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Noch bevor die Protestwoche der Landwirte überhaupt begonnen hatte, nahm die Bundesregierung geplante Kürzungen bei den Agrarsubventionen in Teilen zurück. Diktieren ein paar aufgebrachte Landwirte gerade den Kurs der Regierung, Herr Saldivia Gonzatti?

Es muss schon mehr zusammenkommen als ein Aufgebot an Traktoren, damit Protest parlamentarische Arbeit prägt. Aber natürlich formt der Protest der Bauern ein Meinungsklima und wird öffentlich wahrgenommen – auch von Politikern, die Entscheidungen treffen und wiedergewählt werden wollen. Nur ist der Erfolg von Protest nicht so einfach in Zahlen messbar. 3.000 hupende Traktoren sind nicht gleichbedeutend mit X Millionen zurückgenommen Kürzungen. Protest entfaltet seine Wirkung oft unterschwellig und langfristig. Im aktuellen Fall liegen Protestaufruf der Landwirte und politische Kursänderung zeitlich jedoch so nah beieinander, dass man einen direkten Zusammenhang zumindest unterstellen darf.

Warum finden die Proteste der Landwirte aktuell so viel Gehör und gesellschaftliche Zustimmung?

Die Landwirte sind professionell organisiert und genießen eine große Wertschätzung in der Bevölkerung. Das Identifikationspotenzial ist hoch: Jeder freut sich über frische Lebensmittel aus der Region und findet es bedauerlich, wenn man sie im Supermarkt plötzlich nicht mehr kaufen kann. Hinzu kommt, dass der Deutsche Bauernverband als Interessensvertretung ein anerkannter und bestens vernetzter Gesprächspartner ist, der auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gab es Bauernparteien, als politisch organisierte Vertretung der Bauernbewegung.

Protest muss man sich auch leisten können.

DANIEL SALDIVIA GONZATTI

Die Ampel-Koalition hat auch Kürzungen beim Bürgergeld beschlossen. Sie betreffen mehr als fünf Millionen Menschen, aber niemand geht auf die Straße.

Diese zahlenmäßig große Gruppe ist deutlich schlechter organisiert. Es gibt auch keine Luisa Neubauer für Sozialleistungen oder Steuergerechtigkeit. Dabei ist genau das wichtig: Protest muss früher oder später zur Marke werden. Der Pegida-Protest etwa lebt vom Ritual: Jeden Montag spazieren gehen. Die Querdenkerbewegung hat schnell eigene Pullover designt und tritt mit einheitlichem Logo auf. Luisa Neubauer sitzt in Talkshows als Sprecherin, aber auch als Symbolfigur von Fridays for Future. Soziale Gerechtigkeit ist zwar ein großes gesellschaftliches Thema, aber es ist unsexy, weil so vielschichtig. Es kann nicht so leicht auf ein Plakatstichwort reduziert werden. Viele Menschen wollen auch gar nicht öffentlich machen, dass sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind, weil sie Stigmatisierung fürchten.

Wer geht denn typischerweise für seine Forderungen auf die Straße?

Es sind vor allem privilegierte Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen und guter Bildung, die sich Demonstrationen anschließen. Protest muss man sich auch leisten können. Wer mit zwei Nebenjobs und drei kleinen Kindern versucht, irgendwie über die Runden zu kommen, hat andere Sorgen, als sich um 11 Uhr mittags in einen Demonstrationszug einzureihen. Zumindest in Deutschland und anderen Länder Westeuropas. In Lateinamerika beispielsweise ist das anders: Dort gehen vor allem Menschen auf die Straße, die sprichwörtlich ums Überleben kämpfen und diesen Kampf in Form von Protesten und Revolten auch öffentlich austragen. 

Gibt es so etwas wie eine Rezeptur für erfolgreichen Protest?

