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Italien hat gewählt: Eine Partei mit faschistischer Vergangenheit wird künftig die stärkste Kraft in Senat und Abgeordnetenhaus sein – ein Novum in der rund 75-jährigen Geschichte der Appeninrepublik. Geführt werden die Fratelli d’Italia, die »Brüder Italiens«, wie sich die Wahlsieger nennen, von Giorgia Meloni, mit der demnächst eine Frau die Geschicke Italiens lenken wird – auch das ist ein Novum. Wer ist die Politikerin, die 2006 in einem Interview erklärte, ein »entspanntes Verhältnis« zum Faschismus zu haben? Und was bedeutet das für Europa? Wir haben den Zeithistoriker Thomas Schlemmer gefragt.

THOMAS SCHLEMMER
ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Am Leibniz-Institut forscht er unter anderem zur Zeitgeschichte Italiens und Bayerns.

LEIBNIZ Herr Schlemmer, wie schätzen Sie den Wahlausgang ein?

THOMAS SCHLEMMER Ich sehe den Ausgang der Wahlen in einer Kontinuität dessen, was man bereits bei den Wahlen 2018 beobachten konnte. Einerseits können wir einen Bedeutungsverlust der traditionellen politischen Parteien feststellen: Silvio Berlusconis Forza Italia etwa, seit den 1990er Jahren eine der bestimmenden politischen Kräfte des Landes, hat sich von Wahl zu Wahl verschlechtert und ist aktuell bei deutlich unter 10 Prozent der Stimmen gelandet. Einen vergleichbaren, wenn auch nicht ganz so dramatischen Stimmverlust hat der Partito Democratico (PD) hinnehmen müssen, sozusagen das italienische Pendant zur SPD.

Und andererseits?

Gleichzeitig nehmen wir in Italien einen Aufstieg weiterer populistischer Parteien wahr: 2018 war der Movimento Cinque Stelle, die Fünf-Sterne-Bewegung, mit 33 Prozent der klare Wahlsieger. Dabei handelt es sich um eine Partei, die sich nur sehr schwer in ein Links-Rechts-Schema einordnen und sich am ehesten als eine Anti-Establishment-Partei auffassen lässt. Einen enormen Gewinn an der Wahlurne konnte auch Matteo Salvinis rechtspopulistische Lega verzeichnen; sie kam auf rund 18 Prozent der abgegebenen Stimmen. Jetzt, 2022, waren es nun also die Neofaschisten der Fratelli d’Italia, angeführt von Giorgia Meloni, die die Wahl für sich entscheiden konnten.

Wie war die politische Situation in Italien vor der Wahl?

Den Verlauf der zurückliegenden Legislaturperiode würde ich als turbulent bezeichnen. Nur Fünf Sterne und die Lega waren nach 2018 in der Lage, eine Regierung zu bilden – zwei Parteien, die sich aufgrund ihrer Geschichte, Herkunft und auch aufgrund ihrer Programmatik von Anfang an nur schwer miteinander vertragen haben. Entsprechend kurzlebig war diese Koalition. Nach ihrem Scheitern hatte Italien dann eine Regierung, die vom Vertrauen des Staatspräsidenten Sergio Mattarella getragen wurde.

Mattarella beauftragte Mario Draghi mit der Regierungsbildung.

Das ist richtig. Als Regierungschef war Mario Draghi also nicht durch die Wählerinnen und Wähler legitimiert, aber es ist ihm in den vergangenen beiden Jahren dennoch gelungen, eine breite parlamentarische Mehrheit für seine Politik hinter sich zu scharen. Die Parteien dieser De-facto-Koalition hatten zwar die Möglichkeit die Politik mitzugestalten, auf der anderen Seite haben sie sie aber nicht verantworten müssen. Das heißt, sie haben sich in den vergangenen Jahren relativ bequem aus der Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen stehlen können. Und davon gab es genügend, denken wir an die Bekämpfung der Pandemie, von deren ökonomischen Folgen Italien besonders hart betroffen war. Die einzige Partei, die dieser regierungstragenden Mehrheit nicht angehörte, waren Giorgia Melonis Fratelli d’Italia.

