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REINT E. GROPP
ist seit November 2014 Präsident des
Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle und Inhaber eines Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

Reint Gropp ist schuld an der Finanzkrise 2008, und heute verwaltet er ihr Erbe. Eine Menge Kümmernis also, aber Gropp ist erstaunlich vergnügt, als er von seinem Schreibtisch im Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) aufsteht und sich auf den Weg zu einem Ort deutscher Bankengeschichte macht. Vielleicht hat das Vergnügen des Volkswirts und IWH-Präsidenten damit zu tun, dass sein Schuldeingeständnis ein Scherz ist und die Verwaltung des Erbes ein »unheimlich interessanter Job«. Weil er mitgestalten kann, wie wir zehn Jahre nach der Krise mit ihren Folgen umgehen.

Ganz zu Beginn des Jahres 2007 beschleicht Gropp eine erste Ahnung. In dieser Zeit ist er stellvertretender Leiter der Forschungsabteilung für Finanzwirtschaft bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main, und er und seine Kollegen spüren, dass etwas schiefläuft an den internationalen Finanzmärkten. Experten bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel vermuten, dass es mit der Flut an Krediten zu tun haben könnte, die immer schneller anschwillt.

Jahre später wird Gropp sagen, ihre Sorge sei berechtigt gewesen — aber sie hätten die falschen Argumente gehabt. An den Märkten macht man sich keine Sorgen. Die Geschäfte laufen gut. Risiken, so glauben die Anleger, gibt es nicht. Politiker, Banker, Journalisten, Wirtschaftswissenschaftler: So gut wie niemand sieht den Crash kommen.

Im Februar 2007 verlässt Reint Gropp die EZB. Fortan forscht er an der Frankfurter Goethe-Universität. Bald darauf wird die Krise für alle sichtbar: Millionen Amerikaner verlieren ihre Häuser, Immobilien werden im Minutentakt zwangsversteigert, weil die Eigentümer ihre Kredite nicht bedienen können. Von »faulen« Krediten wird gesprochen, weil die Banken sie massenhaft an nahezu mittellose Menschen vergeben hatten — jahrelang gefördert vom Staat. Sie mischten die Hauskredite in komplizierte Finanzprodukte und verkauften sie an Banken in aller Welt. Als nun die Immobilienblase platzt, fliegen ihnen die Kredite um die Ohren.

Im September 2008 meldet die amerikanische Bank Lehman Brothers Insolvenz an. Ein Traditionshaus, 1851 von zwei Brüdern aus Franken gegründet, fast 30.000 Angestellte. Das ist er, der große Knall. Mit 182 Milliarden Dollar retten die USA noch das Versicherungsunternehmen AIG. Die Krise können sie nicht aufhalten.

»Die Krise hat es selbstverständlich nur gegeben, weil ich von der EZB weg bin«, sagt Reint Gropp. Und das ist er natürlich, der Scherz. Im Spätsommer 2018 ist er jetzt im Keller des halleschen Literaturhauses angekommen und schiebt die Tür zu einem längst nicht mehr genutzten Tresorraum auf. Der 51-Jährige hat hierhin eingeladen, weil es ein Ort ist, an dem es sich gut darüber reden lässt, wie fragil das Finanzsystem schon immer war.

Um 1900 lebt in der Villa eine Bankiersfamilie, dann wird sie Sitz einer Sparkasse. Damals konzentrieren sich viele Banken auf einen engen Kundenkreis. Die mehr als 70 Geldhäuser im Finanzzentrum Halle heißen »Hallesche Viehmarktsbank« oder »Hausbesitzerbank« und kennen sich in ihrer Nische gut aus. Von solchen lokalen Geschäftsbeziehungen sind die heutigen Großbanken und ihre internationalen Transaktionen weit entfernt. Immun gegen Erschütterungen ist aber auch die alte Finanzwelt nicht: Nach dem »Schwarzen Freitag« 1929 verschwinden die meisten Geldinstitute aus Halle, heute hat hier keines mehr seinen Sitz.

Reint E. Gropp in einem Sessel sitzend. Schwarzweiß-Fotografie.

Reint Gropp wird im November 2014 Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Er untersucht, welche Folgen der Finanzkrise von 2008 noch zu spüren sind. Unmittelbar nach der Pleite von Lehman Brothers ist die Welt schockiert: Banken werden abgewickelt, teilweise oder ganz verstaatlicht. Das Fernsehen zeigt Menschen, die den Inhalt ihrer Schreibtischschubladen in Pappkartons aus Bürogebäuden tragen.

Weltweit kostet die Krise laut der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen 30 Millionen Arbeitsplätze. Auch in Deutschland, das vergleichsweise glimpflich davonkommt, melden viele Industrieunternehmen Kurzarbeit an. Mehrere europäische Staaten schlittern 2010 in eine Schuldenkrise. Die Europäische Union schnürt ein milliardenschweres Rettungspaket nach dem anderen. Und streitet fortan um die Lehren aus der Krise: Braucht es eine gemeinsame europäische Finanzpolitik? Ein gemeinsames Budget?

