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Kurz vor dem Start der Fußball-Weltmeisterschaft ist die Kritik am Gastgeberland Katar groß wie nie. Die fatale Menschrechtslage und das von Korruption durchzogene System des Weltfußballverbands FIFA sorgt für Empörung. Warum sich westliche Gesellschaften gerade an dieser WM derart erregen, welchen Nutzen sich Katar von dem Event verspricht und warum Großveranstaltungen dieser Art immer politisch betrachtet werden müssen, darüber hat die Journalistin Ursula Weidenfeld mit dem Politologen Eckart Woertz vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in unserem Podcast »Tonspur Wissen« gesprochen.

LEIBNIZ Herr Woertz, welchen Stellenwert nimmt der Fußball in Katar, Saudi-Arabien, Iran, Irak und den nordafrikanischen Ländern ein?

ECKART WOERTZ In manchen Ländern wie Ägypten und Marokko spielt Fußball eine sehr große Rolle. Mancherorts ist sogar eine Ultra-Fankultur entstanden, etwa beim Al-Ahly Sports Club in Kairo. Auch in Saudi-Arabien, das ja bereits an einigen Weltmeisterschaften teilgenommen hat, spielt Fußball durchaus eine Rolle. In Katar ist er dagegen eher ein Orchideengewächs, das künstlich und mit viel Aufwand von Regierungsseite herangezüchtet wurde. Dort spielt sich die Fußballbegeisterung mehr vor dem Fernseher als im Stadion ab. Eine gewachsene Fußballkultur gibt es unter den Katarern nicht unbedingt.

Trotzdem sponsert Katar den FC Barcelona und Bayern München, den Verein Paris St. Germain besitzt das Emirat sogar.

Es handelt sich dabei vor allem um eine politische Strategie des Staates, mithilfe der Ausrichtung von Sportereignissen eine gewisse »Soft Power« im Ausland einzukaufen. Das gibt es nicht nur beim Fußball, sondern auch bei anderen Sportarten. Und auch in anderen Ländern der Arabischen Halbinsel wird es praktiziert. Man denke nur an den Grand Prix der Formel 1 in Bahrain. Katar ist an dieser Strategie aber ganz besonders interessiert.

In manchen nordafrikanischen Ländern ist der Fußball sehr politisch. So haben während des Arabischen Frühlings die Fußballfans in Ägypten eine große Rolle gespielt und sind im Anschluss dafür politisch verfolgt worden. In den Ländern der arabischen Halbinsel ist das weniger der Fall. Wie kommt das?

Es stimmt, dass manche Fan-Segmente bei den Aufstandsbewegungen des Arabischen Frühlings stark beteiligt waren. Diese politischen Unruhen und Aktivitäten möchte man auf der Arabischen Halbinsel nicht haben. In Katar ist die Gefahr sozialer Unruhen unter der einheimischen Bevölkerung aber ohenhin nicht wirklich hoch. Die 300.000 Katarer haben zum größten Teil ein relativ hohes Pro-Kopf-Einkommen.

Da würde man eher erwarten, dass sich dort mal die Frauen oder die LGBTIQ+-Community gegen Unterdrückung auflehnen. Homosexualität etwa ist in Katar nach wie vor strafbar.

Natürlich ist es wichtig, dass diese Dinge angesprochen werden. In der Katar-Berichterstattung der letzten Wochen wurden diese Dinge allerdings zum Teil relativ ritualisiert und erwartbar dargestellt. Wenn wir diese Diskussionen anstoßen, sollten wir nicht nur auf die Menschenrechte in Katar schauen. Was ist mit dem in China gefertigten Smartphone, den asiatischen Billigtextilien, die wir am Leib tragen oder dem Billigfleisch aus einer deutschen Schlachthalle? Wer von Katar reden, aber vom Kapitalismus schweigen will, ist nicht gerade konsequent.

Portrait des Politologen Eckart Woertz.
Der Politologe Eckart Woertz vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien. Foto ECKART WOERTZ/UNI HAMBURG

ECKART WOERTZ
ist Direktor des Instituts für Nahost-Studien am German Institute for Global and Area Studies, dem Leibniz-Institut für regionale und globale Studien (GIGA). Zugleich ist der Politologe Professor für Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens an der Universität Hamburg.

Wie erklären Sie sich diese Sichtweise?

Das hat auch ein bisschen mit der Selbstbefindlichkeit zu tun, die in Deutschland existiert: Wir haben ein links-liberales Bürgertum, das sich am eigenen Weltanschauungs-Kaminfeuer wärmt und sich seiner eigenen Befindlichkeiten und Identitätspolitiken vergewissert. Dabei war beispielsweise Homosexualität auch in Deutschland noch bis 1994 strafbar. Das hat man jetzt in Windeseile positiv wenden können, was ja gut ist. Man möchte aber Teile der eigenen Gesellschaftsidentität auf andere Länder ausweiten, während man sich der eigenen Geschichte relativ wenig bewusst ist und andere Gesellschaften ohne Nuancen und recht holzschnittartig wahrnimmt.