Tortendiagramm zum Ergebnis der 2018er Wahlen in Italien. Damals erreichte Movimento Cinque Stelle 32,68 %, Partito Democratico 18,76 %, Lega 17,35 %, Forza Italia 14 %, Fratelli di'Italia 4,35 % und die Sonstigen 12,86 % der Stimmen.
Tortendiagramm zum Ergebnis der 2022er Wahlen in Italien. Dieses Mal erreichte Fratelli di'Italia 25,99 % der Stimmen, Partito Democratico 19,07 %, Movimento Cinque Stelle 15,43 %, Lega 8,77 %, Forza Italia 8,11 %, Azione – Italia Viva 7,79 % und die Sonstigen 14,48 % der Stimmen.

2006 sagte Meloni in einem Interview, dass sie ein entspanntes Verhältnis zum Faschismus habe und Mussolini für eine vielschichtige Persönlichkeit halte. Heute sagt sie, bei den Fratelli sei kein Platz für Antisemitismus, Rassismus und Nazismus – wie glaubhaft ist der Imagewandel?

Wenn Meloni regieren will, muss sie einen Spagat versuchen: Einerseits gibt es durchaus einen neofaschistischen Flügel in der Partei, andererseits sind die meisten der gut 25 Prozent der italienischen Wahlberechtigten, die für Meloni gestimmt haben, keine »Schwarzhemden«, also keine Faschisten. Sie bei der Stange zu halten, wird mit einer neofaschistischen Politik nicht zu machen sein. Sie muss also einen Mittelweg finden, und das hat sie ja schon im Wahlkampf versucht, beispielsweise über die Überbetonung konservativer Werte. Die haben in Italien immer noch einen guten Klang, man denke an Begriffe wie la famiglia tradizionale, la nazione und andere.

In der Berichterstattung wird die politische Ausrichtung der Fratelli d’Italia bisweilen als »Postfaschismus« beschrieben. Ist Giorgia Meloni eine »Postfaschistin«?

Die meisten von uns wurden nach – und nichts anderes bedeutet das Präfix »post« – dem historischen Faschismus geboren. Somit sind wir letztlich alle »Postfaschisten«. Insofern ist mit diesem Begriff vergleichsweise wenig anzufangen, vielmehr halte ich ihn für verharmlosend: Die Fratelli nutzen ihn, um einen Bruch mit dem Faschismus zu vermeiden, denn schließlich müssten sie dann ja auch mit einem erheblichen Teil der eigenen Biografie und mit Teilen des eigenen Anhangs brechen. Gleichzeitig suggeriert man: Eigentlich haben wir mit dem Faschismus nichts mehr zu tun, wobei die Betonung auf eigentlich liegt.

Wie konnte eine Partei mit Wurzeln im Faschismus wieder politische Macht erlangen?

Der Faschismus ist nach 1944/45 nicht einfach aus Italien verschwunden, auch nicht aus dem Parlament. Die Vorvorgängerorganisation der Fratelli d’Italia, der Movimento Sociale Italiano, wurde 1946 gegründet und war fortan regelmäßig im Abgeordnetenhaus vertreten, wenn auch nur mit fünf bis zehn Prozent der Stimmen. Aber, und das ist entscheidend, bis Anfang der 1990er Jahre waren die Neofaschisten Outcasts und haben nie mitregiert.

Was waren das für Leute?

In der Nachkriegszeit kam der Anhang des Movimento Sociale Italiano aus der Anhängerschaft Mussolinis. Die Neofaschisten von heute sind zumeist in dieser Subkultur groß geworden – das gilt auch für Giorgia Meloni. Sehen Sie: Mussolini war mehr als 20 Jahre an der Macht, der Faschismus tief in der Gesellschaft verankert. Daher wäre es ein Wunder, wenn er nach 1945 einfach verschwunden wäre. Aber heute sind es nicht vor allem Faschisten, die Meloni wählen, sondern die Enttäuschten, die Zornigen, die Protestwählerinnen und -wähler gegen das »Raumschiff Rom«.

Besucherinnen und Besucher im Büro Benito Mussolinis, dessen Haus in ein privates Museum umgewandelt wurde.
Nach 1944/45 ist der Faschismus in Italien nie ganz verschwunden, sondern bestand in einer Subkultur fort, der auch Giorgia Meloni angehörte. Im Bild: Besucherinnen und Besucher im Büro Benito Mussolinis, dessen Haus in ein privates Museum umgewandelt wurde. Foto PICTURE ALLIANCE/DPA | OLIVER WEIKEN

Fand in Italien nach 1945 eine Aufarbeitung des Faschismus statt?