Keine Rezeptur, nein. Aber einzelne Zutaten, die die Chance erhöhen, dass Forderungen auch umgesetzt werden, die gibt es schon. Zunächst braucht es Aufmerksamkeit: Protest will gesehen und gehört werden. Ein Protest, den niemand wahrnimmt, ist kein Protest. Es spazieren dann vielleicht drei, vier Menschen zusammenhangslos durch die Stadt. Stattdessen müssen sich viele Gleichgesinnte zusammenschließen, in der Protestforschung bezeichnen wir das als Mobilisierungsphase. Um seine Ziele zu erreichen, ist man dann aber auch auf die Zustimmung und Unterstützung von Außenstehenden angewiesen. Irgendjemand muss gutheißen, was ich da fordere, sonst tragen sich Protestierende nur gegenseitig ihre Forderungen vor. Im besten Fall finden sie gesellschaftliche Entscheider, die sich mit ihren Forderungen identifizieren und sie letztlich durchsetzen.

DANIEL SALDIVIA GONZATTI
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). In einem Langzeitprojekt untersuchen er und Kollegen von dem Leibniz-Institut Proteste seit den 1950er Jahren. Privat ist Gonzatti Mitglied der Grünen.

Soweit zur Theorie. Dann schauen wir uns doch mal ein Beispiel an: Fridays for Future. Zu globalen Klimastreikstreiks haben sich allein vor dem Brandenburger Tor Hunderttausende friedlich versammelt. Und die Anliegen stoßen auch außerhalb der Protestgruppe auf Zustimmung. Ein Erfolg auf ganzer Linie?

Was die Mobilisierung angeht, ist das eine Erfolgsgeschichte. Spannend ist jetzt die Frage: Was hat der Protest gesellschaftlich bewirkt? Ist das Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035 die Protestleistung von Fridays for Future? Würden heute 1.000 Windräder mehr stehen, wenn sich noch mehr Leute an Klimademonstrationen beteiligt hätten?

Und?

In der Protestforschung können wir Einstellungsveränderungen und Zustimmungswerte für einzelne Protestgruppen und Forderungen erheben. Aber wie effektiv der Protest letztlich ist, kann niemand in Prozentpunkten aufschlüsseln. 2018 und 2019, als die Klimaproteste am größten waren, haben auch die Grünen Wahlerfolge feiern können. Zeitgleich gab es aber auch Dürren, Berichte über Waldbrände bestimmten die Nachrichten, Influencer warben für fleischlose Ernährung. Im Zusammenspiel hat das zu gesellschaftlichem Wandel geführt. Vielen Aktivisten gehen die klimapolitischen Maßnahmen allerdings nicht weit genug. Wir erleben immer mehr Fridays for Future-Aktivisten, die mit den bisherigen Erfolgen so unzufrieden sind, dass sie zu radikaleren Protestformen greifen …

… so wie in Lützerath, wo Klimaaktivisten über Monate Bäume und Häuserbesetzten. Sie wollten verhindern, dass der Energiekonzern RWE den Ort abreißt, um Braunkohle abzubauen. Am Ende mussten die Aktivisten weichen, die Kohlebagger rollten an.

Der Protest in Lützerath hat starken Symbolcharakter, bis heute. Den meisten Aktivisten wird klar gewesen sein, dass sie irgendwann Häuser und Bäume räumen müssen. Aber Lützerath wurde für die Bewegung zu einem gemeinsamen Ort, der Klimazerstörung erfahrbar gemacht hat. Und genau diesen Ort wollten die Aktivisten wortwörtlich mit ihrer ganzen Kraft verteidigen. Auch wenn auf der Fläche Kohlebagger jetzt stehen, bleiben die Bilder des Protests. Auch das kann als Erfolg gedeutet werden.

Auf die Macht von Bildern setzen auch die Aktivisten der Letzten Generation. Straßenblockaden im Berufsverkehr, Kartoffelbrei auf Gemälden, orangene Sprühfarbe auf dem Brandenburger Tor. Sympathien gewinnt die Gruppe mit diesem Vorgehen nicht.

Die Letzte Generation hat auch gar nicht den Anspruch, von allen Seiten Beifall zu bekommen. Protestgruppen sind keine Parteien, die am Wahltag von möglichst vielen Menschen gewählt werden wollen. Protestgruppen wollen Forderungen durchsetzen. Und die Klimabewegung zeigt: Um sehr ähnliche Ziele zu erreichen, werden höchst unterschiedliche Wege gewählt.

Also können Aktionen der Letzten Generation nicht nur alarmieren und nerven, sondern auch konkret Klimaschutz voranbringen?

