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Worauf haben sie sich da bloß eingelassen? Da wird man eingeladen, einen der prestigeträchtigsten Orte der Welt der Informatik zu besuchen, und landet in einem Escape-Room. Hoffentlich bekommen wir Mittagessen, wenn wir das nicht lösen, witzelt eine Forscherin, die bei Spotify die Auswirkungen algorithmischer Empfehlungen auf den Menschen untersucht. Mit einem japanischen Informatikprofessor aus Osaka, der als einer der führenden Experten für intelligente Systeme gilt, und einem jungen indischen Machine-Learning-Spezialisten, der sich an der Uni Duisburg-Essen mit Fakenews beschäftigt, beugt sie sich über eine Reihe Porträtfotos. Wie Profiler über die Verbrecherkartei. 

Für das Spiel sollen die drei an diesem Tag im Mai herausfinden, welche der abgebildeten Personen echt sind und welche Fotos ein Computer generiert hat. Aus ihren Antworten ergibt sich ein Code aus Nullen und Einsen, der sich in ein Lösungswort übersetzen lässt – und sie hoffentlich vor den anderen Teams auf die nächste Stufe des »Escape-Room Misinformation« bringt. Doch die Lösung lässt auf sich warten. Ist jetzt die Frau mit den überlangen Wimpern der Fake? Oder der kleine Junge mit dem seltsam abstehenden Haar? Oh, was haben die Algorithmen da angerichtet!

Ein Spiel mit Nullen und Einsen. So haben Informatiker also Spaß. Doch tatsächlich beschäftigen sich die Spielerinnen und Spieler seit vielen Jahren auf höchstem Niveau mit dem Umgang mit Fälschungen und Falschmeldungen, den Algorithmen Sozialer Netzwerke und ihrem Potenzial, zu polarisieren. Ihre Forschung hat sie aus aller Welt in diesen sagenumwobenen Winkel des Nordsaarlands geführt. Hier sind sie zusammengekommen, um einige Tage lang über den Tellerrand zu blicken, sich intensiv auszutauschen und in der Vielfalt ihrer Perspektiven Lösungen zu entwickeln, auf die sie zu Hause am Institut vielleicht nicht gekommen wären. Seit inzwischen mehr als 30 Jahren tun führende Forscherinnen und Forscher genau das: Auf Schloss Dagstuhl, dem Leibniz-Zentrum für Informatik, tauchen sie ab in die Tiefen ihres jeweiligen Spezialgebiets und dessen neueste Entwicklungen. Und vor allem planen sie die Zukunft.

Vier Personen sitzen in einem Raum ohne Tageslicht um einen Tisch vor ihren Laptops.

Der Workshop unserer spielfreudigen Informatikerinnen und Informatiker etwa trägt den eingängigen Namen »Technologies to Support Critical Thinking in an Age of Misinformation«. Geplant wurde er eigentlich schon vor zwei Jahren, musste wegen der Pandemie aber verschoben werden. Jetzt, wo auch noch der Krieg in der Ukraine dazugekommen ist, ist sein Thema aktueller denn je. Auch in den Sozialen Medien wird Russlands Angriff auf die Ukraine schließlich emotional diskutiert, teils fernab jeder Realität. Wie können Technologien hier helfen? In dieser Misere, die sie doch teils selbst verursacht haben?

Angefangen hat das Informatikzentrum in sehr viel technikoptimistischeren Zeiten. 1990 wurde es nach dem Vorbild des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach gegründet, ein Leibniz-Institut, zu dem das who is who der Mathematik pilgert. 34 Kilometer Luftlinie von Saarbrücken entfernt, sollten in Dagstuhl nun neue Anwendungsfelder der Informatik erschlossen werden. Das Konzept ist bis heute simpel, aber umso erfolgreicher: Die Workshops werden ausschließlich für geladene Gäste ausgerichtet, eingeladen werden stets nur die Besten ihres Fachgebiets. Zudem achten die Organisatoren auf eine ausgewogene Mischung aus Karrierestufen, Alter und Diversität.