Selbstverständlich, und sie war bei Kriegsende sogar überaus gewalttätig. Aber hinter der Fassade des Antifaschismus hielt sich eine neofaschistische Subkultur, die in den 1990er Jahren wieder salonfähig wurde – oder eher: die Berlusconi aus machtpolitischen Motiven wieder salonfähig machte.

Wie kam es dazu?

Der große Tabubruch geschah, als Silvio Berlusconi die Alleanza Nazionale, die Vorgänger der Fratelli d’Italia, erst in sein Wahlbündnis und dann in die Regierung aufgenommen hat. Gianfranco Fini, Giorgia Melonis politische Ziehvater, wurde bisweilen gar als Nachfolger Berlusconis im sogenannten Mitte-Rechts-Lager gehandelt. Und Meloni selbst wurde 2008 Ministerin in Berlusconis viertem Kabinett. Italien befindet sich deswegen aber nicht auf direktem Wege in eine faschistische Diktatur, sondern ist nach wie vor eine gefestigte Demokratie. Hervorheben möchte ich insbesondere die italienische Justiz, die es zum Beispiel geschafft hat, Silvio Berlusconi wegen Bestechung und Korruption zu verurteilen und ihn auch für einige Jahre aus dem politischen Verkehr zu ziehen – wenn auch nach mehreren gescheiterten Versuchen.

Wenn es gelingt, die Krisen unserer Zeit zu bewältigen, können wir den radikalen Kräften in Europa den Wind aus den Segeln nehmen.

THOMAS SCHLEMMER

Foto von Thomas Schlemmer
Der Zeithistoriker Thomas Schlemmer FOTO People-Pictures Fotostudio München

Die Fratelli d’Italia sind jetzt ein Wahlbündnis mit Berlusconis Forza Italia und Matteo Salvinis Lega eingegangen. Was hat es mit diesen Bündnissen auf sich?

Im komplizierten italienischen Parteiensystem sind Wahlbündnisse von Vorteil. Vereinfacht gesagt gilt: Die Direktkandidatinnen und -kandidaten eines Bündnisses treten in Wahlkreisen nicht gegeneinander an, nehmen einander also nicht die Stimmen weg. Und da ein Drittel der Abgeordneten in Italien durch Mehrheitswahlrecht gewählt wird, hat ein breites Parteienbündnis gegenüber Einzelparteien wie den Fünf Sternen oder dem Partito Democratico leichteres Spiel.

Warum haben sich Partito Democratico und die Fünf Sterne nicht zusammengeschlossen?

Das hat mit Personen zu tun, das hat mit Traditionen im Mitte-Links-Lager zu tun und es hat auch damit zu tun, dass es eine tief verwurzelte Feindschaft zwischen den Fünf Sternen und dem PD gibt. Immerhin steht letzterer ja wie kaum eine zweite Partei für das römische Establishment, dem die Bewegung der Fünf Sterne den Kampf angesagt hat. Eine Zusammenarbeit zwischen PD und Fünf Sternen hätte eine ernstzunehmende Herausforderung für das Mitte-Rechts-Lager werden können. Jetzt ist es aber gekommen wie erwartet und das Bündnis um Meloni, Salvini und Berlusconi hat rund 80 Prozent der Wahlkreise gewonnen. 

Italien ist nicht das einzige Land Europas, in dem es starke Parteien weit rechts der Mitte gibt. Wie ist das zu erklären?

In vielen Ländern Europas, in Italien, Frankreich, Polen und anderswo, kann man eines beobachten: Die Zeiten der festen politischen Lager sind vorbei. Ehemals große Volksparteien wie die Republikaner und Sozialisten in Frankreich versinken in der Bedeutungslosigkeit. Zur Erinnerung: Weder der liberale Emanuel Macron noch die rechtsradikale Marine Le Pen gehören den einst vorherrschenden Parteien an. In der Konsequenz heißt das, dass die Parteien sehr viel mehr drauf angewiesen sind, auf aktuelle Stimmungen zu achten. Und je nachdem wie eben die Wahlkampfzeiten fallen – aktuell wählen wir in den Zeiten von Pandemie und Krieg, mit den damit verbundenen Ängsten – profitieren vermehrt rechtsextreme Parteien. Solche Krisen sind ja in einem gewissen Sinne ihr Lebenselexier. 

Werden sie einen dauerhaften Platz im politischen Spektrum finden?

Das hängt wesentlich davon ab, wie die demokratischen Kräfte die multiplen Krisen unserer Zeit bewältigen. Wenn das einigermaßen gelingt, können wir den radikalen Kräften den Wind aus den Segeln nehmen.

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