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Pro

Wir sind dazu gemacht, uns zu bewegen.

MIRKO BRANDES

Es gibt ein Wesen auf der Welt, das eine Antilope zu Tode hetzen kann. Nein, nicht einholen und mit Bissen und Krallen erledigen, sondern so lange hinterherrennen, bis die Antilope vor Erschöpfung umfällt. Welches Wesen das ist? Es ist der Mensch. Kaum zu glauben, oder?

Zugegeben, diese Form der Nahrungsbeschaffung kommt in unserem Alltag nicht mehr allzu häufig vor. Dennoch tauschte der Mensch, als er vom Baum runtergeklettert war und anfing, sich auf zwei Beinen zu bewegen, auch sein Fell gegen eine Haut mit Schweißdrüsen ein. Und spätestens damit war klar: Wir Menschen sind gemacht, um uns zu bewegen, sogar um uns sehr viel zu bewegen. Unsere Anatomie, unsere Physiologie – alles ein Meisterwerk für ein sich bewegendes Wesen. Und bei Benutzung wird es noch besser. Das heißt, dass wir den funktionellen Zustand unseres Körpers durch Bewegung sogar noch verbessern können.

Ist Sport nun also Mord? Ich verstehe die Frage nicht … Denn wissenschaftlich ist es längst belegt, dass Bewegung unsere Gesundheit fördert. Wir können vor allem Ausdauer, Kraft und Koordination durch Bewegung stärken. Dazu kommen die nachweislich positiven Effekte auf psychische Gesundheit, Wohlbefinden, Selbstständigkeit im Alter und soziale Kontakte.

Trotzdem tun wir seit einigen Jahrzehnten alles, um Bewegung aus unserem Alltag zu verbannen. Wir fahren zu viel Auto, sitzen zu lange im Büro. Wir nehmen den Fahrstuhl im Kaufhaus oder das Laufband am Flughafen. Und in letzter Zeit ersetzen wir auch noch das Radfahren oder das Gehen kurzer Strecken durch E-Bikes und E-Roller.

Die Quittung für dieses (Fehl-)Verhalten sind Zivilisationskrankheiten, zum Beispiel Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes, und es ist nachgewiesen, dass diese Zivilisationskrankheiten früher und häufiger bei jenen Menschen auftreten, die sich zu wenig bewegen. Meiner Meinung nach ist es besonders schlimm, dass wir Erwachsenen damit sogar die Entwicklung unserer Kinder nachhaltig negativ beeinflussen. Wir bringen den Kindern Bewegungsmangel bei, indem wir sie ständig mit dem Auto herumfahren, und leben ihnen Bewegungsmangel vor, indem wir ständig sitzen und uns immer weniger bewegen. Gleichzeitig sind wir äußerst kreativ, was die Ausreden für dieses Verhalten angeht, und stecken mit dieser Zu-zu-Krankheit auch noch unsere Kinder an: zu kalt, zu müde, zu wenig Zeit … !

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und viele andere Institutionen schlagen Alarm, wir versuchen nun, mit Interventionen das Steuer herumzureißen. Seit 2016 gibt es endlich auch für Deutschland Empfehlungen zu Bewegung und Bewegungsförderung, kostenlos über die Webseite des Bundesministeriums für Gesundheit als PDF. Die WHO legte den Global Action Plan on Physical Activity 2018-2030 auf. Und nicht nur in Deutschland versuchen wir nun zum Beispiel über die Schulen, die Kinder wieder zu mehr Bewegung anzuregen. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob das nun Bewegung im Alltag über Zufußgehen, Treppenlaufen oder konventionelles Fahrradfahren oder aber systematisches Sporttreiben in einem Verein ist. Es ist die Summe aus beidem, und es sollte auch niemand gezwungen werden, eine bestimmte Anzahl an Schritten pro Tag zu tun, wenn er doch viel lieber Fahrrad fährt oder Schwimmen geht.

Und ja: Ja, manchmal verletzt man sich auch beim Bewegen und beim Sport. Aber das kommt sehr selten vor, und wird von den positiven Effekten von Bewegung und Sport über die Jahre weit überlagert.

Sich zu bewegen und Sport zu treiben, macht Spaß. Es fühlt sich gut an, wenn man den Arbeitsweg mit dem Rad absolviert, die Treppen hochläuft und mit Freunden am späten Nachmittag eine Runde Fußball spielt. Diese Aktivitäten kann man gerne durch beliebige andere ersetzen, der Effekt bleibt derselbe. Ich finde, es wird Zeit, dass wir uns des Spaßes und der positiven Gefühle durch Bewegung und Sport wieder bewusst werden. Dann schaffen wir es auch, mehr Bewegung in unsere Gesellschaft zu bringen.

MIRKO BRANDES ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Prävention & Evaluation des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS und leitet dort die Arbeitsgruppe Physical Activity Research.

Contra

Leistungssport ist Raubbau am eigenen Körper.

