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Einhörner sind ein Symbol für die gezähmte Geilheit eines wilden Mannes. In der christlichen Ikonografie ist Maria die Einzige, die es vermag, ein Einhorn zu zähmen. Ausgerechnet Maria. Die Unbefleckte. Die Reine, die Heilige, die ohne Geschlechtsverkehr das Jesuskind zur Welt gebracht hat.

Einhörner sind eben nicht nur ein Mädchen-Ding, sagt Johannes Pommeranz, Bibliotheksdirektor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Das Einhorn erfährt in der Nürnberger Fastnacht des Spätmittelalters einen Bedeutungswandel. Es wird profanisiert und zum Symbol für den geilen Mann, der von der Frau geritten wird. Das Einhorn ist also genauso ein Phallussymbol wie ein Zeichen der Reinheit, die Bedeutungen stehen parallel.

Der Wilde Mann ist eines der archaischen Symbolthemen der Menschheitsgeschichte. Kaum ein Thema hat so viele Kulturen des Globus geprägt und sich über Jahrtausende so erhalten. Wilde Leute, das sind riesenhafte Gestalten mit übermenschlicher Körperkraft, die in der Wildnis, oft im Wald hausen.

Schon die älteste schriftlich überlieferte Geschichte, der vom Volk der Sumerer bereits vor etwa 3.500 Jahren in Steintafeln geschlagene Gilgamesch-Epos, behandelt einen Mann, der getrieben von seinem Wunsch nach Macht und Einfluss die Grenzen des Anstands und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens immer weiter hinter sich lässt – und deshalb verflucht wird. Unsterblich geworden verliert er irgendwann alle sozialen Bande, das macht ihn wahnsinnig. Als Ausgestoßener des Menschengeschlechts durchstreift er die Ewigkeit und verliert dabei immer mehr seine Menschlichkeit. Der wilde Mann, wie wir ihn verstehen, ist ein Waldmensch von überdurchschnittlicher Größe, der langes Zottelhaar aufweist. Er trägt Bart und ist allenfalls mit Fellen bekleidet, sagt Pommeranz. Man kann sich den Typos als eine Mischung aus Riese und Satyr vorstellen: Die übermenschliche Kraft des Riesen verbindet sich mit der Geilheit des antiken Satyr.

Darstellung eines Wilden Mannes auf einem Wandteppich. Er hält zwei Wappen in der Hand und steht vor grünen Blättern.
Die Bilder zu unserem Beitrag zum »Wilden Mann« stammen aus dem Germanischen Nationalmuseum – Leibniz-Forschungsmuseum für Kulturgeschichte in Nürnberg. Dieser Wandteppich ist 1497 entstanden und zeigt einen Wilden Mann, der die Allianzwappen von zwei Nürnberger Familien in den Händen hält.

Wilde Leute sind riesenhafte Gestalten mit übermenschlicher Körperkraft, die im Wald hausen.

Auch heute noch berichten Medien dem Sinn nach von wilden oder wild gewordenen Männern. Es wird begrabscht, belästigt und vergewaltigt, schreibt beispielsweise die Frankfurter Rundschau über das Oktoberfest 2023 in München. Allein in der ersten Woche vermeldete die Polizei zwei Vergewaltigungen und 32 weitere Sexualdelikte.

Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen, hat August Bebel, einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie, einmal formuliert. Und wenn ein Thema so alt und so verbreitet ist wie das des wilden Mannes, kann es dann überhaupt anders sein, als dass es bis in die heutige Zeit hinein das Bild von Männlichkeit beeinflusst?

Die Supermarktkette Edeka veröffentlichte im Mai 2017 eine Werbung, mit der sie die Saison für ihre Grillprodukte eröffnen wollte. Eine epische Erzählerstimme kündigt an: Am Anfang war das Feuer. Von Gottes Hand als Blitz entfacht, brennt und glimmt die lodernde Flamme, die aus Knaben Männer macht. Im Zentrum des Clips steht zwar das Feuer, entfacht aber wird es über alle Zeitalter hinweg von Männern, die rau sind, roh und wild. Am Ende des Films stürmt eine Horde wild gewordener Männer aus einem dunklen Wald in die Idylle eines Eigenheims mit Garten, reißt den gepflegten Holzzaun nieder und bringt dem Mann von Heute das zurück, was er der These der Werbung nach wohl verloren hat: Wildheit, Natur, Potenz durch Fleisch.

