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Als kleines Mädchen wollte Ilse Jacobsen Tierärztin werden. Kein ungewöhnlicher Berufswunsch in diesem Alter. Ich war sehr tieraffin, wie viele Kinder, sagt sie. Und es gab auch ein Vorbild, Bernhard Grzimek, der langjährige Direktor des Frankfurter Zoos, der in Afrika das Leben von Wildtieren untersuchte. Löwen in der Serengeti erforschen, das wollte ich auch, erinnert Jacobsen sich. Schon früh gab es also beides bei ihr: Tierliebe und Forschungsdrang.

Inzwischen ist Ilse Jacobsen eine erfolgreiche Wissenschaftlerin. Seit vielen Jahren arbeitet sie am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie in Jena, dem Hans-Knöll-Institut. 2014 wurde sie zur Professorin an der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität ernannt. Sie ist als Expertin für pathogene, also krankmachende Pilze bekannt, die untersucht sie mit den 15 Kolleginnen und Kollegen ihrer Forschungsgruppe. Vor allem Aspergillus fumigatusund Candida albicans, Hefepilze, die lebensgefährliche Krankheiten verursachen können. Die Wissenschaftler wollen verstehen, wie sie Infektionen auslösen. Und welche Therapien es dagegen gibt. Zu ihrem Arbeitsalltag gehören Reagenzgläser, Petrischalen und Mikroskope. Außerdem: eine Mäuse-Kolonie. Im Institut leben meist 30, 40 Exemplare der Gattung Mus musculus, besser bekannt als Hausmaus.

Ilse Jacobsen trägt blaue Gummihandschuhe und hält eine schwarze Maus über dem Mäusekäfig.

Jacobsen will forschen, um heilen zu können.

Ilse Jacobsen, Jahrgang 1976, beschäftigt sich schon lange mit Tierversuchen. Es ist kein Schwerpunkt, aber sie gehören zu ihrer Arbeit dazu. Für Außenstehende ist das oft weniger selbstverständlich. Wenn es um Tierversuche geht, sind viele erst einmal schockiert. Das bemerkt Jacobsen gelegentlich, wenn sie Bekannten von ihrer Arbeit erzählt. Ich gehe nicht proaktiv damit um, das ist ja nicht unbedingt ein Partythema. Aber ich verstecke es auch nicht, sagt sie. Als Erstes höre ich oft: Was, so etwas machst du? Aber du bist doch so nett! Und so tierlieb! Wie also passen Tierversuche zu der Frau mit den langen Rastazöpfen, die seit ihrem 16. Lebensjahr Vegetarierin ist? Dann erzählt Ilse Jacobsen. Von den vielen Gedanken, die sie sich über ihre Arbeit macht. Von der Verantwortung, die sie spürt. Von ihren Abwägungen: Warum sie findet, dass Tierversuche notwendig sind.

Dass sie sich diese Gedanken macht, hat auch mit ihrem Weg in den Beruf zu tun. Aufgewachsen ist Ilse Jacobsen in Norddeutschland. Schon früh macht sie Praktika bei Tierärzten, entdeckt aber auch, dass Forschung spannend ist. Nach der Schule schwankt sie: Tiermedizin oder Biologiestudium? Heute erzählt sie lachend: Ich komme aus einem Nichtakademikerhaushalt und da war die klare Ansage meines Vaters: Mit Tiermedizin kann er etwas anfangen, das unterstützt er auch finanziell! 

Das Tiermedizinstudium in Hannover hat Jacobsen nie bereut, weil man dabei ein sehr breites Wissen bekommt. Während des Studiums verbringt sie ein Auslandsjahr in Südafrika. Dort wird ihr Interesse für Mikrobiologie geweckt: In Südafrika gibt es viel häufiger dramatische Tierinfektionen als bei uns. Zum Beispiel ist Milzbrand im Kruger-Nationalpark endemisch und betrifft dort viele Arten. Jacobsen erlebt, wie sich Löwen, Antilopen und Büffel infizieren und an Blutvergiftung verenden. Und sie merkt, wie hilflos sich Medizinerinnen und Mediziner fühlen, wenn sie gegen schlimme Infektionen nichts ausrichten können. Für Jacobsen wird das zu einem entscheidenden Antrieb. Sie will forschen, um heilen zu können.

Ilse Jacobsen mit einer weiteren Wissenschaftlerin im Labor, sie hält ein Plastiktablett mit kleinen Proben in der Hand.

Für ihre Promotion über ein PhD-Programm an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover tauchte Ilse Jacobsen noch tiefer in die Mikrobiologie ein. Sie untersuchte damals ein Bakterium namens Actionobacillus pleuropneumoniae, das bei Schweinen Lungeninfektionen auslöst. Als sie ihren ersten Tierversuch leitet, ist sie angespannt. Weil sie nun nicht nur erstmals selbst für die Organisation und ein Team verantwortlich ist. Sondern auch für die Tiere. Die Schweine werden in zwei Gruppen aufgeteilt, bei dem Versuch sollen zwei Bakterienstämme verglichen werden. Ich habe gehofft: Bitte, bitte, lass uns einen Unterschied zwischen den Gruppen sehen, damit ich diese Tiere nicht sinnlos eingesetzt habe! Und tatsächlich lieferte der Versuch gute Ergebnisse. 

