Ziel, Essbares zu finden. Und schließlich natürlich dessen Zubereitung.

Besuch im Museum - Die Besucher schauen sich um, während der Direktor erklärt. Leibniz Magazin

Schon der erste Raum der Ausstellung hält den achtjährigen Chefkritiker bei Laune: Da grinst, unter dem zugehörigen Schädel aufgebaut und versteckt von einer Klappe, die Rekonstruktion eines Gesichts: Paranthropus, einer der frühesten Vertreter der Hominini, jener Wesen, die bereits menschenartig waren, aber bis auf Homo Sapiens längst ausgestorben sind. Der Trick, dass statt eines hohlen Schädels jemand aus wachen Augen, mit zerknautschter Haut und einem schiefen Lächeln Rasmus‘ Blick erwidert, funktioniert: Paranthropus grinst, Homo Sapiens grinst zurück.

Es folgen Wurfhölzer und Schädelnachbildungen zum Anfassen sowie mitten in einem Raum ein farbenfroher Schaukasten, dessen robuste Schubladen sich als Kletterstufen technologischen Fortschritts anbieten. Auf der einen Seite zeigen sie Werkzeuge der Steinzeit – Feuersteinklingen, Pfeilspitzen –, auf der anderen deren heutige Gegenstücke: Taschenmesser, Gewehrpatronen. Der Chefkritiker klettert, untersucht Schubladeninhalte, befindet für gut.

Im Vergleich zu Raubtieren sind Menschen schlecht ausgerüstet, wir haben weder Krallen noch scharfe Zähne, erklärt Moseler. Erst die steinernen Klingen machten uns konkurrenzfähig. Mit ihnen konnten wir schneiden, schnitzen oder schaben. Dass sie gelernt haben, so wirksame Werkzeuge herzustellen, war ein enormer Schritt für die frühen Menschen.

Die Gruppe an Menschen macht sich auf den Weg in den Wald zum Sammeln von essbarem. Leibniz Magazin
Der kleine Junge findet eine Stelle im Wald mit Pfifferlingen. Leibniz Magazin
Nahaufnahme der Pfifferlinge auf dem Waldboden Leibniz Magazin

Die Hauptsache aber liegt draußen. Es zeigt sich, dass Monrepos der perfekte Schauplatz ist, um sich in die Steinzeit einzufühlen. Das Forschungszentrum, eine Außenstelle des LEIZA - Leibniz-Zentrum für Archäologie, liegt am Ende eines einsamen Bergsträßchens, umgeben von dichtem Mischwald: Buchen, Eichen, Fichten, Lärchen. Unter einem mächtigen Ahorn wartet Lutz Neitzert, Kultursoziologe und eine Art Medizinmann von Monrepos. Er weiß, was heute kaum noch jemand weiß, vor zehntausenden Jahren aber jeder Mensch wissen musste, weil es weder Supermärkte noch Hofläden noch Landwirtschaft überhaupt gab: welche wild wachsenden Pflanzen essbar sind – oder sogar köstlich. Neitzert trägt hell-erdfarbenes Käppi zum dunkel-erdfarbenen Shirt und startet sogleich den zweiten Teil des Programms: Nahrung sammeln im Wald. Kaum hat sich das Blätterdach über uns geschlossen, legt Neitzert los: Da, flacher Wuchs, gezackt-herzförmige Blätter. Pflücken! Zerreiben! Riechen! Probieren!

Rasmus pflückt, zerreibt, riecht und probiert: Schmeckt nach Knoblauch! Das sei kein Wunder, entgegnet Neitzert. Das ist die Knoblauchsrauke, die wächst beinahe überall. Alle paar Schritte hält er an, weist auf scheinbar belanglosen Wildwuchs. Rechts der Giersch, Gärtnern bekannt und oft verhasst, Neitzert zufolge aber nie und nimmer ein Unkraut (lieber jeden Tag Salat oder Pesto daraus machen). Links, in Form einer Babybrennnessel, der Waldziest (zerschneiden, zwei bis drei Wochen mit etwas Salz einlegen, bis die Flüssigkeit gelblich wird, ergibt einen köstlichen Pilzgeschmack). Tiefer drin, im Unterholz, stehen wahrhaftige Pilze, nämlich Pfifferlinge. Gesammelt werden weiterhin Gundermann, Beifuß, Sauerklee und der japanische Knöterich (kann alles, was Rhabarber kann).

