Warum wird Bier auch als »flüssiges Brot« bezeichnet? Wie entstand das Reinheitsgebot und warum galt Bier früher als gesünder als Wasser? In unserem Podcast »Tonspur Wissen« hat die Journalistin Ursula Weidenfeld die Wissenschaftliche Direktorin des Leibniz-Insituts für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB) Barabara Sturm gefragt.
LEIBNIZ Hallo, Frau Sturm. Was genau ist Bier eigentlich?
BARBARA STURM Bier ist ein alkoholisches Getränk, das entsteht, wenn ein zucker- oder stärkehaltiges Rohmaterial vergoren wird. Bei diesem Prozess, der Fermentation, werden Zucker oder Stärke in Alkohol verwandelt. In Deutschland ist Bier aber auch ein Kulturgut, und es hat nicht nur hier, sondern auch weltweit eine sehr lange Tradition. Denn alkoholhaltige fermentierte Getränke gibt es seit etwa 10.000 Jahre.
Wie entstand das erste Bier?
Sehr wahrscheinlich unbewusst. Es gibt Theorien, dass irgendwann mal Getreide, aufbewahrt in einem Behälter, feucht wurde und dann spontan fermentiert ist. Für diesen Prozess braucht es auch Mikroorganismen, von denen die Menschen zu der Zeit noch nichts wussten. Lange wussten die Menschen also nur, dass mit stärke- oder zuckerhaltigen Rohmaterialien etwas passiert.
Und man wusste auch, dass es schmeckt.
Wenn man die Prozedur beherrschte, dann schmeckte es mit Sicherheit. Aber es gab auch sehr viele Versuche, die nicht so gut gelaufen sind. Vor ungefähr 7.000 Jahren gab es in Mesopotamien schon die ersten Biere, die auf Gerste beruhten. Und die dort ansässigen Sumerer waren eine Stadtgesellschaft, die sehr gerne Bier trank. Alle Gesellschaftsschichten haben Bier getrunken, und da gab es sehr, sehr gute Biere. Es gab aber auch sehr schlechte Biere. Was wichtig ist: Bierbrauen war durch die ganze Geschichte bis zur Industrialisierung ein Frauenjob. Und im Mittelalter haben sogar Kinder Bier getrunken. Denn zu dieser Zeit war Bier gesünder als das Wasser, was man so bekommen konnte.
Wieso war es gesünder?
Im Prozess des Bierbrauens gibt es eine Stufe, in der die Flüssigkeit gekocht wird, wobei schädliche Mikroorganismen abgetötet werden. Wasser, etwa aus einem Fluss, konnte dagegen verunreinigt sein und schnell krank machen. Das Bier war für die Kinder also eher das kleinere der möglichen Übel. Man muss aber auch dazu sagen, dass die Biere zu der Zeit sehr schwach waren. Also wir reden hier von etwa 1,5 bis 2,5 Prozent Alkoholgehalt – nicht zu vergleichen mit den heute als Standard geltenden 4,5 bis 5 Prozent.
Ist Bier ein Nahrungsmittel oder ein alkoholisches Getränk?
Bier ist natürlich ein alkoholisches Getränk. Ich glaube aber, dass viele Menschen in Bayern Bier noch immer auch als Grundnahrungsmittel ansehen. Das erkennt man daran, dass es auch als „flüssiges Brot“ bezeichnet wird. Denn tatsächlich wurde Bier in der Vergangenheit als ein Brotersatz während der Fastenzeit in Klöstern verwendet.
Man hat Bier getrunken, um satt zu werden?
Während der Fastenzeit in Klöstern war das einer der Aspekte, ja. Und auch einer der Gründe, warum es Klosterbrauereien waren, die die Starkbiere erfunden haben. Gerade im Mittelalter waren Klöster häufig Zentren des Wissens und der Wissenschaft. Und um während der Fastenzeit nicht zu hungern, haben sie dieses Wissen angewandt. Der Ausdruck „flüssiges Brot“ stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Indem sie hochprozentige Biere mit einem hohen Kalorienanteil brauten, schafften sie es, satt zu werden. Und der Papst erlaubte es ihnen, drei Maß pro Tag zu trinken. Das interessante ist jedoch, dass die Größe des Maß abhängig davon war, was der jeweilige Landesbischof beschlossen hatte. Eine Maß in München fasste zum Beispiel 1,068 Liter.