In der Werbung fehlt mir die riesenhafte Gestalt und das Zottelhaar. Beides ist zentral für die Darstellung des wilden Mannes, wie wir sie aus der Überlieferung her kennen, sagt Johannes Pommeranz. Dass die Edeka-Reklame also in direkter Linie mit der Tradition des wilden Mannes steht, würde ich nicht unterschreiben.

Pommeranz ist Kulturhistoriker und aus diesem Blickwinkel fällt er seine Urteile: Keine riesenhafte Gestalt, kein Zottelhaar, also kein wilder Mann. Aber bei allen Dingen im Leben ist es doch so, dass manche Eigenschaften wegbrechen, andere sich verändern, wenige so mächtig sind, dass sie in gleicher Weise erhalten bleiben. Und Männlichkeit ist auch heute noch mit Eigenschaften verbunden, die zentral sind für den Wilden Mann: Wildheit, das Beherrschen der Naturgewalten und Potenz.

Bildteppich mit der Darstellung eines Raubes einer Wilden Frau.
Dieser Bildteppich zeigt den Raub einer Wilden Frau. Entstanden ist er um 1515 in Frankreich.

Klar, welcher Mann will das nicht sein: Potent und stark wie ein Riese?, fragt Johannes Pommeranz. Wilde Männer sind ein Stück weit wir selbst. Wo aber stehen zeitgenössische Ausdeutungen des Marketings  noch in der Darstellungstradition der Wildleute – und wo sind sie zu weit weg?

Zumindest aber spielen Motive wie das Wilde und Ungezähmte in ein gemeinsames Themenfeld, das eben auch von der Werbung aufgegriffen wird: das Wilde, der Wald – das ist Männlichkeit.

Pommeranz erzählt, er sei Teil der Baby-Boomer-Generation und wurde entsprechend anders erzogen. Anders, das bedeutet: eher feminin sozialisiert. Der perfekte Mann der 2000er kann kochen, bügelt Hemden und Blusen und nimmt sich am besten drei Jahre Elternzeit. Das gesellschaftliche Ideal des Mannes unserer Zeit ist so weit vom ursprünglichen Wilden Mann entfernt, wie es nur sein kann.

Genau das greifen Marketingideen wie die des Edeka-Videos auf: Sexualität durch Kraft und Ursprünglichkeit. Aber auch abseits der Werbung zeigt sich eine solche Sehnsucht: Männer zahlen teils mehrere Hundert Euro, um in einer Gruppe zum Kampieren in den Wald zu fahren. Männlichkeits-Trainer fordern einen dort zuweilen auf, mal richtig laut zu brüllen. Man baut einen Unterschlupf, grillt, trinkt Bier und brüllt, und tut so, als ob das irgendetwas damit zu tun hätte, zu seinen Wurzeln als Mann zurückzukehren.

Klar, welcher Mann will das nicht sein: Potent und stark wie ein Riese?

JOHANNES POMMERANZ 

Ich glaube, dass die Erziehung der Achtundsechziger dazu geführt hat, dass viele Eigenschaften, die Männer über Jahrhunderte ausgezeichnet haben, neu bewertet wurden. Diese ursprüngliche Männlichkeit in der Werbung zu betonen, kommt offenbar gut an, weil eine Sehnsucht danach geblieben ist, was wir in Teilen verloren haben.