Sie meinen, dass man nicht erwarten kann, dass auch andere Länder in diesen Dingen derart schnell nachziehen?

Genau. Das gesellschaftliche Denken bezüglich dieser Verhältnisse hat sich auch bei uns ja erst in jüngster Zeit gewandelt. Außerdem haben andere Gesellschaften durchaus mehr Grauschattierungen, als den meisten bewusst ist. Bei der Berichterstattung spielt immer auch mit rein, wie wir uns im Westen die orientalischen Gesellschaften vorstellen. Früher wollte man als koloniales Abendland gerade binäre Geschlechtsbeziehungen und Heteronormativität in den globalen Süden bringen. Der Orient galt als lasziv und zügellos. Mittlerweile steht der Westen woanders und diese Dynamik beginnt von vorne.

Sie meinen eine herablassende Haltung westlicher Gesellschaften gegenüber anderen Kulturen und Gesellschaften – wie im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts?

Man sollte sich zumindest bewusst machen, warum sich die Golfstaaten ungerecht behandelt und kolonial bevormundet fühlen. Frauenrechte zum Beispiel sind ein wichtiges Thema, denn natürlich haben Frauen nach der Scharia einen kritikwürdigen Rechtsstatus. Aber diese Kritik muss zunächst aus den Ländern selbst kommen, denke ich. Außerdem muss man die verschiedenen Grautöne sehen. Auch in Katar und anderen Ländern der Golfregion gibt es teilweise sehr selbstbewusste und gut gebildete Frauen, die im Bildungsstandard den Männern häufig überlegen sind.

Trotzdem dürfen Frauen öffentlich nicht wie Männer auftreten.

Ja, allerdings gibt es auch dort Frauen, die in politischen Positionen tätig sind. Dennoch existieren in diesen Gesellschaften natürlich ganz klare, binäre Geschlechtszuschreibungen. Gerade bei den Arbeitsmigrantinnen gibt es sehr viele, die unter äußerst problematischen Bedingungen im Hausangestellten-Sektor arbeiten und einen sehr unsicheren Rechtsstatus haben, etwa wenn ihre Löhne nicht gezahlt werden oder es um sexuellen Missbrauch geht. Das sind Probleme, die angesprochen werden müssen.

Also gibt es doch eine Legitimation, diese Probleme gerade jetzt anzusprechen und auf Verbesserungen zu drängen? Menschenrechte sind ja universell und keine Erfindung des Westens.

Die Menschenrechte sind zwar theoretisch inzwischen universell, sie sind aber durchaus eine Erfindung des Westens, was ja grundsätzlich nicht schlimm ist. Sollte der Druck Ihrer Ansicht nach denn vonseiten der FIFA kommen?

Auch von den Fans, den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und staatlichen Organisationen.

Ja, aber die Fans vergeben ja nicht die Weltmeisterschaft, sondern die FIFA. Die ist allerdings ein recht korrupter Verein, was ja nicht nur bei der Katar-WM deutlich wurde. Auch der WM 2006 in Deutschland ging ein erhebliches Maß an Korruption voraus. Nur scheint mir, wenn es der Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer macht, ist es okay und alle freuen sich des Sommermärchens. Aber wenn Katar diese Mechanismen nutzt, ist es ganz böse.

Es gibt aber inzwischen staatsanwaltliche Ermittlungen und Verfahren gegen die Beteiligten hinter dem Sommermärchen.

Genau. Aber man sollte das Thema nicht nur auf eine Katar-Diskussion verengen, sondern das System der FIFA insgesamt kritisch durchleuchten. Und auch sportliche Massenveranstaltungen im Allgemeinen, die von autoritären Regimen für »Sportwashing« genutzt werden. Da frage ich mich ein bisschen, wo denn die Proteste bei der WM 2018 in Russland oder den Olympischen Spielen in Peking waren? Im Falle von Russland fand die WM sogar nach der Annexion der Krim statt. Wenn es große, wichtige Staaten sind, auf die man angewiesen ist, ist man tendenziell etwas vorsichtiger.  Dieses orientalistische Bild des Öl-Scheichs aus einem kleinen Land eignet sich hingegen schon eher für eine gewisse politische Erregungsökonomie.

Obwohl wir uns aktuell auch bei den arabischen Ländern andienen, um Erdgas zu bekommen.

Natürlich, die deutsche Energiesicherheitsstrategie mit ihrer Abhängigkeit von russischem Gas war ein Fehler und ist nun in Rauch aufgegangen. Jetzt ist man hektisch auf der Suche nach Alternativen. Die arabischen Länder haben allerdings schon längst viele Kunden, gerade in Asien, weshalb Deutschland sich in der Schlange erst einmal hinten einreihen muss. Insofern muss die Politik kritische Themen jetzt hintenanstellen.

Mit »Sportswashing« versuchen kleinere Staaten wie Katar sich auf die Weltkarte zu projizieren.