2007 wechselt Ilse Jacobsen nach Jena. Am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie leitet sie dort seit 2013 ein eigenes Team, die Forschungsgruppe »Mikrobielle Immunologie«. Der Gedanke, dass jeder Tierversuch einen Sinn haben muss, begleitet sie noch immer. Jacobsen sagt, sie erinnere sich an jeden Test, den sie an Tieren durchgeführt hat. Nur die Aufregung habe sich irgendwann gelegt. Man wird sicherer, weil man mehr Erfahrung hat. Man kann auf unvorhergesehene Situationen besser reagieren und Lösungen finden.

Verantwortung heißt für Ilse Jacobsen auch: hochkonzentrierte Begleitung jedes einzelnen Versuchs. Ich muss in so einer Situation 180-prozentig funktionieren. Zur Vorbereitung gehört die Überlegung: Braucht man für diesen Versuch überhaupt Tiere? Das sei vom Projekt abhängig, sagt die Wissenschaftlerin. Es gibt Untersuchungen, bei denen gar keine Tierversuche involviert sind. Bei anderen sind wir komplett auf Tiermodelle angewiesen. Ein Beispiel sei die Erforschung des aus Billionen von Pilzen und Bakterien bestehenden Mikrobioms. So etwas könne man nicht in der Petrischale nachstellen, weil erst in einem Versuchstier die vielfältigen Interaktionen mit Blutkreislauf und Stoffwechsel sichtbar werden.

Ich muss in so einer Situation 180-prozentig funktionieren.

ILSE JACOBSEN

Blick von oben in einen Käfig, in dem sich vier schwarze Mäuse auf im befinden.

Alles muss sauber und solide ablaufen, damit die Tiere nicht unnötig leiden.

Auch Bürokratie gehört dazu. Vor jedem Tierversuch müssen umfangreiche Anträge gestellt werden. Genehmigt werden sie durch das zuständige Landesamt für Verbraucherschutz, das sich mit einer Ethikkommission berät. Wenn die Versuche laufen, kontrollieren die Behörden stichprobenartig und unangekündigt, ob die Tierschutzvorgaben eingehalten werden.

Die Versuchsmäuse, die extra für solche Versuche gezüchtet werden, leben in einem Raum im Keller des Instituts, in Boxen, die denen in einer Tierhandlung ähneln. Jede Box ist mit einer Nummer versehen. Nebenan sind Laborräume, Neonlicht, Klinikatmosphäre, überall medizinische Geräte, in der Mitte ein Arbeitstisch, auf dem die Mäuse behandelt werden. Für die Versuche werden die Tiere mit pathogenen Pilzen wie Candida albicans infiziert, die ihnen zum Beispiel in die Vene im Schwanz gespritzt werden.

Es gibt schon vor diesem Punkt viele Versuche, die mit Zellkulturen durchgeführt werden. Aber, um das komplexe Geschehen in einem Wirt zu beobachten, seien Tierversuche notwendig, sagt Ilse Jacobsen. Die gesammelten Ergebnisse sollen helfen, den Verlauf der Infektion noch besser zu verstehen und Therapien zu erforschen. Das ist zum einen durch die Beobachtung des laufenden Versuchs möglich, aber auch im Anschluss, wenn die Mäuse eingeschläfert worden sind, geht die Forschung weiter. Die toten Mäuse werden seziert, um herauszufinden, welche Immunreaktionen zwischen den Pilzen und den Organen der Tiere stattfinden. Wie stark ist der Befall im erkrankten Tier? Wie gut schlagen Therapiemethoden an?

Wenn ein Versuch läuft, wird jede kleine Veränderung der Tiere beobachtet und täglich dokumentiert. Die Tiere werden gewogen und begutachtet. Sind sie fidel oder apathisch? Ist ihre Verdauung intakt? Haben sie klare oder trübe Augen? Alles muss sauber, solide und technisch vernünftig ablaufen, damit die Tiere nicht unnötig leiden, sagt Jacobsen. In der Regel leben die Mäuse einige Wochen lang, dann werden sie durch eine Narkose eingeschläfert, sodass Herz und Atmung aussetzen. Eingeschläfert wird ab »moderater Belastung«, erklärt Jacobsen. Unnötiges Leid werde den Tieren nicht zugemutet, sagt sie. Der Versuch werde beendet, wenn die Tiere erkrankt sind, aber noch nicht zu sehr leiden. Dieser Zustand ist vergleichbar mit dem Krankheitsgefühl eines Menschen bei einer Grippe. Ab diesem Punkt nehmen wir die Tiere raus.

Im Labor hantiert eine Wissenschaftlerin mit Metallzangen und untersucht etwas Rötliches.
Eine Hand mit blauem Plastikhandschuh hält ein kleines Reagenzglas mit roter Flüssigkeit.

