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DOROTHEE BÄR
ist seit März 2018 Staatsministerin für Digitales.

Es war einmal eine Gesellschaft, die wählte sich in Netze ein, verbrachte darin einige Minuten, manchmal auch Stunden. Immer wenn man etwas Bestimmtes suchte — eine Information, ein Dokument — oder vielleicht ein Buch oder ein Küchengerät bestellen wollte, schaltete man den Computer ein und wartete auf die Verbindung. Am Ende wählte man sich wieder aus, schaltete den Rechner ab und stand vom Schreibtisch auf.

In dieser Zeit gab es zwei Welten: eine analoge und eine digitale (wobei der Begriff Digitalisierung noch nicht oder nur selten gebraucht wurde, weil man den Prozess des umfassenden Wandels noch nicht gesehen, höchstens erahnt und dann eher kleingeredet hat). Diese Trennung gibt es heute längst nicht mehr. Analog und digital sind ineinander verwoben, und eine klare Unterscheidung ist vielleicht noch an wenigen Stellen möglich, aber unnötig. Die technologische Entwicklung ist auch längst kein »entweder oder« mehr, sondern ein »sowohl als auch« sowie ein eindeutiges verbindendes »und«. Und es ist vor allem kein »gut oder schlecht«, sondern ein »je nachdem«.

Was sich etwas kryptisch anhört, meint letztendlich, dass wir in einer digitalen Gesellschaft leben, die zwar die Entwicklungen der Technologie nicht mehr aufhalten oder wegleugnen kann (warum sollte sie dies auch tun?), aber klären muss, wie sie sich selbst definiert. So wie Bewerber die Frage gestellt bekommen, wo sie sich in fünf Jahren sehen, so müssen wir als Gesellschaft jetzt versuchen zu klären, wie unser Zusammenleben in zwei, fünf, zehn oder 50 Jahren aussehen soll.

Wir werden in Zukunft nicht mehr darüber nachdenken, ob wir Handys an Schulen zulassen sollen oder wie man die digitale Infrastruktur im ländlichen Raum ausbauen könnte. Es wird nicht mehr darum gehen, wie wir mittelständische Unternehmen davon überzeugen, in die Digitalisierung ihrer Maschinen oder Prozesse zu investieren. Wir werden vielmehr darüber diskutieren, wie wir Algorithmen in unseren Alltag integrieren, und wie wir mit künstlichen Intelligenzen leben, die so selbständig handeln können, dass jedes Science-Fiction-Abenteuer dagegen wie ein Märchen aus vergangenen Jahrhunderten anmutet.

Wir werden diskutieren, wie wir mit künstlichen Intelligenzen leben.

DOROTHEE BÄR

Wir müssen Möglichkeiten erkennen, Einsatzgebiete schaffen und Grenzen errichten für eine Technologie, die uns in vielen Bereichen übertreffen wird. Wir müssen die Rollen von Mensch und Maschine neu verteilen und festlegen. Wir müssen daher gerade junge Menschen, die sich heute in der Schule, in den Universitäten oder in der Ausbildung befinden, nicht nur dazu befähigen, die technologischen Hintergründe zu erlernen und eine gewisse Medien- und Informationskompetenz zu erlangen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie Prozesse und Entwicklungen verstehen, von denen wir heute nur ahnen können, dass sie in einigen Jahren auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda stehen werden.

Um dies zu verdeutlichen, möchte ich nur das Stichwort Neurotechnologie nennen. Irgendwann wird es nicht mehr nur darum gehen, wie sich ein selbstfahrendes Fahrzeug in einem Gefahrenszenario verhalten soll, wenn alle Alternativen gleich schlecht sind. Irgendwann wird es um den Umgang mit Algorithmen und künstlicher Intelligenz gehen,  die technisch in der Lage sind, menschliche Gedanken zu lesen, zu analysieren und zu steuern. Wenn also passiert, was der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch »Homo Deus« in Aussicht stellt: das Ende des Homo sapiens und die Ablösung des Zeitalters des Humanismus durch das Zeitalter des »Dataismus«.

Das alles zeichnet keine Dystopie, sondern eröffnet einen ganzen Katalog an unglaublich spannenden, teilweise noch nie gestellten Fragen. Ein Potpourri nie gedachter Hypothesen. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft werden sich dieser Themen annehmen — das ist kein Wunsch, das ist keine Forderung, das ist eine eindeutige Vorhersage, weil uns gar keine andere Wahl bleibt. Wir brauchen ganz neue Bildungskonzepte, neues Denken über Arbeit und Zusammenarbeit — verbunden mit gesetzlichen Regelungen, die persönlichen Schutz und kreative wie unternehmerische Freiheit gleichermaßen betonen. Und wir brauchen einen Diskurs, der niemanden außen vor lässt.

Unsere Gesellschaft braucht keinen Reset. Aber wir brauchen ein Update, das nicht nur einzelne Komponenten nach und nach auf den neuesten Stand bringt, sondern unser gesamtes Betriebssystem erneuert und virensicher macht.

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