OLIVER STOLL

Das Bild, das mein Scheitern am besten widerspiegelt, zeigt mich auf Kopfsteinpflaster im Zielbereich liegend, ausgemergelt, kaum bei Bewusstsein. 1,78 Meter war ich damals groß, wog noch etwa 57 Kilogramm. Was war geschehen?

Mein Leben bestand in den Jahren davor aus Training, Schlafen, Stoffwechseln, aus schneller, schneller, schneller und weiter, weiter, weiter. Erst zehn Kilometer, dann 25, dann Marathon, dann Ultraläufe. Ich war besessen, einfach nur noch schräg unterwegs – vor allem wenn man bedenkt, dass ich damals neben Sport auch Psychologie studiert habe.

1988 bin ich dann den Ironman auf Hawaii gelaufen. Auf dem Zielfoto reiße ich die Arme in die Luft. Das sieht eigentlich wie ein Höhepunkt aus. Und doch war ich damals am Ende, psychisch wie körperlich. Ich konnte nicht mehr. Aus meiner heutigen Perspektive als Sportpsychologe war ich damals ein Paradebeispiel dafür, dass die Aussage Sport ist gesund so pauschal leider nicht zutrifft.

Doch klären wir zunächst, worüber wir reden: Da ist einmal der Leistungssport. Das Trainingspensum professioneller Athleten ist vergleichbar mit einer vollen Arbeitsstelle. Die physischen Belastungsumfänge sind mitunter extrem hoch. Leistungssportler betreiben Raubbau am eigenen Körper, und das hat Folgen: kaputte Gelenke, Bänder, Knochen und Muskeln. Nicht selten zeigen sich diese Belastungswirkungen erst nach der Karriere.

Es gibt Sportarten, die mit extremen Lebens- und Ernährungsgewohnheiten einhergehen. Wer ästhetisch-kompositorische Disziplinen wie Kunsturnen, Eiskunstlauf oder rhythmische Sportgymnastik betreibt, kommt nicht darum herum, streng über sein Gewicht zu wachen, das gilt auch für Sportarten mit Gewichtsklassen, etwa Boxen und Gewichtheben. Um beispielsweise Essstörungen entgegenzuwirken, ist es deshalb wichtig, Sportlerinnen und Sportlern schon früh zu helfen und sie zu beraten.

Doch nicht nur der Körper kann durch übermäßigen Sport Schaden nehmen, sondern auch unsere Psyche. Am großen äußeren, aber auch am eigenen Erwartungsdruck können Menschen durchaus erkranken. Wir erinnern uns nur sehr ungern an den Suizid des Fußballtorwarts Robert Enke, der an Depressionen litt. Von einem chronischen Erschöpfungszustand kann der ehemalige Skispringer Sven Hannawald berichten.

Und auch Hobbysportler kann es treffen. Tausende Läufer, Triathleten oder Rennradfahrer investieren Unmengen an Zeit, Energie und Geld in ihr Sporttreiben. Ein ambitionierter Marathonläufer kommt schnell auf 80 bis 100 Trainingskilometer pro Woche, etwa, um die 42,195 Kilometer in unter drei Stunden zu laufen. Das sind acht bis zehn Stunden Training wöchentlich. Drei bis vier Prozent dieser Menschen sind durchaus gefährdet, eine Sportsucht zu entwickeln. Sind Sportler von dieser Erkrankung betroffen, so hat dies natürlich auch Auswirkungen auf Familienleben und Beruf. Fällt das Hobby weg, etwa wegen einer Verletzung, fallen sie in ein tiefes Loch. Betroffene Athleten ziehen sich sozial zurück, leiden an Entzugssymptomen und neigen zu anderen gesundheitsgefährdenden Kompensationshandlungen.

Die Therapie von Sportsucht steckt noch in den Kinderschuhen. In den bekannten Diagnose-Klassifikations-Manualen ist sie noch nicht einmal als eigene Erkrankung erfasst. Zumeist werden die betroffenen Sportlerinnen und Sportler entweder verhaltenstherapeutisch oder psychiatrisch behandelt. Wir wissen bisher allerdings nur wenig über den Heilungserfolg.

Bei mir selbst half nur eine Schocktherapie. Nach dem Ironman auf Hawaii habe ich meine Karriere beendet – und fast 30 Jahre lang keinerlei Sport getrieben. Dabei wissen wir aus Studien längst, dass die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen 30 Minuten Sport am Tag konsistent positive Effekte auf die Gesundheit haben. Und seien wir doch mal ehrlich: Sich pro Woche insgesamt drei Stunden lang körperlich zu bewegen, ist eigentlich nicht zu viel verlangt. Selbst ich habe die Kurve gekriegt – dank meiner Frau. Sie hat mir gezeigt, wie man auch laufen kann: Zeiten egal, Startnummern egal. Letzter Platz? Egal! Hauptsache laufen, in einer schönen Umgebung.

OLIVER STOLL ist Professor für Sportwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sportpsychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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