Hinter Dániel Cadar ist die Welt betoniert, blau-rote Kräne vor Hamburger Grau, Frachtschiffe gleiten vorbei. In dem Fensterquadrat seines Büros konnte Cadar dem Hafen in den vergangenen Jahren beim Wachsen zusehen. Es ist extrem schade, dass wir es nicht schaffen, unseren Einfluss auf die Natur zu reduzieren.
Die Schultern des Virologen hängen, sein Gesicht wirkt müde von einem Vormittag in Meetings. Unter Forschenden sprechen sie in letzter Zeit viel vom One-Health-Konzept. Es besagt, dass die Gesundheit von Mensch und Natur zusammenhängt. Ist der Planet krank, sind auch wir krank.
Doch wenn Dániel Cadar von seiner jüngsten Forschungsreise erzählt, verschwinden das Büro und die Kräne vorm Fenster. Die Luft wird warm und feucht. Ein Boot reist den Río Bobonaza herunter, mitten hinein ins Herz des ecuadorianischen Regenwaldes. An Bord des Einbaums, der das Wasser durchpflügt, sitzt Cadar selbst, inmitten eines Forschungsteams. Er hat sich vorbereitet, Kleidung für den Dschungel und Moskitonetze gekauft. Seine Familie ist nicht sonderlich glücklich über das Abenteuer. Die Ungewissheit − vielleicht hat man tagelang keinen Kontakt? Doch Cadar fühlt vor allem Freude. Für ihn ist es wie das erste Mal auf dem Mond
. Er wird dorthin gehen, wo noch kein Virologe war.
Seit mehr als zehn Jahren arbeitet Cadar am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM), er forscht dort zu Krankheiten, die von Stechmücken, Zecken und anderen Tieren auf Menschen übertragen werden, sogenannte Zoonosen. In Ungarn studierte er davor Tiermedizin, sah sich für seine Diplomarbeit neuartige Viren in Schweinen und Wildschweinen ansah. Wie eine Spirale
habe ihn die Faszination für diese Erreger weiter in die Forschung geführt. Die Virologie steht unter Druck, sagt Cadar: Globalisierung, Klimawandel und die Zerstörung der Natur führen dazu, dass wir den Wildtieren mit ihren Viren immer näherkommen.
In nie dagewesener Geschwindigkeit verbreiten sich Viren weltweit. Cadar sagt: Mit Umweltüberwachung können wir verhindern, dass Krankheiten ausbrechen und sich verbreiten.
Er wiederholt es wie ein Mantra: Überwachung, um eine bessere Kontrolle zu haben.
Doch wie soll man den gesamten Globus überwachen? Häufig sind es unzugängliche Gebiete, in denen Erregern der Sprung vom Tier auf den Menschen gelingt. Dorthin zieht es Cadar: Es ist sehr wichtig, dass wir wissen, wo potenziell gefährliche Erreger zirkulieren.
Vor fünf Jahren nimmt er Kontakt zu Forschenden in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito auf, die Fledermäuse untersuchen. Eine Forscherin erzählt ihm von den Kichwa, einer indigenen Gemeinschaft, die alle zwei Jahre für ihre traditionelle Jagd tief in den Urwald vordringt. Vielleicht können die Forschenden ihre Beute untersuchen?
Cadar lehnt sich zurück, imitiert wie sprachlos er damals war. Der Amazonas ist schon an vielen Stellen von Menschen zerstört worden, aber dieser Teil ist eine autonome Region.
Anfang der 2000er Jahre waren die Kichwa von Ölkonzernen bedroht worden. Sie gingen vor Gericht – und gewannen. Niemand hat ohne ihre Erlaubnis Zugang, weder staatliche Vertreter noch das Militär.
Cadar erkennt damals die Chance, in einer Region zu forschen, in der die Natur noch unberührt ist. Zugleich gibt es dort durch die Jagd der Kichwa alle zwei Jahre eine Schnittstelle mit dem Menschen. Diese Kombination macht den Regenwald der Kichwa zu einem Ort, an dem vielleicht neue Infektionskrankheiten ausbrechen könnten. Das ist Ende Januar 2020. Europa meldet gerade die ersten Coronafälle.
Cadar fällt wieder ins Erzählen: Der Einbaum fährt in den Sand auf. Es gilt, schnell die Sachen zu entladen, ihre Gastgeber, eine Familie aus dem Dorf, hat bereits das Abendessen zubereitet. Und das Ritual, das sie alle verbinden soll. In einer Schale reicht sie Cadar und den anderen Forschenden eine gelblich-stückige Brühe: Chicha. Dafür werden Maniokwurzeln gekocht, zerkaut und mit Wasser vermischt. Durch den Speichel gären die Pflanzenfasern. Cadar erinnert das Getränk an Joghurt, recht erfrischend eigentlich. Er hat keine Zeit, darüber nachzudenken, dass es schonmal in einem fremden Mund war. Chicha muss man runterkippen. Nonstop.
