leibniz

LEIBNIZ Wenn man vor ein paar Jahren über den Weltraum gesprochen hat, ging es ums Entdecken, um unendliche Weiten. Heutzutage liest man vor allem Berichte über immer höher, schneller und weiter fliegende Raketen, zuletzt sogar über Anti-Satellitengeschosse. Herr Schörnig, Sie forschen seit Jahren in diesem Bereich. Was passiert da gerade?

NIKLAS SCHÖRNIG Eine ganze Menge. Vor allem werden immer mehr Satelliten hochgeschossen. Und das längst nicht mehr nur von Staaten, sondern neuerdings auch von zivilen Akteuren wie SpaceX. Allein das Unternehmen von Elon Musk hat in den letzten Jahren um die 4000 Satelliten ins All geschossen, um ein weltumspannendes Kommunikationsnetz aufzubauen. Seit 2021 befördern amerikanische Firmen sogar regelmäßig Privatpersonen ins All. Hinzu kommen die von Ihnen genannten Berichte über neue Raketen und Waffensysteme, etwa die Anti-Satellitenwaffen. Das zeigt, dass auch Staaten den Weltraum wieder neu für sich entdeckt haben. Im Weltall wird es langsam ziemlich voll.

Können Sie die Enge beziffern?

Wenn wir auf die erfolgreichen Raketenstarts seit 2015 schauen, sind das 274 von den USA und 277 von China. An der Spitze haben wir also ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Dann kommt Russland mit 146 Starts, es folgen Europa mit 83, Indien mit 38, Neuseeland mit 30 und Japan mit 29 Starts. Und es werden immer mehr. Allein ein ziviler Akteur wie SpaceX schießt momentan statistisch gesehen jeden sechsten Tag eine Rakete ins All.

Das ist ja Wahnsinn: Alle sechs Tage eine Rakete. Kann das nicht gefährlich werden?

Das wird sogar sehr gefährlich, und zwar auf mehreren Ebenen. Dafür sollten wir zwei Kategorien unterscheiden: Safety und Security. Im Deutschen heißt zwar beides Sicherheit, aber Safety meint im Grunde alles, was durch Unfälle passieren kann, also Gefahren, die ohne böse Intentionen entstehen. Wegen der vielen Satelliten drohen vermehrt Zusammenstöße. Hier muss die internationale Gemeinschaft dringend koordinierend eingreifen, denn alle Staaten haben im Kern ein Interesse an einer kooperativen Lösung.

Und die zweite Kategorie?

Bei Security geht es um Fälle, in denen Akteure böswillig handeln und Satelliten oder auch Bodenstationen anderer Staaten mutwillig angreifen würden.

Ein Militär ohne Satelliten ist seinen Gegnern deutlich unterlegen.

NIKLAS SCHÖRNIG

Niklas Schörnig
Der Politikwissenschaftler Niklas Schörnig. Foto HSFK

Wer sind hier die wichtigsten Akteure?

Die potenziellen Bösewichte sind die üblichen Verdächtigen: die USA, Russland, China und die EU. Außerdem gibt es inzwischen bis zu 90 weitere Staaten, die im Weltraum militärisch engagiert sind – und sei es nur mit einem Satelliten – zum Beispiel Neuseeland, Israel, Iran, Nord- und Südkorea.

Und wer genau ist jeweils zuständig, beispielsweise in den USA?

Im Falle der USA ist es die US Space Force.

Im Ernst? Das klingt ein bisschen wie Star Trek.

Ja. Donald Trump hat 2017 die Gründung einer US Space Force angekündigt, zwei Jahr später war es dann soweit. Und zu Star Trek: Schauen Sie sich mal das Logo der US Space Force an. Die haben das schamlos bei Star Trek abgekupfert. Mr. Spock würde sagen: Faszinierend! Aber im Ernst: Das sind natürlich keine Weltraumsoldaten mit Laserwaffen – es geht vor allem um die Beobachtung des Weltraums und den Schutz der eigenen Satelliten und der dazugehörigen Bodenstationen. 