Bei Bier denken viele direkt an das deutsche Reinheitsgebot, das ungefähr 500 Jahre alt ist und besagt, dass deutsches Bier nur aus Wasser, Malz und Hopfen gebraut werden darf. Warum ist das so?
Wenn wir vom Reinheitsgebot sprechen, dann von dem aus 1516, dem Ingolstädter Reinheitsgebot. Das war allerdings nicht das erste Reinheitsgebot. Beispielsweise wurde in Nürnberg schon 1305 ein Reinheitsgebot ausgesprochen und in Augsburg sogar schon um 1165. Das Ingolstädter Reinheitsgebot hatte mehrere Hintergründe. Zu dieser Zeit gab es einen Anstieg der Getreidepreise. Um die Bevölkerung zufrieden zu halten, wollte man sicherstellen, dass die Bierpreise gleich bleiben oder zumindest nicht sehr stark steigen. Das hat aber dazu geführt, dass die Brauer weniger Geld verdient haben. Einige von ihnen begannen deshalb Halluzinogene in ihre Biere zu mischen.
Was für Halluzinogene waren das?
Alle möglichen Kräuter, die eben halluzinogene Wirkungen hatten, um das betrunken werden zu simulieren. Üblich, war, dass das erste Bier ein normales Bier war, also wirklich nur mit Getreide gebraut wurde und mit Kräutern, die eben nicht diese Wirkung hatten und dann ab dem zweiten, wo man es vielleicht nicht mehr so geschmeckt hat, eins der Biere ausgeschenkt wurde, denen Halluzinogene beigemischt waren. Und das erste Gefühl war ja, man wird betrunken. Es ist also eine ähnliche Wirkung, im ersten Moment. Aber nachhaltig vergiftet man sich damit.
Und das hat man gemacht, weil Getreide teuer wurde und es weiterhin gleichzeitig eine stabile Nachfrage nach Bier gab. Wenn das Getreide teurer wurde, warum hat man dann Getreide für Bier sozusagen gesetzlich verankert?
Man hat die Gerste gesetzlich verankert, weil die am schlechtesten zum Brotbacken geeignet war, während Weizen und Emmer und viele andere Getreidearten sich sehr gut zum Brotbacken geeignet haben.
Hefe kommt ja im Reinheitsgebot gar nicht vor. Trotzdem braucht man sie, damit Alkohol überhaupt entstehen kann.
Genau. Die Hefe war immer im Spiel – auch wenn die Brauer lange nicht wussten, dass es sie überhaupt gibt. Ab dem Mittelalter, wurde ihnen dennoch bewusst, dass da etwas passierte und teilweise fingen sie dann auch den Hefeschlamm auf und verwendeten ihn für den nächsten Sud. Da Hefen aber eigentlich überall wild vorkommen, gab es auch da immer noch spontane Fermentation. In Belgien gibt es sogar heute noch eine Biersorte, Landbeck, bei der der Sud der Umgebungsluft ausgesetzt wird, statt Hefen zuzugeben.
Heute gibt es Hunderte verschiedene Biersorten, aber noch immer viele, die sich alle sehr ähnlich zu sein scheinen. Wie hat sich die Industrie des Bierbrauens in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?
Lange war es ein Trend, uniforme Biere zu brauen. Also bis in die 2000er Jahre war es eine weltweite Entwicklung, dass zum Beispiel fast nur noch bittere Hopfensorten angebaut wurden. Da ging es nur noch um die Bitterkeit im Bier. Aromahopfen waren nicht komplett vom Markt verschwunden, sind aber zu einem Nischenprodukt geworden. Die Kehrtwende startete mit der Craft Beer-Entwicklung zunächst in den USA.
Und Craft-Beer kommt aus kleinen, handwerklichen Brauereien.
Genau, das waren ursprünglich mal kleine handwerkliche Brauereien, auch „Mikrobrauereien“ genannt. Zum Teil entwickelten sie sich nun zu großen Brauereien mit großer Marktmacht, mitunter wurden sie in riesige Brauereikonzerne integriert. Insgesamt haben sich in dieser Zeit viele neue kleine Brauereien gebildet, zumindest in Nordamerika und europäischen Ländern. Frankreich ist zum Beispiel nicht besonders bekannt für sein Bier – dort gab es 2014 lediglich 663 Brauereien. Sechs Jahre später, 2020, gab es dann 2.300 Brauereien, darunter 2.000 Mikrobrauereien.
