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Der Bewegungsökologe THOMAS MÜLLER erforscht an der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, einem Frankfurter Leibniz-Institut, das Verhalten und die Bewegungen von Wildtieren – und wie sich Umwelt- und Landschaftsveränderungen auf sie auswirken. 

Als ich zum ersten Mal in die Mongolei reiste und in die Steppe kam, hatte ich das Gefühl, in einem Meer zu stehen, nur dass das Wasser nicht blau war, sondern grün. Dieses Gefühl habe ich bis heute, jedes Mal, wenn ich hierher zurückkehre.

Ihr Osten ist eines der am dünnsten besiedelten Gebiete der Mongolei. Weite, flache Landschaft, so weit das Auge reicht. Bäume gibt es keine, nur Gras. Für unsere Forschung sind die Bedingungen optimal: Weil die wenigen Leute, die hier wohnen, ihr Vieh frei herumziehen lassen, durchtrennen keinerlei Zäune die Weidegründe – und so können auch die Wildtiere, die wir untersuchen, sich frei bewegen. In den Steppen Zentralasiens leben unzählige Paarhufer. Neben der Saigaantilope und Wildeseln gibt es verschiedene Gazellenarten, von denen in den östlichen Regionen mindestens eine Million Tiere unterwegs sind. Hier und da sieht man Einzeltiere, häufig sind es aber riesige Herden.

Gerade die mongolische Gazelle ist sehr faszinierend, denn ihr Verhalten ist wirklich einzigartig. Sie kann im Jahr mehrere Tausend Kilometer zurücklegen und schlägt dabei äußerst interessante Routen ein: Gazellen migrieren nicht wie andere Tiere regelmäßig vom Überwinterungs- zum Übersommerungsgebiet, ihr Wanderverhalten scheint völlig chaotisch zu sein. Um genauer zu verstehen, wie sich die Tiere bewegen, fangen wir einige Gazellen mit Netzen ein und statten sie mit GPS-Sendern aus. Dabei unterstützen uns immer auch die Menschen vor Ort, die als Hirten einfach wahnsinnig gut mit den Tieren umgehen können –, da kann man nur zugucken und staunen.

Hirte blickt in die Ferne der Steppe. Er sitzt auf einem braunen, stehenden Pferd.
Weg durch die Steppe, in der Ferne Tierherde und Berge.

Bislang war die Landschaft weit und durchlässig – für Mensch und Tier.

Mit den Sendern können wir die Routen der Tiere minutiös nachverfolgen. Die GPS-Daten zeigen uns, dass sich jede einzelne Gazelle unabhängig von den anderen durch die Steppe bewegt, was aus wissenschaftlicher Sicht für uns erst einmal total überraschend war. Wir nehmen an, dass die Tiere immer wieder den urplötzlich auftretenden Schneestürmen oder Steppenfeuern ausweichen müssen. Auch auf der Suche nach Nahrung müssen sie wahrscheinlich oftmals die Richtung ändern, um dort, wo es gerade regnet, wieder frisches Gras zu finden.

Bislang war das auch kein Problem, denn die Landschaft, in der sich die Wildtiere ebenso frei bewegten wie die nomadischen Hirten mit ihren Weidetieren, war weit und durchlässig. Nun werden jedoch immer mehr Menschen sesshaft und ziehen in die Städte der Mongolei, meist in die Hauptstadt Ulan Bator. Straßen und Eisenbahnlinien werden gebaut, viele Menschen finden auf den wachsenden Ölfeldern, in Kohleminen und im Bergbau Arbeit.

Zäune und Straßen können den Tieren in der Steppe den Weg abschneiden. Auch die Eisenbahnlinie, die von Peking über Ulan Bator quer durch die Mongolei bis nach Russland führt, ist eingezäunt und trennt die Wildtierpopulationen im Westen und Osten des Landes. In den vergangenen Jahren wurde dieser Zaun zumindest an einigen Stellen wieder abgebaut und auch die teilweise noch im Bau befindliche neue Eisenbahnlinie durch die Östliche Gobi-Wüstensteppe, soll für Wildtiere möglichst durchlässig gestaltet werden: durch weniger Stacheldraht oder flachere Böschungswinkel.

Am Horizont rollt eine Eisenbahn durch die grüne Steppe heran. Die Bahntrasse ist durch einen Zaun abgesperrt. Am Boden liegen Überreste eines Tieres.
Neue Barrieren: Eisenbahntrasse ...
Bohrturm, Bauwägen und Fahrzeuge in der Steppe.
... und Ölförderung in der mongolischen Steppe.