Nahaufnahme Franzosenkraut
Auf ihrer Wanderung sammelt die Gruppe unter anderem das Franzosenkraut. Ursprünglich stammt die auch als Kleinblütiges Knopfkraut bekannte Heilpflanze aus Lateinamerika.
Ein Blatt der Brennessel das von zwei Fingern gehalten wird. Leibniz Magazin
Ein Blatt der Brennessel.
Beinwell Nahaufnahme Leibniz Magazin
Der Beinwell ist eine Heilpflanze. Früher wurde er vor allem zur Behandlung von Knochenbrüchen und Wunden genutzt.
Eine Esskastanie wird mit einem Stein geöffnet.
Die mit spitzen Stacheln besetzte Esskastanie öffnet man am besten mithilfe eines Steins.
Blatt der Knoblauchsrauke. Leibniz Magazin
Das Blatt der Knoblauchsrauke.
Ein Mix aus Gundermann, Sauerklee und Japanischem Knöterich. Ein Mix aus Gundermann, Sauerklee und Japanischem Knöterich. Leibniz Magazin
Ein Mix aus Gundermann, Sauerklee und Japanischem Knöterich.
Bei diesen orangefarbenen Pilzen handelt es sich um Aprikostenpfifferlinge. Leibniz Magazin
Bei diesen orangefarbenen Pilzen handelt es sich um Aprikostenpfifferlinge.
Beinwell und Brennessel auf einem Papier - Leibniz Magazin
Beinwell und Brennessel – bereit zum Frittieren.
Haselnüsse werden mit einem Stein geknackt. Leibniz Magazin
Auch Haselnüsse hat die Expedition aus dem Wald mitgebracht.
Japanischer Knöterich - Leibniz Magazin
Der Japanische Knöterich ist als invasive Art berüchtigt – und als Rhabarberersatz köstlich.

Aber woher weiß man überhaupt, ob die Menschen der Steinzeit Knoblauchsrauke, Giersch und Waldziest gegessen haben? Das wissen wir nicht, sagt Archäologe Moseler. Aber wir wissen, dass sie sich von dem ernährt haben, was sie in der Natur fanden. Und das hat sich über die Jahrtausende erheblich verändert: In der beinahe baumlosen europäischen »Mammutsteppe« der Altsteinzeit aßen die Menschen, wie Untersuchungen von Zähnen und Steingeräten zeigen, Scharfgarbe oder Kamille. Nachgewiesen wurde auch, dass damals Himbeere und Wacholder, Klee und Beifuß wuchsen. Es sei sehr wahrscheinlich, sagt Moseler, dass die Menschen sich von ihnen ernährten – auch wenn es bisher nicht bewiesen wurde.

Klar ist auch, dass sie bereits die nahrhaftesten Pflanzen kannten. Alle unsere Getreide, Wurzel- und Knollengemüse sind aus wilden Arten gezüchtet worden, sagt Pflanzenexperte Neitzert. Zwar mögen etwa die Körner urtümlicher Süßgräser weniger nahrhaft sein als heutiger Weizen oder Roggen. Aber die frühen Menschen hatten Zeit, genug davon zu sammeln.

Hand hält grauen Stein - Leibniz Magazin
Steinklingen liegen neben Pastinaken und Rote Beete. Leibniz Magazin
Lila Orange Karotten werden mit den Steinklingen geschnitten. Leibniz Magazin
mit einer Steinklinge wird Rote Beete geschnitten. Leibniz Magazin

Erst in der Mittelsteinzeit breiteten sich dichte Wälder über das heutige Deutschland aus. Die Menschen entdeckten ihre Vorliebe für die Haselnuss. Auch das ist bewiesen. Es wurden nämlich diverse Plätze gefunden, an denen sie die Kalorienbomben (die Nüsse bestehen zu beinahe zwei Dritteln aus Fett) rösteten.

Eine rein pflanzliche Ernährung hätte Homo Sapiens vor Erfindung des Ackerbaus allerdings nicht genügt. Womit wir beim dritten Teil des Programms angekommen sind, dem Paläo-Menü. Ohne Fleisch und Fett hätten die Menschen, vor allem in Kaltzeiten, kaum etwas anderes tun können, als nach Nahrung zu suchen – und selbst das hätte nicht gereicht, um zu überleben , sagt Frank Moseler, der im Garten von Monrepos, mit Blick übers Rheintal, schon mal ein Feuer entfacht hat: Klar, gekocht wird über der Glut.

Üblicherweise gibt es Wild, beispielsweise vom Rothirsch, der bereits die Steinzeitmenschen ernährte. Aber der örtliche Jäger hatte gerade nichts im Angebot. Stattdessen hat Moseler ein geschätztes Pfund Rinderhüfte besorgt – was ebenfalls nahe am steinzeitlichen Speiseplan ist. Wisente und später Auerochsen gehörten zur typischen Jagdbeute früher Menschen. Außerdem liegen bereit: mehrere flache Steine, Feuersteinklingen, der Korb mit Sammelgut, eine Handvoll Pastinaken und Rüben und eine weitere Handvoll Haselnüsse.