Die Kichwa sagen, dass Chicha den Kontakt zwischen Menschen aufbaut, Diskussionen initiiert, sie einander näherbringt. Ihr Verständnis von der Natur ist ähnlich wie im Film Avatar
, erzählt Cadar. Sie leben inmitten von ‚Mama Natur‘, wie sie sie nennen, ihre Seelen haben Kontakt zu ihr.
Sie spüren intensiv, wie sie von allen Seiten zerschnitten wird und langsam, aber sicher aus dem Gleichgewicht gerät. Am ersten Abend kann Cadar nicht einschlafen, obwohl er müde ist. Er liegt wach, denkt an die Schlangen, die Fledermäuse, die Mücken, die Zecken. Er hört den Wald, ist gefüllt mit Adrenalin.
Selbst jetzt in seinem Büro, wenn er von seinen Tagen im Dorf erzählt, scheint Cadar das Gefühl für Zeit zu verlieren. Im Dschungel fragt niemand nach der Uhrzeit.
Die Oberhäupter der Kichwa bitten ihn und seinen Kollegen vom Institut in Hamburg zu sich. Sie haben einen Termin, der aber immer wieder verschoben wird. Zeit ist relativ. Ein Sprecher des Dorfes kommuniziert mit ihnen. Die Wissenschaftler erklären ihm, dass neben bekannten Erregern wie Dengue, Gelbfieber und Malaria noch andere Viren im Urwald lauern könnten. Wenn die Viren in den Tieren seien, die sie bei ihrer Jagd töten und dann verzehren, könnte dies das Dorf gefährden.
Globalisierung, Klimawandel und die Zerstörung der Natur führen dazu, dass wir den Wildtieren mit ihren Viren immer näherkommen.
DÁNIEL CADAR
Die Kichwa sind interessiert an dem Forschungsvorhaben. Ihr Sprecher erklärt, dass tatsächlich bereits junge Menschen ihrer Gemeinschaft − erst 20, 30 Jahre alt − an etwas Unbekanntem gestorben seien. Wird jemand krank, behandeln die Kichwa ihn mit Heilpflanzen und traditionellen Riten. Wenn das nicht hilft, bringen sie die erkrankte Person in die Stadt. Dániel Cadar sagt: Im Falle eines unbekannten und neuartigen Erregers kann genau das schon zu einem lokalen Ausbruch führen.
Auch die Jagd verschieben die Kichwa um ein paar Tage. Die zwei Forscher vom BNITM können nicht länger bleiben – sie würden sonst ihren Rückflug verpassen. Das ecuadorianische Forschungsteam bricht mit den Jägern auf, tief in den Dschungel. Cadar zeigt einige Fotos, die seine Kollegen ihm geschickt haben.
Eine Räucherhütte mitten im Regenwald, an der das Team wartet. Kehrt ein Jäger mit drei, vier Tieren zur Hütte zurück, nehmen die Forschenden schnell Gewebe- und Blutproben, bevor die Beute zum Räuchern aufgehängt wird.
Ein toter Affe liegt auf dem Boden, aus der aufgeschlagenen Nase läuft ein dunkles Rinnsal. Viren können in Wirtstieren unbemerkt zirkulieren, ohne dass diese Symptome zeigen. Oft bricht die Krankheit erst aus, wenn Menschen mit dem Erreger in Kontakt kommen – zum Beispiel über den Stich einer Stechmücke oder wenn sie infiziertes Fleisch essen.
Die Rückkehr der Jäger ins Dorf nach Abschluss der Jagd. Auf ihren Köpfen tragen sie Tukane mit ihren prächtig gefärbten Schnäbeln als Trophäe. Ihre Boote sind bis zum Rand gefüllt mit Tieren.
Das Uyantza-Fest beginnt im Dorf. Überall Chicha. Menschen lachen, feiern, die Jäger tanzen in den Häuten ihrer Beute. Schalen mit undefinierbaren, dunklen Fleischstücken in Brühe reihen sich auf dem Tisch. Cadar betrachtet die Fotos: Wenn auch nur ein Tier einen Krankheitserreger in sich trägt, wenn nur ein Mensch infiziert wird – dann könnte ein lokaler Ausbruch beginnen, die Krankheit könnte sich sogar weiter ausbreiten.