Kaum sind sie vor Ort, wird alles dafür getan, dass sie miteinander ins Gespräch kommen. Das Zentrum ist abgelegen, es gibt kaum Handyempfang und auch sonst wenig Ablenkung. Die ausführenden Architekten waren durchaus erstaunt über die Sonderwünsche der tatkräftigen Informatiker, erinnert sich Raimund Seidel, Schloss Dagstuhls Wissenschaftlicher Direktor: Auf den Zimmern bitte keine Telefone und Fernseher! Es gibt nicht einmal einen Sessel, sagt Seidel und lacht. Die Leute sollen ja nicht im Zimmer hocken. Sie sollen rauskommen und interagieren. Sogar im Speisesaal werden die Namensschilder zufällig verteilt, sodass jeder bei jeder Mahlzeit neben einer anderen Person sitzt.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops haben den Weg aus dem Escape-Room dann doch noch gefunden. Zum Mittagessen gibt es Salat, Grillgemüse und salzige Küchlein aller Art. Nach dem Dessert kehrt die Gruppe dann nicht zurück in den Seminarraum, stattdessen geht es raus in den Wald. Schließlich macht die Natur den Kopf frei. Oder? Auf der Wanderung zur Ruine der ehemaligen Burg Dagstuhl diskutieren die Forschenden dann, was beeinflusst, ob man Informationen als seriös wahrnimmt oder nicht. Im dichten Mischwald fragen sie sich, wie man wohl Twitter verändern würde, wenn man alles verändern dürfte (auch das eine aktuelle Frage). Und schließlich, oben auf dem Berg, mit Blick übers Tal und sanft-grüne Hügel, erörtern sie auf den Mauern der Burgruine sitzend, wie Technologie helfen könnte, kritisches Denken zu fördern. Man könne, sagt einer, zum Beispiel dafür sorgen, dass Menschen zurückgespiegelt bekommen, wie sie sich in den Sozialen Medien verhalten und in welchen Filterblasen sie sich bewegen. Wir denken ja gerne, dass wir mehr im Zentrum stehen, als wir es tun, pflichtet ihm ein junger Forscher vom Massachussets Institute of Technology bei.

Es wird alles dafür getan, dass sie miteinander ins Gespräch kommen.

Raimund Seidel blickt in die Sonne.
Ein verglaster Übergang zwischen zwei Gebäudeteilen, darin einige Personen.

Auch nach dem Abendessen, bei dem die Debatten informell und ohne Pause weitergehen, ist noch lange nicht alles gesagt. Zum Glück steht schon das nächste Feature des Dagstuhlschen Socializings an: Weiterreden bei Wein und Käse in einem Raum, der eine Mischung aus Clubraum und Wohnzimmeratmosphäre atmet. Reden, reden, reden. Hier muss ganz klar mit einem weiteren Klischee um Informatiker aufgeräumt werden: Sie sind alles andere als wortkarge Nerds, die sich nur hinterm Bildschirm wohlfühlen. Viele sitzen zum ersten Mal seit Langem in einer größeren Gruppe Gleichgesinnter im echten Leben zusammen. Man merkt: Diese positiven Nebenwirkungen von Konferenzen haben ihnen in der Pandemie gefehlt. 

In Dagstuhl gibt es unendlich viele Räume, um in inspirierender Atmosphäre zu diskutieren. Und sie stehen allen offen. Da ist der altehrwürdige Wappensaal mit dem großen Tisch in der Mitte. Oder das Musikzimmer mit Klavier, an dessen Wand neben goldenen Engeln auch einige Gitarren hängen, griffbereit für ein spontanes Konzert.  Musik und Informatik passen gut zusammen, sagt Raimund Seidel bei einer kurzen Führung. Außerdem gibt es einen Billardtisch, ein Volleyballfeld und Mountainbikes zum Ausleihen. Es geht darum, die Menschen zusammenzubringen, sagt er. Alles sei darauf ausgerichtet, neben Vorträgen und interaktiven Debatten auch zufällige Gespräche zu ermöglichen.

In der Bibliothek trifft Seidel auf Albrecht Schmidt, Inhaber des Lehrstuhls für »Human Centered Ubiquitous Media« an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Der blättert in einem alten Tagungsband und ruft: Oh schau, das war mein erstes Paper! Die Bibliothek ist legendär. Schmidt schwärmt von der Zufälligkeit, mit der er hier schon spannende Dinge entdeckt hat, wenn er sich für eine Vorlesung inspirieren lassen wollte. In unzähligen Regalen finden sich alte und neue Lehrbücher und Grundlagenwerke der Informatik. Und viele Bücher über Programmiersprachen, die es nicht mehr gibt, witzelt Schmidt. Aber das alles sei aus historischen Gründen durchaus interessant. Eine Etage tiefer findet sich zum Beispiel eine vollständige Sammlung der Tagungsbände »Lecture Notes in Computer Science«, die Springer seit 1972 herausgibt. Weltweit ist es die einzige vollständige Sammlung. Einmal habe sogar der Springer-Verlag selbst nach zwei Exemplaren gefragt, die er nicht mehr vorrätig hatte, erinnert sich Seidel.