Das ist zumindest das Kalkül der Aktivisten. Der radikale Protest lässt den moderaten in einem besseren Licht erscheinen. Die Gesellschaft ist eher bereit, Akteure wie Fridays for Future anzuerkennen, weil sie im Vergleich mit den radikalen Kräften als legitime, rationale Gesprächspartner erscheinen. „Radical Flank Effect“ nennt das die Sozialforschung. Doch Vorsicht: Das ist erstmal nur eine Theorie! Und das Pendel kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen: Dann nämlich, wenn radikaler oder sogar gewaltsamer Protest die gesamte Bewegung diskreditiert und Klimaschutz auf einmal pauschal mit Straßenblockaden und Sachbeschädigung gleichgesetzt wird. Wie erfolgreich die Letzte Generation mit ihren Aktionen ist, kann heute noch niemand sagen.

Foto UNSEEN HISTORIES/UNSPLASH

Landwirte bedrohen Wirtschaftsminister Robert Harbeck, Demokratiefeinde stürmen die Treppen des Reichstags, Klimaaktivisten beschmieren das Brandenburger Tor mit Farbe. Wird Protest immer radikaler?

Nein. Protest war auch in der Vergangenheit mehr als friedliche Menschenketten und selbstgemalte Plakate. Im Gegenteil: Die Studentenproteste der 1960er und 1970er Jahre waren sehr chaotisch. In den 2000er Jahren haben sich Menschen dann bei eisiger Kälte an Bahngleise gekettet, um Castortransporte zu blockieren. Um die Jahrtausendwende haben wir dagegen eine Phase der Demobilisierung erlebt. Auch deshalb erscheinen uns die aktuellen Proteste so radikal.

Woran liegt es, dass heute wieder mehr Menschen protestieren?

Angst ist ein Motor, der Bürger mobilisiert und zu Protestierenden macht. Und aktuell reiht sich Krise an Krise: Pandemie, Krieg in Europa, Inflation ... Die Frustration steigt, das Vertrauen in demokratische Intuitionen sinkt.

Aber Demonstrationen sind doch ein Wesensmerkmal von Demokratien.

Die Frage ist, auf welche Art und Weise Menschen ihre Meinung kundtun. Und da stimmt mich die aktuelle Entwicklung sorgenvoll. Die Gewalt gegenüber Amts- und Mandatsträgern nimmt zu. Im bayerischen Landtagswahlkampf wurde die Spitzenkandidatin der Grünen, Katharina Schulze, mit einem Stein beworfen. 2021 stand ein Mob mit Fackeln vor dem Privathaus von Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping. Am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung werten wir aktuell eine Studie zur Gewalttoleranz bei Demonstrationen aus. Erschreckendes Ergebnis: Etwa 10 Prozent der Befragten sind bereit, Fäuste sprechen zu lassen, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen.

Welchen Beitrag spielen Soziale Netzwerke dabei?

So gut wie jeder Protest mobilisiert heute über Instagram, Facebook, Telegram und Co.. Und wenn Protest weniger Barrieren überwinden muss, und ich mich als Gruppe schneller organisieren kann, ist das ja auch erstmal eine gute Sache. Die Kehrseite sind Hass- und Falschnachrichten, die in den Sozialen Netzwerken eine enorme Reichweite erfahren. Chatbots und Troll-Armeen versuchen das Meinungsklima zu beeinflussen. Ich sehe Soziale Netzwerke allerdings nicht als Brandbeschleuniger für eine verrohte Protestkultur. Menschen haben immer schon Wege gefunden, um abgeschottet von Fakten ihre demokratiefeindlichen Ansichten auszutauschen – was heute Telegramgruppen sind, waren früher Kneipentresen oder Hinterzimmer.

Die Historie liefert weltweit viel Anschauungsmaterial. Haben Sie so etwas wie einen Lieblingsprotest?

Mich beeindruckt die Bürgerrechtsbewegung in den USA: Eine Gruppe, anfangs ganz klein, hinterfragt strukturellen Rassismus und setzt ihr Leben aufs Spiel, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Es begann mit kleinen Aktionen und mutigen Menschen, wie Rosa Parks, die sich in Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem Weißen zu überlassen. Das war 1955. Der Protest erreichte in der Folge eine ungeheure Dynamik – und prägt bis heute ein ganzes Land. Das ist beispiellos.

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