Trotzdem ist Bier ein Massenprodukt geblieben, oder?
Ja, Bier ist immer noch ein Massenprodukt und die größte Menge wird natürlich im Segment der Massenprodukte verkauft. Aber Bier ist jetzt auch ein Getränk geworden, bei dem Menschen Variation möchten und wo das handwerkliche auch wieder zurückgekehrt ist.
Und diese Variation ist auch in Deutschland möglich, weil das Reinheitsgebot ja nicht mehr gilt.
Na ja, also das Reinheitsgebot in der Form von 1516 galt ja sowieso nur ein paar Jahre. Dann gab es schon eine Sonderregelung, dass beispielsweise auch mit Weizen gebraut werden durfte. Das war zwar nur bestimmten Personen erlaubt, aber auch da wurden die Regeln nicht immer befolgt und Beimischungen wurden hinzugefügt. Die meisten deutschen Brauereien halten sich allerdings schon an das, was wir als Reinheitsgebot kennen. Aber man hat auch an Flexibilität gewonnen, da es wieder eine größere Vielfalt an Hopfensorten gibt. Es wird jetzt ganz gezielt auf verschiedene Geschmacksmerkmale gezüchtet. Es gibt beispielsweise eine Hopfensorte, mit der ich tatsächlich auch schon langjährig gearbeitet habe, die heißt Mandarine Bavaria. Sie riecht und schmeckt nach Mandarinen, das Bier ist aber trotzdem nach dem Reinheitsgebot gebraut.
TONSPUR WISSEN
Das Gespräch mit Barbara Sturm, der Wissenschaftlichen Direktorin des Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB), können Sie in voller Länge im Podcast Tonspur Wissen
von Rheinischer Post und der Leibniz-Gemeischaft hören. Für leibniz
haben wir es leicht gekürzt und bearbeitet. Im Podcast widmet sich die Journalistin Ursula Weidenfeld aktuellen Themen und Entwicklungen und spricht darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Leibniz-Gemeinschaft. Alle Folgen des Podcasts finden Sie hier.
Wir haben jetzt den einen Trend zu kleineren handwerklichen Spezialitäten Bieren. Haben immer noch den großen Massenmarkt. Was tut sich da, was sind da die Trends? Was trinkt man in den nächsten Jahren?
Also sowohl im Massenmarkt als auch tatsächlich bei den Spezialitäten Bieren geht der Trend mehr zum Hellen. Seit 2015 gab es einen Zuwachs von 61 Prozent im Marktanteil beim Hellen in Deutschland, während der Marktanteil der Weißbiere ungefähr um 20 Prozent gesunken ist.
Beides sind bayerische Biere.
Es sind beides Biere, für die Bayern bekannt ist, ja. Was auch zugenommen hat, und das hat mich erstmal überrascht, sind stark trübe Biere. Und natürlich alkoholfreie und alkoholarme Biere. Der Trend dazu, dass es jetzt mehr alkoholfreies und alkoholarmes Bier gibt, kommt denke ich daher, dass Bier für viele von uns auch ein Kulturgut ist und auch zu unserem Lebensstil gehört. Und sich gleichzeitig ein größeres Gesundheitsbewusstsein entwickelt hat. Während man vor 20 Jahren alkoholfreie Biere nur sehr ungern getrunken hat, weil sie eigentlich nicht nach einem guten Bier geschmeckt haben, hat sich das sehr stark verändert in den vergangenen Jahren. Mittlerweile gibt es ausgezeichnete alkoholfreie Biere.
Es gab ja den ganz großen Verdacht bei den Olympischen Winterspielen in Vancouver, dass die bayerischen Biathleten gedopt seien, weil die so gut waren damals. Und dann hat man herausgefunden, dass sie hektoliterweise alkoholfreies Weizen importiert hatten. Nach Untersuchungen berichtete die New York Times, dass alkoholfreies Weizen spektakuläre isotonische Werte habe und man es nur jedem Sportler empfehlen könne. Würden Sie das auch tun?
Ja. Gerade im Sommer, wenn man unterwegs ist, zum Beispiel zum Radfahren, ist es doch super, wenn man sich mit einem gesunden isotonischen Getränk hinsetzen kann, das nicht nur lecker, sondern auch noch ein bisschen nach Tradition schmeckt.