Pommeranz sagt immer wieder, er meine das mit dem Verlust der Männlichkeit nicht wertend, er beschreibe lediglich. Trotzdem klingt Verlust, als wäre da etwas, das es verdient hätte, wieder Raum zu bekommen. Andererseits kann das aber doch auch bedeuten, dass der freie Raum sich neu besetzen lässt. Der Wilde Mann, sagt Pommeranz, verbindet die Kraft und die Größe der Riesen mit der Geilheit des Satyrs, und diese Alpha-Männlichkeit darf doch verloren gehen. Sich von überholten Weltbildern zu lösen und das zu tun, was langfristig sinnvoll ist, statt Impulsen zu folgen, genau das ist doch Zivilisation. Natürlich, sagt Pommeranz, nur ist das alles nicht neu. Wild und zahm, dieser Widerstreit ist etwas, das schon immer in uns steckt.

Schon Cicero habe geschrieben, Humanitas sei, was den Menschen vom Tier unterscheide: die Fähigkeit zur Vernunft. Wilde Männer aber sind instinktgetrieben und damit unvernünftig. Mit Körperkraft ist ihnen nicht beizukommen, sehr wohl aber mit Schläue und Verstand. In diesem Sinne sei der wilde Mann dem Tierreich näher als der Gemeinschaft der Mitmenschen, der Zivilisation. Noch heute gibt es die Redewendung, jemand benehme sich wie ein Tier.

Der wilde Mann hat als kulturhistorisches Symbol also auch eine Sozialisierungsfunktion: Du sollst, du sollst nicht. Durch den wilden Mann gelingt es, Gelüste zu externalisieren – sie bekommen eine Gestalt, deren Eigenschaften zwar auch in einem selbst stecken, die man im Alltag aber von sich stößt.

Ein historisches Beispiel sind Faschingskostüme, sagt Pommeranz. Schon um 1500 liefen in Nürnberg Männer als wilde Männer verkleidet durch die Stadt. Sie sind in die Rolle geschlüpft und haben sich in dieser Rolle weitgehend zügellos ausgelebt. Seitdem ist es Männern in Nürnberg verboten, ihr Geschlecht zu entblößen, während sie durch die Straßen laufen.

Bild einer Wilden Frau.
Eine Wilde Frau aus dem Bildteppich von 1515.

Neben dem wilden Mann gibt es den Archetypus der wilden Frau: Auch sie wird mit Eigenschaften der Natur besetzt, vor allem mit Fruchtbarkeit, Sexualität aber auch Kenntnis um Pflanzenkunde. Das kulturelle Bild von Hexen ist mutmaßlich geprägt vom Archetyp der wilden Frau, die sich der Gesellschaft entzieht und ein unkontrolliertes Leben führt, alleine in der Wildnis des Walds.

Wilde Leute waren nicht nur Sagengestalten: Schwerkranke, Behinderte oder Krüppel wurden oft mit dem Mythos der wilden Leute besetzt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Man zwang die Ausgestoßenen zu einem Leben, das manchem Betrachter mehr tierähnlich als menschenwürdig schien – ob in den schmutzigen Randvierteln einer Großstadt wie Rom oder auf Isolationsinseln für Leprakranke in Japan.

Der wilde Mann aber sei keinesfalls nur negativ, sagt Pommeranz und zitiert ein Streitgedicht aus dem sechzehnten Jahrhundert:

Das ist der grausame wilde Mann, 
der sich so sehr hervorgetan 
dass ich seine Taten und männliche Kraft, 
seine großen Siege und Ritterschaft, 
unse seinen Triumph hier erwähnen muss.

Wildheit neben Ritterlichkeit. Der Adel schmückte sich mit Bordüren oder Wappenröcken, auf denen wilde Männer abgebildet waren.

Gerade im Spätmittelalter wurde der wilde Mann zu einer Sehnsuchtsgestalt der Freiheit: Wilde Leute sind frei von den Beschränkungen einer geordneten Welt, sie sind frei von Regeln und den strengen Etiketten des höfischen Lebens. Sich nicht beherrschen zu müssen, seinen Gelüsten einfach nachzugeben, frei zu sein ohne Scham: Das war ja nicht nur das Tier, das war auch das Paradies des Garten Eden, bevor erst Eva, dann Adam in den Apfel der Erkenntnis bissen und fortan über ihre eigenen Taten reflektierten.