Wie verhalten sich Europa und Deutschland?

Sie haben erstaunlich schnell nachgezogen. Mitte 2021, also nur anderthalb Jahre nach den USA, hat man zum Beispiel auch in Deutschland ein Weltraum-Kommando aufgestellt und die bereits mit Weltraumfragen befassten Einheiten unter einem Dach zusammengefasst. Anders als in den USA gehört das Kommando formell aber immer noch zur Luftwaffe. Aber es zeigt trotzdem, wie wichtig der Weltraum auch in Deutschland genommen wird. Das hat eine starke Symbolik, wenn man sagt: Wir wollen eigene Militäreinheiten, die sich dezidiert um den Weltraum kümmern.

In den vergangenen Jahren prägten vor allem Sparprogramme die Raumfahrt. Wieso interessieren sich Staaten wieder neu für den Weltraum?

Hier gibt es zwei Gründe: Zum einen wird ernsthaft darüber nachgedacht, Ressourcen im Weltraum zu fördern. Das ist nicht mehr Science-Fiction, sondern mittelfristig durchaus realistisch. Außerdem hat man spätestens seit dem Golfkrieg 1991 erkannt, dass der Weltraum von entscheidender militärischer Bedeutung ist. Durch Satellitenkommunikation, -aufklärung und -navigation können sämtliche Truppen optimal aufeinander abgestimmt eingesetzt werden. Es wird ein »System der Systeme« aufgebaut, das es der militärischen Führung ermöglicht, individuell gesammelte Informationen in einem übergreifenden Lagebild zusammenzuführen. Alles wird über dieses System koordiniert: Drohnen, Flugzeuge, die Navigation an Land. Ein Militär ohne Satelliten ist seinen Gegnern heute deutlich unterlegen.

Sie haben jetzt von den militärischen Möglichkeiten gesprochen. Was sind die Gefahren?

Wie eingangs angedeutet: Wir sehen aktuell ein sehr, sehr großes Interesse an Anti-Satelliten-Technologien. Sie können Satelliten manipulieren, stören oder sie sogar zerstören – und so auf das System der Systeme einwirken. Manche Technologie, die gegen Satelliten eingesetzt werden kann, ist Dual-Use. Sie können also zivil und militärisch genutzt werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Es wird zum Beispiel sehr aktiv an Technologien gearbeitet, mit denen man Weltraumschrott einsammeln und zurück zur Erde bringen kann.

Aber das ist doch eigentlich hervorragend.

Zunächst ja. Aber hier zeigt sich der Dual-Use-Charakter. Ein System, das große Trümmerstücke im Weltall einsammeln und zu Boden bringen kann, kann sich auch mal schnell einen noch funktionierenden Satelliten schnappen, ihn beschädigen oder auf eine andere Umlaufbahn schleppen. Dasselbe gilt für Systeme, die im All Satelliten reparieren sollen. Im Umkehrschluss könnte aus reparieren dann manipulieren werden. Militärs versuchen die eigenen Satelliten so gut wie möglich gegen solche Angriffe schützen.

Chinesisches Kontrollzentrum
Mitarbeitende im Beijing Aerospace Control Center beobachten die Sonde Chang'e-5. An Bord: Mondgestein. Foto JIN LIWANG XINHUA/EYEWINE/LAIF

Gilt im Weltall das Recht des Stärkeren?

Abgeschleppte oder manipulierte Satelliten klingen trotz allem noch vergleichsweise harmlos.