Gitarren und Notenständer im Musikzimmer.
Regal voller Bücher.

Musik und Informatik passen gut zusammen.

RAIMUND SEIDEL

Zurück im Clubraum sind die Diskussionen beim Wein inzwischen weit fortgeschritten. Was zum Beispiel kann man alles mit Sensoren messen? Die Mensch-Maschine- Interaktionsforschung experimentiere schon lange mit Eyetracking, um herauszufinden, wofür sich Menschen interessieren, ohne sie explizit danach fragen zu müssen. Inzwischen messen die Informatikerinnen und Informatiker auch die Herzrate, die Hautleitfähigkeit oder auch Gehirnwellen, um festzustellen, ob jemand gestresst ist oder entspannt. Eine Kollegin habe einst herausgefunden, dass die Temperatur der Nase im Vergleich zur Stirn etwas darüber aussagt, ob sich jemand gerade konzentriert, berichtet Tilman Dingler von der Universität Melbourne. Je wärmer die Nase, desto weniger Energie sei im Gehirn – eine kalte Nase und eine warme Stirn versprächen also Konzentration. Daraufhin haben wir versucht, ob man Menschen auch runterkühlen kann. Mit Eiswürfeln im Nacken zu mehr Konzentration! Das habe aber leider nicht geklappt. Alle lachen.

Mit Kolleginnen aus Australien, Japan und Deutschland hat Dingler auch den Fakenews-Workshop organisiert. Auf den großen Konferenzen des Fachs hat er immer mal wieder Workshops zu diesem Thema angeboten, aber ein Nachmittag war einfach zu kurz. Also hat er sich für ein Dagstuhl-Seminar beworben – ein ehrgeiziges Unterfangen: Ein 17-köpfiges Gremium entscheidet teils in mehreren Runden über die Bewerbungen, gibt Hinweise zur Überarbeitung – und wählt erst dann aus. Eine Zusage verleiht durchaus Prestige: Viele Kolleginnen und Kollegen haben uns gratuliert. Dann ging es daran, die Teilnehmenden einzuladen. Das ist einfach: Die Koryphäen des Fachs kommen gerne, denn eine Einladung zählt gewissermaßen als Ritterschlag.

Es wird weit nach Mitternacht im Weinkeller. Doch am nächsten Morgen wirkt keiner müde, als es darum geht, in Kleingruppen künftige Projekte zu planen. Die Gruppen wechseln immer wieder durch, entwickeln kurz- und langfristige Visionen. Künftige Kollaborationen rund um die wichtigen Fragen der Zukunft sind eines der wertvollsten Souvenirs aus Dagstuhl. Und natürlich geht es auch um Durchbrüche, die gelingen, weil die richtigen Menschen zusammengekommen sind. Einmal, erinnert sich Seidel, habe ein Seminarteilnehmer eine seit Jahrzehnten offene Frage der Graphentheorie gelöst, eines Teilgebiets der diskreten Mathematik. Es war sicher kein Zufall, dass ihm das kurz vor dem Seminar bei uns gelungen ist. Die Aussicht auf eine aufmerksame Expertenrunde, die den Beweis kompetent auf Herz und Nieren prüfen kann, hat sicherlich beflügelt.

Fotografin macht ein Gruppenfoto von Personen, die auf einem Treppenaufgang auf Schloss Dagstuhl stehen.

Am Ende des Workshops bleibt das Gefühl, noch lange nicht fertig zu sein. Aber selbst wenn man Tag und Nacht diskutiert, sind die vier Tage in Dagstuhl irgendwann vorbei. So viele Ideen für künftige Projekte!, ruft einer beim letzten gemeinsamen Mittagessen. Die Gespräche kreisen jetzt um die Frage, wie man hier nun am besten wieder wegkomme. Welcher Bus fährt? Wann? Teilen wir uns ein Taxi? Der nächste Bahnhof ist 25 Minuten Fahrt entfernt, der Bus fährt alle paar Stunden.

Ein australischer Experte für Datenbanken zuckt mit den Schultern, während er wartet. Genau das brauche ich, um etwas wirklich zu durchdenken. Zu Hause brummt die Stadt vor seinem Fenster. Ständig sprechen ihn Kollegen an, das Telefon klingelt. Hier habe ich Grün vor dem Fenster, und ich bin nicht erreichbar. Er lehnt sich zurück und seufzt. Man kommt hier mit Fragen an und geht mit noch mehr Fragen nach Hause. Ist das nicht wunderbar?

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