Das Wilde und Zügellose, das aus der Norm ausbricht und sich den Regeln der Gesellschaft widersetzt, besitzt auch heute noch Anziehungskraft: Eigensinnige Charaktere gelten als faszinierend.

Nicht nur der wilde Mann, auch seine Herkunft und Heimat sind zu einem Ort der Sehnsucht geworden: der Wald. Man muss Wildleute unbedingt in Verbindung mit dem einst dunklen Wald von früher sehen, den man nicht ohne weiteres betreten hat, sagt Pommeranz. Der Wald im Spätmittelalter sei ein unbesetzter, unsicherer Raum gewesen, geheimnisvoll und voller Gefahren. Jeder Schatten war plötzlich ein Wesen, durch die Dichte der Äste und die verschlungene Dunkelheit malte die Fantasie sich alles mögliche aus, zudem gab es tatsächlich wilde Tiere und Gesetzlose.

So konnte der Wald in der Vorstellung des Spätmittelalters zu einem Rückzugsort für Wildleute werden. Der Wilde Mann war eine Verbildlichung der Ängste vor dem Unbekannten. Und sobald man Angst eine Gestalt gibt, bannt man sie. Zugleich waren die Wildleute in der Vorstellungswelt des Spätmittelalters aber auch Hoffnungsträger: Sie lebten dem paradiesischen Ideal nahe, fern der verruchten städtischen Gesellschaft.

Ein Bildteppich der ein Gastmal mi wilden Leuten zeigt. eta 1420 Straßburg. Leibniz Magazin
Dieser Bildteppich ist um 1420 in Straßburg entstanden. Er zeigt ein Gastmahl mit Wilden Leuten, die an den hübsch gelockten Fell zu erkennen sind, die sie tragen. Links sitzen eine Königin und ihre Begleiter in einem prächtigen Zelt, die Gesellschaft speist gerade.

Heute sind die Gefahren überschaubar, hierzulande gibt es keine Bären mehr, kaum noch Wildschweinrotten, gerade erst wieder Wölfe, und Räuber durchstreifen eher die Großstädte. Der Wald wurde zum Naherholungsgebiet. Leute gehen zum Wandern oder Joggen dorthin oder begründen neue Traditionen wie das Waldbaden.

Die Magie, die Menschen noch immer mit dem Wald verbinden, entsteht aus dem Glauben, zwischen den Stämmen ein wenig näher zu den eigenen Wurzeln zu finden, zurück zum Ursprung. Das Irrationale, das Spirituelle hatte seit der Aufklärung lange an Bedeutung verloren. Wie bei jedem Trend war es aber auch hier nur eine Frage der Zeit, bis sich eine Gegenströmung beobachten lässt.

Was gibt einem noch Halt in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, auch, weil ihre Bilder immer massiver auf einen einprasseln? Ein Mensch sein, das muss doch mehr bedeuten, als zu funktionieren, im Arbeitsalltag, in einer Beziehung, in der Gesellschaft. Diese Frage bleibt genauso aktuell, wie sie es vor tausend Jahren war, sagt Pommeranz. Die Angebote der Religion, vor allem des Christentums, überzeugen die meisten Deutschen nicht mehr.

Der Wald hingegen verspricht Natürlichkeit. Eine Welt mit klaren, einfachen Grenzen, die nur scheinbar noch nicht zu sehr vom Menschen manipuliert wurde. Auf die gleiche Sehnsucht setzt das Marketing-Versprechen »frei von Gentechnik«, das als Qualitätssiegel boomt, obwohl Wissenschaftler seit Jahrzehnten erklären: Gentechnik oder nicht, das hat nichts mit Qualität oder Sicherheit zu tun.

Ich weiß nicht, wie beliebt ein wilder Mann als Tattoomotiv heutzutage ist, sagt Kulturhistoriker Pommeranz. Aber das wäre mal eine Untersuchung wert.

Der Wilde Mann war eine Verbildlichung der Ängste vor dem Unbekannten.

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