Für einen Staat, der einen wichtigen und teuren Satelliten verliert, ist es das vermutlich nicht. Aber Sie haben Recht – noch gefährlicher sind Einsätze, bei denen Satelliten physisch zerstört werden, etwa durch eine Anti-Satelliten-Rakete. Nach den USA und Russland verfügt China seit spätestens 2007 über diese Fähigkeit, seit 2019 auch Indien. Bei so einem Angriff entsteht neuer Weltraumschrott, der unkontrolliert im All rumfliegt, was eine Gefahr für andere Satelliten darstellt, egal ob sie militärisch oder kommerziell genutzt werden. Durch die enormen Geschwindigkeiten haben Trümmerstücke unglaubliche Einschlagskräfte. Die aktive Zerstörung von Satelliten gefährdet somit auch massiv zivile Infrastrukturen.

Könnten uns die Trümmerstücke auch auf den Kopf fallen?

Nicht direkt auf den Kopf, denn die meisten Trümmerstücke würden in der Erdatmosphäre verglühen. Aber die ganze Sache könnte uns im übertragenen Sinn auf die Füße fallen, weil viele Technologien, die wir momentan als gegeben hinnehmen, durch Anti-Satelliten-Waffen zerstört werden könnten. Alle ökonomischen Transaktionen, die mit einem synchronisierten Zeitstempel versehen sind, etwa der weltweite Aktienhandel, funktionieren ausschließlich über Satelliten. Für einen Großteil unserer Kommunikation über Kontinente hinweg, für die Wetterbeobachtung oder für Fernsehübertragungen gilt das auch. Sollten die neuen Militärtechniken verstärkt zum Einsatzkommen, wäre das das Ende des alltäglichen Lebens, wie wir es kennen. Der Weltraum ist längst zu einer kritischen Infrastruktur geworden, auf die wir nicht mehr verzichten können.

Das alles klingt ein bisschen nach Wildem Westen: Jeder macht, was er will, es gilt das Recht des Stärkeren. Welche Regeln gibt es im Weltall überhaupt?

Ein gänzlich rechtloser Raum ist es zum Glück nicht. Gerade im Bereich Safety gibt es erste Ansätze, denen sich Akteure bereits jetzt freiwillig verpflichten. Ein Beispiel: Satelliten im All sollen nach spätestens 25 Jahren in der Erdatmosphäre verglühen.

Aber vermutlich halten sie sich nur solange an solche Regeln, bis diese sie stören. 

In der Tat, durchsetzbar sind sie derzeit nicht, weil eine den Staaten übergeordnete Instanz fehlt. Die Staaten müssen also schon selbst einsehen, dass eine Regel zu befolgen sinnvoll ist.

Und das soll klappen?

Bislang klappt das erstaunlich gut. Aber es gibt andere, ganz praktische Probleme. Wen kann man alarmieren, wenn das Radar zeigt, dass eine Kollision droht? Wer weicht wem wie aus? Experten, die sich mit Space Safety beschäftigen, sagen: Das ist angesichts der vielen Akteure heute schon oft ein Problem.

Soweit der zivile Bereich der Safety. Beim Militär stelle ich mir die Security noch ungleich schwieriger vor.

Da haben wir den Outer-Space-Treaty von 1967, der auch militärische Aspekte enthält. Im Kern verbietet der Vertrag die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im All. Aber das war es dann auch schon. Theoretisch dürften also konventionelle Waffen im All stationiert werden.

Eine Raumsonde
Das Projekt »Remove Debris« soll Weltraumschrott einfangen. Foto NASA EXPEDITION 56

Ein Vertrag von 1967. Damals hatte doch niemand China auf dem Plan, und auch die Technik war eine völlig andere.

Das stimmt. Der Gedanke damals war schlicht, die gegenseitig angedrohte Vernichtung durch Atomwaffen mittels Zweitschlag aufrechtzuerhalten. Mit der Stationierung von Massenvernichtungswaffen im All würde ein Staat unter Umständen die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags ohne Vergeltung erreichen, das nukleare Gleichgewicht geriete aus der Balance. Eine solche Destabilisierung kann kein Staat wollen. In der Zwischenzeit haben sich deshalb auch mehr als 100 Staaten dem Vertrag angeschlossen. China, Russland, die USA sind alle dabei.