ECKART WOERTZ

Fußballspieler spielen in dunkler Nacht im Flutlicht.
Profitstreben, Korruption und Menschenrechtsverletzungen. Vor der Weltmeisterschaft in Katar werden vermehrt die dunklen Seiten des Fußballgeschäfts beleuchtet. Foto ABIGAIL KEENAN/UNSPLASH

Woran liegt es, dass Fußball in den arabischen Ländern politisch eine so wichtige Rolle spielt?

Fußball ist immer politisch. Sportveranstaltungen und Massenevents sind immer politisch. Man denke nur an die modernen Olympischen Spiele, die erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden. Sicherlich nicht zufällig fiel dies mit dem Zeitalter des Nationalismus zusammen. Sportveranstaltungen dieser Größe wurden über die letzten 100 Jahre immer politisch inszeniert. Zum Beispiel die Olympiade 1936 in Berlin, die von einem autoritären, faschistischen Regime zur Außendarstellung genutzt wurde.Mit »Sportswashing« und »Soft-Power-Outreach« versuchen kleinere Staaten wie Katar sich auf die Weltkarte zu projizieren und eine gewisse Wichtigkeit zu erlangen. Ob sich solche politischen Investments im Sportbereich wirklich lohnen, darüber lässt sich streiten. Katar hat durch die massiven Investitionen in die Ausrichtung der Fußball-WM ja auch sehr viel negative Publicity bekommen.

Bei seinen Nachbarn – etwa bei Saudi-Arabien hat Katar einen schwierigen Stand. Was kann Fußballdiplomatie in diesem Kontext bewirken?

Ich glaube, Fußballdiplomatie wird nicht alle politischen Probleme der Region lösen können. Es fungiert dabei eher als ein unpolitisches Ventil der Bevölkerung, beim Fußball einmal Dampf abzulassen und sich umgekehrt auch als Nationalstaat auf der Weltbühne zu inszenieren. Die Probleme mit Saudi-Arabien haben auch viel mit Katars Sympathien für die Muslimbruderschaft und weitere, islamistische Bewegungen in der Region zu tun, die Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate nicht für gut befinden.

Das von Ihnen angesprochene »Sportswashing« bedeutet, dass die Ausrichtung sportlicher Großereignisse ein Land in der Weltöffentlichkeit besser dastehen lässt als zuvor. »Soft Power« heißt, über menschliche Beziehungen mit anderen auf Augenhöhe an einem Tisch zu sitzen. Wo sind diese beiden Mechanismen bei der Weltmeisterschaft zu sehen?

Mit der Weltmeisterschaft wird Katar sehr prominent in den Medien weltweit vertreten sein. So kann es sich als der erste Ort im Nahen Osten darstellen, wo eine solche Weltmeisterschaft stattfindet und wird das auch entsprechend inszenieren. Aus der Perspektive der FIFA ist es zudem interessant, neue Märkte zu erschließen. Auch Länder in Afrika oder Asien werden als Austragungsorte deshalb zunehmend interessant.

Müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Austragung der Fußball-WM nun dauerhaft eher in den Süden und Osten wandert und seltener an europäische Nationen vergeben wird?

Ich denke, das ist ein gewisser Trend. Die WM sollte ja auch nicht ausschließlich eine europäische oder lateinamerikanische Veranstaltung sein. In demokratischen Staaten gibt es außerdem eine zunehmend kritische Haltung was die ökologischen Auswirkungen und teure Infrastrukturmaßnahmen betrifft. Über solche Bedenken können sich autoritäre Regierungen deutlich einfacher hinwegsetzen.

Kann die WM bei all der Kritik denn auch positive Effekte haben, zum Beispiel, indem sie die Region stabilisiert?

Katar musste sich aufgrund des Drucks, die WM zu bekommen und sie vor allem nach der fragwürdigen Terminsetzung in den Winter auch zu behalten, zumindest oberflächlich einem Reformprozess unterwerfen. Nun gibt es dort einen Mindestlohn und das Kafala-System wurde offiziell abgeschafft oder zumindest abgemildert. Dieses System schränkt die Rechte von Arbeitnehmern stark ein, was zum Beispiel die Reisefreiheit und Rechtssicherheit betrifft. Zwar dürfen die Leute immer noch keine Gewerkschaften gründen. Aber zumindest auf dem Papier hat es eine Absprache mit der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen gegeben, die inzwischen ein Büro in Katar hat. Es kann allerdings passieren, dass nach der Weltmeisterschaft wieder vieles im Sande verläuft. Reformanstrengungen auf dem Papier sind eine Sache, die reale Umsetzung etwas anderes.

TONSPUR WISSEN

Das Gespräch mit Eckart Woertz vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) können Sie in voller Länge im Podcast Tonspur Wissen von Rheinischer Post und der Leibniz-Gemeischaft hören. Für leibniz haben wir es leicht gekürzt und bearbeitet. Im Podcast widmet sich die Journalistin Ursula Weidenfeld aktuellen Themen und Entwicklungen und spricht darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Leibniz-Gemeinschaft. Alle Folgen des Podcasts finden Sie hier.

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