Naturschutzgebiete sind für die Wanderung der Wildtiere dagegen nicht die alleinige Lösung. Unsere Langzeitdaten von besenderten Gazellen zeigen, dass die Tiere schätzungsweise 100.000 Quadratmeter benötigen, auf denen sie sich frei bewegen können – das entspricht ungefähr der Größe Ungarns. So große Flächen können angesichts der ökonomischen und sozialen Transformationen nicht mehr frei bleiben. Auch machen es die chaotischen Bewegungen der Gazellen den Ölkonzernen unmöglich, ihre Standorte tierschutzgerecht zu verlagern, da nicht vorhersehbar ist, wo sich die Tiere wann aufhalten und welche Routen sie einschlagen.

Deshalb setzen wir bei der Frage, wie das Zusammenleben von Mensch und Tier trotz der Veränderungen gut funktionieren kann, auf integrative Ansätze. Im Projekt MORE STEP untersuchen wir, wie das Leben für Menschen in der Steppe nachhaltig attraktiv sein kann, und wie sie es so gestalten können, dass die Wildtiere nicht darunter leiden.

Auch wenn das nomadische Hirtentum eine Jahrtausende alte Tradition und in der mongolischen Kultur noch immer einen sehr hohen sozialen Stellenwert hat, habe ich größtes Verständnis dafür, dass viele Menschen nicht mehr das ganze Jahr auf Reisen sein wollen und sich ein komfortableres Leben wünschen. Denn das Leben in der Steppe ist nach wie vor rau und anspruchsvoll. Die Winter sind extrem kalt, von Oktober bis April muss man mit Eis und Schneestürmen rechnen, in den heißen Sommermonaten hingegen immer wieder Steppenfeuern ausweichen und neue Nahrung für die Tiere finden. Auch die medizinische Versorgung, Internetverbindungen und Mobilfunknetze sind dort nicht so gut. Viele Familien, die ich persönlich kenne, haben genau so lange, in der Steppe gelebt, bis die Kinder zur Schule mussten. Denn sie auf ein Internat zu schicken würde bedeuten, dass die Familie nur noch im Sommer ein paar Monate gemeinsam verbringen könnte.

Zäune und Straßen können den Tieren den Weg abschneiden.

Karawane mit Kamelen, die bepackte Holzkarren ziehen.
Kamel mit einem Wagen, auf dem sich eine kleine Blechhütte mit Alltagsutensilien darin befindet. Ein Junge kniet vor dem Kamel.
Vor einer Jurte sitzen zwei Personen. Davor eine Satellitenschüssel, Töpfe, ein Motorrad und ein Hund.
Jurte, Wagen und Pferd in der Ferne bei Sonnenaufgang in der Steppe.
Steppe in verschiedenen braunen Schattierungen, in der Ferne Berge und dunkler Himmel.
Vor orange erleuchteten Wolken sieht man eine Tierherde im Gegenlicht.

Das Leben in der Steppe ist rau und anspruchsvoll.

Bei meinen Forschungsreisen in die Mongolei habe ich viele Menschen kennengelernt und sie als sehr gastfreundlich erlebt. Kommt man bei einem Ger an, der Jurte der Nomaden, bekommt man erst einmal Tee und sagt erst dann, wer man ist und was man eigentlich will. So ging es mir auch 2004, als ich das erste Mal in die Mongolei reiste. Mit einem Lokalflug gelangte ich damals im Februar oder März von Ulan Bator aus in die Steppe. Es herrschte tiefster Winter. Wir fuhren noch drei, vier Stunden, bevor mich mein Kollege vor einem Ger absetzte, in der Bekannte von ihm wohnten. Sie sprachen überhaupt kein Englisch, doch zum Glück hatte ich ein kleines Wörterbuch dabei – und einen Zettel mit dem Namen des kleinen Flughafens, zu dem sie mich für den Rückflug bringen sollten.

Das ganze Leben der Nomaden spielt sich in einem Raum ab, Privatsphäre gibt es kaum. Wenn es zum Beispiel heißt: »So, wir schlafen jetzt«, legt man sich auf den Boden und schläft. Die drei, vier Wochen, in denen ich mit meiner Gastfamilie gewohnt habe, waren fantastisch, auch wenn für mich anfangs alles ungewohnt und neu war. Mittlerweile ist auch diese Familie in die Stadt gezogen. Wir sind aber noch immer in Kontakt und sie unterstützen uns nach wie vor bei der Forschung.

Ich reise bis heute fast jedes Jahr in die Mongolei. Auch wenn ich mich hauptsächlich mit der Auswertung von Daten beschäftige, Workshops in Ulan Bator leite oder einfach nur Kollegen dort treffe, sind diese Reisen sozusagen das Salz in der Suppe, um zu verstehen, welche Auswirkungen der gesellschaftliche und ökonomische Wandel auf die Wildtiere und das Ökosystem der Steppe hat.

Thomas Müller sitzt mit Laptop in einer von bunten Stoffen ausgekleideten Jurte.
Thomas Müller in der Jurte seiner Gastfamilie. Foto NANDINTSETSEG DEJID

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