Nach dem Fest bringt das ecuadorianische Team die Proben direkt nach Quito, kühlt sie auf minus 80 Grad Celsius herunter – und sendet sie dann doch nicht nach Deutschland. Es bricht ein Virus aus, aber keines aus ihren Proben. COVID-19 bringt die Welt zum Stillstand. In Hamburg sitzt Dániel Cadar und wartet auf ein Paket aus Ecuador, in dem vielleicht noch etwas lauert.
Anfang 2023 kommen die 150 Gewebeproben aus dem Regenwald endlich bei ihm an. Cadars Team extrahiert die DNA und RNA an sterilen Laborbänken. Im Nachbarraum geben die Forschenden den Extrakt auf Träger, die sie in ein Gerät legen, das wie ein Drucker aussieht. Es ist Cadars größter Stolz: Der NextSeq 2000-Sequencer – hunderte Proben können wir darin gleichzeitig sequenzieren.
Die Maschine macht die Millionen oder sogar Milliarden von Nukleotiden in der Virus-DNA sichtbar, ein nie dagewesener Umfang. Abends, wenn Cadar länger arbeiten muss und vor dem Zubettgehen mit seinem sechsjährigen Sohn telefoniert, fragt dieser genau danach: Papa, zeigst du mir dieses Supergerät, mit dem du die Viren erforschen kannst?
Er lehnt sich zurück: Wir haben dort sehr aufregende neue Viren gefunden.
Sie gehören zu einer Familie von Viren, von denen einige bereits Erkrankungen in Menschen und Tieren hervorgerufen haben. Für Cadar sind es Proben, wie aus einer Goldmine
: Einige der untersuchten Tiere stehen auf der Roten Liste und sind streng geschützt. Nur wegen der Kichwa, die in ihrem Regenwald souverän entscheiden und die Proben der Wissenschaft spenden, können die Forschenden diese Viren untersuchen.
In Cadars Büro am Hamburger Hafen füllt mittlerweile ein grüner Balken den extrabreiten Panoramabildschirm, nutzt die gebogene Oberfläche voll aus. Ein Virusgenom. Cadar zoomt in den Balken hinein. In einer schier endlosen Kette reihen sich die Buchstaben G, T, A und C aneinander. Der Forscher vergleicht das Genom mit den Genen bereits bekannter Viren. Gibt es Ähnlichkeiten zu pathogenen Viren? Er öffnet die Darstellung eines sogenannten phylogenetischen Stammbaums: In den Verzweigungen stehen die Virusfamilien, die sie bereits in den Proben gefunden haben. Manche sind rot markiert. Rot signalisiert eine Ähnlichkeit mit bereits bekannten, krankheitserregenden Viren. Sein Team müsse die Proben noch besser untersuchen, um zu verstehen, ob ihre Funde wirklich eine Gefahr darstellen. Sie werden die Viren in Zelllinien von Insekten und Wirbeltieren einschleusen. Vermehren sich die Erreger, kann Cadars Team daraus ableiten, ob sie Menschen oder Tiere infizieren könnten.
Nächstes Jahr will Cadar nach Ecuador zurückreisen und den Kichwa berichten, welche Viren sie in den Beutetieren gefunden haben. Was die Kichwa mit diesem Wissen anfangen, werden sie selbst entscheiden. Die Jagd der Kichwa könnte zwar der Auslöser für einen Krankheitsausbruch sein – aber sie ist nicht unbedingt der Grund, erklärt Cadar. Menschliche Aktivitäten zerschneiden den Amazonas auch an vielen anderen Stellen. Der Klimawandel verändert den Lebensraum wildlebender Arten, Mücken, Fledermäuse und Nagetiere werden in neuen, möglicherweise besiedelten Lebensräumen auftauchen. Die Kichwa sind am wenigsten verantwortlich für diese aus dem Gleichgewicht geratene Natur, sie leben nur genau dort, wo die Folgen besonders deutlich spürbar werden. Cadar macht eine Pause.
Macht ihm der Ausbruch neuer Krankheiten Angst? Wir müssen vorbereitet sein.
Mit ihren Methoden und Technologien können die Forschenden Viren heute so schnell detektieren wie nie zuvor. Cadar erzählt, dass sie kleine Sequenzierungsgeräte nach Ecuador bringen wollen, mit denen das dortige Team bei einem Ausbruch schnell Proben untersuchen könnte. Genau dort, wo Mensch und Wildnis aufeinandertreffen, brauche es Kooperationen. HIV, Dengue-Fieber, Influenza, Zika – für Cadar steht fest, dass Corona kein Einzelfall war. Er ist sich sicher: Eine neue Pandemie wird kommen. Die Frage sei nur, wann.