Und wer kontrolliert, ob sie sich daran halten?

Das ist das Problem. Im Weltraum gibt es niemanden, der die Vertragseinhaltung überprüfen kann. Rüstungskontrolle funktioniert ja in der Regel so, dass man einen Vertrag abschließt und die Vertragsparteien sich danach gegenseitig die Möglichkeit einräumen, zu überprüfen, ob er auch wirklich eingehalten wird. Das geht im Weltall nicht einfach so.

Gibt es denn irgendwelche Institutionen? Denn zumindest auf der Erde sehen wir ja leider, dass es mit Vertrauen mitunter nicht allzu gut bestellt ist.

Wir haben in der UN eine Gruppe, die sich mit den Fragen von Weltraumsicherheit befasst. Aber da wird nichts verbindlich entschieden, es werden lediglich Empfehlungen ausgesprochen. Die wichtigsten Initiativen sind momentan nationaler Natur. Im vergangenen Jahr haben etwa die USA unilateral erklärt, auf Anti-Satelliten-Tests verzichten zu wollen, die Satelliten sprengen und dadurch zu mehr Weltraumschrott führen. In der Zwischenzeit haben sich der Erklärung viele Staaten angeschlossen, darunter auch Deutschland.

Bei allem Respekt vermute ich, dass uns dazu wohl ohnehin die Fähigkeiten fehlen. Wie sieht es also mit Staaten wie China oder Russland aus?

Tja, China und Russland haben sich bisher noch nicht angeschlossen. Aber auch die USA sind keine Heiligen. Sie verzichten lediglich auf Tests, die neuen Weltraumschrott erzeugen. Der Grund: Sie haben Weltraumschrott als Problem für ihre eigenen Satelliten identifiziert. Andere Angriffe wie Hacking, das Einfangen von Satelliten oder das Blenden mit Lasern – all dem haben sich auch die USA bisher nicht entsagt.

Was müsste getan werden, um das Chaos da oben zu ordnen und Gefahren zu minimieren?

Man kann im Weltall niemanden ausschließen, dadurch werden dort tendenziell immer mehr Akteure aktiv. Im Endeffekt müssen wir vertrauen haben und auf das Eigeninteresse hoffen. Es muss sich schlicht der Gedanke verbreiten, dass mit mehr Aktivitäten auch mehr Gefahren einhergehen. Um ihre Metapher des Wilden Westens aufzugreifen: Auch im Wilden Westen haben am Ende alle erkannt, dass Recht und Gesetz zwar erstmal eigene Möglichkeiten einschränken mögen, im Endeffekt aber besser für alle sind.

Wie dringend muss gehandelt werden?

Hier haben wir momentan enorme Probleme. Alle großen, belastbaren Verträge im Bereich Rüstungskontrolle sind mehr oder weniger weg: Russland hat den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa aufgekündigt, nach den USA ist auch Russland aus dem der Open-Skies-Vertrag ausgestiegen. Und jetzt hat Putin auch noch den New Start-Vertrag ausgesetzt. Die großen Player China, Russland, USA vertrauen einander nicht. Diese Staaten müssen selbst erkennen, dass sie sich durch eine Eskalation im Weltall ökonomisch und militärisch enorme Probleme einhandeln.

Das klingt nicht sehr optimistisch.

Die USA denken schon darüber nach, wie man Militäroperationen durchführen kann, wenn der Weltraum nicht mehr zur Verfügung stünde. Es geht um alternative Szenarien der Kommunikation und Navigation, zum Beispiel mittels hochfliegender Drohnen. In diesem Sinne hoffe ich, auf eine gewisse strategische Einsicht bei Staaten wie China oder Russland, dass man den Weltraum nicht zum Schlachtfeld machen sollte. Aber, ja, besonders optimistisch bin ich nicht.

Auch die USA sind keine Heiligen.

Vielleicht auch interessant?