Die globale Erschütterung spüren viele Unternehmen im Kleinen, bis heute. Um sie zu erfassen, wertet Reint Gropp zum Beispiel Firmenbilanzen aus und gleicht sie mit Daten ab, die Banken ihm zur Verfügung stellen. So findet er heraus, welche Bank welchem Unternehmen Kredit gewährt hat, für wie lange und zu welchen Konditionen. In der Krise, sagt er, hätten Unternehmen nur schwer Kredite aufnehmen können, denn die Banken waren selber klamm. Frisches Geld bekam man — wenn überhaupt — nur zu hohen Zinsen. Betroffene Firmen hätten bis heute geringere Umsätze und weniger Anlagevermögen. »Die langfristigen Effekte sind sehr groß«, sagt Gropp. Die zwei wichtigsten Fragen zehn Jahre nach dem Crash lauten deshalb: Kann das wieder passieren? Und wären wir gewappnet?

Derzeit hört man sie überall, die Warnungen vor dem nächsten Knall. Anlässe gibt es viele: Die hohe Staatsverschuldung in Italien. Die Inflation in der Türkei. Der boomende Immobilienmarkt in Deutschland. William White, einst Chefvolkswirt der Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, mahnte kürzlich, dass die Ursachen der Krise von 2008 nicht behoben seien. Noch immer seien viele Banken zu groß, als dass Regierungen eine Pleite zulassen könnten. Die Verschuldung der Unternehmen sei sogar noch gewachsen, vor allem in Schwellenländern.

Solange wir uns Sorgen machen, sind Krisen unwahrscheinlich.

REINT GROPP

Gropp dagegen glaubt nicht, dass es so schnell eine neue Krise geben wird, mahnt aber zu Wachsamkeit. »Solange wir uns Sorgen machen, sind Krisen eher unwahrscheinlich. Wir passen besser auf, achten auf uns bekannte Anzeichen, werden zur Not aktiv.« Dieses institutionelle Gedächtnis sei ein Erbe der Finanzkrise. Und wenn es darum gehe, neue Krisen zu vermeiden, ganz sicher nicht das unwichtigste.

»Nach 2008 mussten wir außerdem lernen, die Auswirkungen einer weltweiten Krise zu mildern.« Den Größenwahn der Banker dürfe nicht der Fabrikarbeiter ausbaden. Diesem Ziel sei man schon etwas nähergekommen, zum Beispiel weil die Europäische Bankenunion neue Regeln beschlossen habe. Geht heute eine Bank pleite, muss nicht der Steuerzahler dafür aufkommen, sondern die Bank und ihre Aktionäre. »Große Anteilseigner haben ein vitales Interesse daran, dass die Bank sich ordentlich benimmt.«

Gropp hat schon einige Krisen gesehen. 1997, als die Asienkrise ausbricht, arbeitet er beim Internationalen Währungsfonds, für den er nach Thailand reist. Im Vorfeld der Krise herrscht dort Hochstimmung, die Händler sind geradezu besessen von dem Gedanken, nichts könne schiefgehen. 2008 beobachtet Gropp dieselbe Stimmung. »Aber es hat sich keiner mehr erinnert, was ihr in Asien folgte.«

Niemand will vor dem Kater warnen, wenn eine Party gerade besonders schön ist. »Wir müssen einfach in Betracht ziehen, dass Menschen so sind«, sagt Gropp. Wenn die Konkurrenz mit Produkten, die man eigentlich für dubios hält, Gewinne macht, will man irgendwann trotzdem mitverdienen. »Das ist eine wichtige Zutat für Krisen.«

Auch der Staat kann Krisen befördern. Zum Beispiel durch gutgemeinte Interventionen. Vor 2008 fördert die US- Regierung Banken, die Kredite an Arme vergeben. Die Idee: Hausbesitzer kümmern sich mehr um ihre Nachbarschaft, die Kriminalität nimmt ab. Doch gleichzeitig wächst die Immobilienblase.

Und noch eine Krisenzutat nennt Gropp: fehlende Regulierung. Seit der Krise übernehmen immer häufiger Firmen Teile von Bankgeschäften — ohne überhaupt Banken zu sein. Weil viele von ihnen technologische und digitale Finanzdienstleistungen anbieten, werden sie »FinTechs« genannt. »Was keine Bank ist, wird auch nicht als Bank reguliert«, sagt Gropp. »Diese Geschäfte könnten eine neue Krise auslösen.« Und der Anreiz, auf diese Art Geschäfte zu machen, werde umso größer, je stärker der klassische Bankensektor reguliert sei.

Alle Lenkungsmaßnahmen und ihre Folgen sollten deshalb von Beginn an geprüft werden. Nicht von den Regulierern selbst: »Entscheidend ist, dass Forscher Zugang zu allen relevanten Daten bekommen und sich Aufsichtsbehörden nicht hinter vorgeschobenen Datenschutzbestimmungen verschanzen können.« Im Moment, warnt Gropp, fahren Aufseher und Politik blind.

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