Wenn ein Tierversuch läuft, sei sie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer erreichbar, auch an Wochenenden. Für Notfälle, falls es einer Maus unerwartet schlecht geht, oder ein Mitarbeiter Rat braucht, um eine Lage richtig einzuschätzen. Ich bin für die Versuchstiere verantwortlich und auch für mein Team. Man kann Tierschutz und Tierversuche nur gut umsetzen, wenn man ein offenes Arbeitsklima hat und über alles sprechen kann.

In der Öffentlichkeit gibt es wenig vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Thema Tierversuche, das ist zumindest Jacobsens Eindruck. Und wenn, dann würden meist negative Bilder und Assoziationen eine Rolle spielen: Gequälte Tiere, die vom Menschen für seine Zwecke missbraucht werden, dies sei eines der häufigsten Narrative. Es werde auch von Tierschutzorganisationen geprägt, die auf Missstände aufmerksam machen, teils mit drastischen Darstellungen. Zu einseitig findet Ilse Jacobsen diese Perspektive. Es ärgert mich, wenn Forscher, die Tierversuche durchführen, als herzlos und verantwortungslos dargestellt werden, sagt sie. Es heißt nicht, dass es solche Leute nicht gibt. Aber auf die Leute, die ich kenne, trifft das nicht zu.

Tierschützer argumentieren häufig, dass es keine Tierversuche mehr brauche, um Forschung zu betreiben, es gäbe schon genug Wissen und Medikamente. Kosmetik etwa darf in Deutschland seit 2004 nicht mehr an Tieren getestet werden. Seit 2013 gilt in der EU ein Verkaufsverbot für Kosmetik, bei der Tierversuche eingesetzt werden. Das findet Ilse Jacobsen richtig. Für Grundlagenforschung und die Untersuchung von Krankheitserregern wie Hefepilzen und Behandlungsmöglichkeiten seien solche Versuche allerdings noch immer notwendig, sagt sie. Erst in ferner Zukunft könnte sich das ändern: Es ist möglich, dass Tierversuche in 30, 40 Jahren nicht mehr gebraucht werden, falls wir dann vielleicht den Menschen im Labor nachbauen können. Aber bisher sind zu viele unbekannte Vorgänge im Spiel, die wir noch nicht verstehen. Deshalb seien nach wie vor Versuchsreihen mit Tieren notwendig, deren biologische Strukturen dem Menschen ähneln.

Es ärgert mich, wenn wir Forscher als herz- und verantwortungslos dargestellt werden.

Ilse Jacobsen im blauen Kittel vor einem großen Metallkasten mit Glasscheibe. Sie hält eine schwarze Maus in dem Kasten über einem Käfig.

Vor einigen Jahren hat Ilse Jacobsen begonnen, ihre Forschung an Tieren auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise zu erklären. Ich werde nicht dafür bezahlt, Öffentlichkeitsarbeit für Tierversuche zu machen, aber ich sehe es als meine Verantwortung, als Beitrag zur Wissenschaftskommunikation, sagt sie. Ich mache Tierversuche und stehe dahinter. Ich kann das ethisch vertreten. Das heißt für mich auch, ich muss bereit sein, darüber zu sprechen. Sie hat Interviews gegeben, Fernsehteams durch ihr Labor geführt, außerdem engagiert sich Jacobsen in der Informationsinitiative »Tierversuche verstehen«. Anfangs ist sie vorsichtig, weil sie nicht weiß, welche Reaktionen solche Beiträge nach sich ziehen würden. Sie sorgt sich, dass sie und ihr Team angefeindet werden könnten. Doch glücklicherweise bleibt es ruhig. Stattdessen gibt es positive Reaktionen von Kolleginnen und Kollegen. Es haben mir einige geschrieben: Danke, dass mal jemand über dieses Thema spricht. Zu häufig sei es noch ein Tabu.

Ilse Jacobsen wünscht sich mehr Offenheit, wenn es um Tierversuche geht. Dass mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären, wie sie in ihren Laboren arbeiten. Wenn jemand in Deutschland fordert, dass wir hier keine Tierversuche mehr durchführen sollen, hieße das auch, dass sich Tierversuche in andere Länder verlagern, wo die Gesetze und Kontrollen nicht so streng sind wie bei uns. Wo Tiere womöglich viel mehr leiden.

Jacobsen hat es nie bereut, dass sie sich für die Forschung entschieden hat. Und auch die Tierliebe ist geblieben. Bei ihr zuhause schwimmen etwa 20 rot-weiß gemusterte Süßwassergarnelen durch das Aquarium, das in ihrem Wohnzimmer steht. Ilse Jacobsen schaut ihnen gern dabei zu, das entspannt sie. Gern hätte sie mehr Haustiere, einen Hund oder eine Katze. Doch ihr fehlt die Möglichkeit, sich anständig darum zu kümmern, sagt sie. Sie verbringt einfach zu viel Zeit im Institut.

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