Als sich herausstellt, dass es nicht genug Klingen für alle gibt, bleibt Moseler gelassen, greift zu einer faustgroßen Feuersteinknolle und schlägt kurzerhand mit gezieltem Hieb eine weitere Klinge ab: grob keilförmig, die Kanten unregelmäßig, aber messerscharf. Rasmus greift sie sich und beginnt, Möhrenscheiben herzustellen. Die Klinge schneidet etwa so gut wie ein Küchenmesser, das länger nicht geschärft wurde – bloß, dass es zu ihrer Herstellung weder Eisenminen noch Hochöfen braucht, sondern nur zwei geeignete Steine.

Die Gruppe bereitet zusammen das Essen vor. Auf dem Tisch liegt das gesammelte Essen. Leibniz Magazin
Auf einer Steinplatte braten Fleisch, Pfifferlinge und Rosmarin. Leibniz Magazin
Auf einer Steinplatte rösten Rote Beete, Karotten und Pastinake. Leibniz Magazin
Ein Mann legt Fleisch auf die Steinplatte. Leibniz Magazin
In einer Pfanne röten die Haselnüsse und Kräuter
Die Gruppe füllt sich von dem gekochten essen auf. Leibniz Magazin

Währenddessen verteilt Moseler auf flachen Steinplatten, die er über der Glut erhitzt hat, Butterschmalz (in der Steinzeit wäre Knochenmark verwendet worden, aber die Menschen des 21. Jahrhunderts verzehren ungern mehr vom toten Tier als Muskelfleisch). Dann legt er die ersten Fleischstücke auf den heißen Stein. Es zischt und spritzt. Möhren und Pastinaken landen am Rand des Glutbetts zwecks langsamen Durchschmorens.

Gegarte Speisen lassen sich leichter kauen und besser verdauen als rohe , sagt Moseler. Nachdem die frühen Menschen das herausgefunden hatten, konnten sie viel mehr Energie aus ihrer Nahrung gewinnen, während gleichzeitig Kauen und Verdauen weniger Energie verbrauchten. Sogar ihre Backenzähne sind mit der Zeit kleiner geworden. Wie genau sie die so gewonnene Zeit nutzten, ist zwar nicht bekannt. Aber wer den ganzen Tag mit knurrendem Magen durch Wald und Wiesen streife, so Moseler, komme eher nicht dazu, technische oder soziale Neuerungen auszutüfteln.

Kurz bevor Rind und Rüben fertig gegart sind, kommt die Frage auf, ob Steinzeitessen nicht fürchterlich fad sein müsse: Abseits der Küsten gibt es kaum offene Salzquellen, und Bergwerke wurden erst viel später erfunden. Moseler lächelt bloß und richtet das erste Schieferplättchen an: Medaillon aus Rinderhüfte an gebratenen Pfifferlingen, begleitet von Haselnüssen und geschmortem Wurzelgemüse sowie einem Chicorée-Giersch-Salat. Die Anwesenden sind sich einig: Es fehlt an keiner Stelle Salz.

Mit den Steinen wird versucht einen Funken zu erzeugen
Eine Hand hält ein glühendes Stück Papier. Leibniz Magazin
Feuer selber machen - Leibniz Magazin
Der Mann hält das entflammte Material in seinen Händen, ein kleiner Junge schaut ihm zu. Leibniz Magazin
Die Gruppe steht und sitzt Am Lagerfeuer. Leibniz Magazin

Als die Sonne allmählich hinter den Hügeln der Eifel versinkt, kurz bevor Moseler vorführt, wie die frühen Menschen mit Steinen und Zunder Feuer machten, taucht Lutz Neitzert noch einmal am Steinzeitgrill auf. Eine Sache muss ich euch noch zeigen , ruft er, angelt frisch gesammelte Brennnesselblätter aus einem Schälchen und legt sie ins blubbernde Fett. Keine Minute später fordert er auf zu probieren.

Rasmus, bisherige Begegnungen mit Brennnesseln im Kopf, ist skeptisch. Mit spitzen Fingern führt er eins der hauchdünnen, frittierten Blätter zum Mund. Dann gehen seine Augen auf, er flitzt zur Feuerstelle und verlangt Nachschub. Der Geschmack lässt sich am ehesten mit glutamatgetränkten Kartoffelchips vergleichen, nur eben ohne künstliches Glutamat und von einer filigranen Knusprigkeit, die eines Sternerestaurants würdig wäre.

Gehen wir einfach mal davon aus, die frühen Menschen hätten sich exakt so ernährt wie an diesem Abend. Dann beantwortet sich die große Frage, warum Homo Sapiens hunderttausende Jahre brauchte, um Ackerbau und Viehzucht und fettige Snacks aus der Tüte zu erfinden, auf einen Schlag: Er hatte es schlicht nicht nötig – es ging ihm nämlich richtig gut.

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