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I.

Kosmonautin und Kosmonaut wurden zum Lieblingsberuf sowjetischer Kinder.

Als die russische Weltraumagentur Roskosmos und der Erste Kanal des russischen Staatsfernsehens im Sommer vergangenen Jahres bekannt gaben, auf der Internationalen Raumstation »ISS« noch 2021 den ersten Spielfilm überhaupt im erdnahen Weltall drehen zu wollen, sprachen manche bereits von einem zweiten Space Race. Denn kurz zuvor hatten die amerikanische NASA und das Unternehmen SpaceX des Autobauers Elon Musk einen ganz ähnlichen Plan verkündet: einen Filmdreh mit Tom Cruise. Am selben Ort.

Während Hollywood auf den alternden Actionstar setzt, inszenierte Russland die Produktion des Films »Die Herausforderung« (russisch: Wysow) als Realityshow: Im Oktober 2020 schrieb man einen landesweiten Wettbewerb für die weibliche Hauptrolle aus, von den mehr als 3.000 Bewerbungen wurden 20 Frauen zwischen 25 und 45 Jahren in die engere Wahl gezogen. Diesen Herbst dann konnte man im Fernsehen verfolgen, wie eine Kandidatin nach der anderen an dem harten körperlichen und psychologischen Testprogramm für Kosmonauten scheiterte. Nur eine hielt durch, die Gewinnerin Julia Peressild. Anfang Oktober ging es für sie und Regisseur Klim Schipenko los: Auf einer Sojus-Rakete flogen sie für knapp zwei Wochen zu den Dreharbeiten ins All.

Während des Kalten Krieges wurde mit dem Wettlauf in den Weltraum noch ein ideologischer Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus ausgetragen, bei dem es auch um die militärische und technologische Vorherrschaft am Himmel ging. Heute erscheint die Raumfahrt eher als symbolische Prestigeangelegenheit, ein kurzweiliges Showbiz und teures Hobby für Multimillionäre und Milliardäre. China hat inzwischen seine eigene Raumstation, Indien ein Weltraum-Raketenprogramm. Und in den USA sind gleich mehrere Privatunternehmen am Start, die Flüge in die höhere Erdatmosphäre anbieten — Entspannen in der Schwerelosigkeit inklusive. Doch als Juri Gagarin vor mehr als 60 Jahren am 12. April 1961 als erster Mensch im Weltraum in 108 Minuten die Erde umkreiste, sah es dort oben noch anders aus. Das All war ein unerschlossener Ort, den man mithilfe von Satelliten und Raumsonden gerade erst zu erkunden begann — und ließ so Raum für vage Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, utopische Visionen und fantastische Wunschträume.

II.

Als am 4. Oktober 1957 der erste künstliche Erdsatellit von sowjetischem Boden in den Weltraum geschossen wurde, löste das in den Vereinigten Staaten den berühmten »Sputnik-Schock« aus. Man wusste nun, dass der Systemgegner über Langstreckenraketen verfügte, mit denen er nicht nur Satelliten, sondern auch Atombomben überallhin schießen konnte. Bald folgten unbemannte Raketenstarts zum Mond und zur Venus, dann flogen sowjetische Raumschiffe, die zunächst Hunde, dann Menschen an Bord hatten, ins All. Man testete die ersten Fernsehsatelliten und im März 1965 unternahm Alexei Leonow den ersten Weltraumspaziergang.

In den Folgejahren sollten sich die USA zwar wieder den Vorsprung sichern, 1969 landeten sie auf dem Mond. Doch zumindest anfangs schien die Sowjetunion unaufhaltsam von einem Rekord zum nächsten zu fliegen, sodass Nikita Chruschtschows Versprechen, man werde den Kapitalismus ein- und überholen, erstmals Wirklichkeit zu werden schien. Entsprechend stand der 22. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Ende Oktober 1961 nicht etwa im Zeichen des Mauerbaus, sondern der Weltraumflüge von Gagarin und German Titow. Angesichts der Heldentaten im Kosmos, so wurde verkündet, könne man nun auch auf Erden binnen 20 Jahren, bis 1980, den Kommunismus aufbauen.

Zugleich wurden die sowjetischen Erfolge im Weltraum zu einem festen Bestandteil der Alltags- und Populärkultur. Die Textilarbeiterin und Fallschirmspringerin Walentina Tereschkowa, die im Juni 1963 als erste Frau in den Weltraum gestartet war, galt nicht zuletzt wegen ihres selbstbewussten Auftretens und ihrer modischen Kleidung als Inbegriff einer emanzipierten Sowjetbürgerin. Neben dem gelernten Gießer und Militärpiloten Gagarin repräsentierte sie auf ihren unzähligen Auslandsreisen, auch in den Globalen Süden, das Versprechen eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Anstelle imperialistischer Kriege und Ausbeutung sollte er zukünftig Frieden und Freundschaft in die postkoloniale Welt bringen. Zudem sorgten eine wachsende Zahl an Denkmälern, Gedenkstätten, Museen, Kosmonautenreliefs und Gagarin-Straßen im ganzen Land, aber auch populäre Filme, Lieder, Gedichte, Wimpel, Plakate, Briefmarken, Romane und Schulbücher dafür, dass Kosmonautin und Kosmonaut schon bald zum Lieblingsberuf sowjetischer Kinder wurden.

Dabei waren es gar nicht so sehr die konkreten Erfolge, die in den 1960er Jahren in der Sowjetunion und ihren »Bruderstaaten« eine regelrechte Weltraumeuphorie auslösten. Häufig öffnete gerade das Unwissen über das All Raum für Spekulationen. Denn in der späten Sowjetunion, wo Foto- und Filmbilder der eigenen Weltraumtechnik wegen der strikten Zensur strengster Geheimhaltung unterlagen und sich die sozialistische Konsumgesellschaft auch ansonsten mit vielen Engpässen konfrontiert sah, schienen zumindest im Weltraum all die Abenteuer und Träume Wirklichkeit zu werden, die der häufig graue Alltag einem vorenthielt.

 

MATTHIAS SCHWARTZ
ist Historiker und Slawist. Am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung leitet er den Programmbereich »Weltliteratur«.

Im All ließen sich brennende Fragen und Probleme verhandeln, ohne dass die Zensur sie verbot.

In Tageszeitungen und populärwissenschaftlichen Zeitschriften rätselte man beispielsweise über den sogenannten Tunguska-Meteoriten, der 1908 mit einer gewaltigen Explosion in der sibirischen Taiga eingeschlagen war — und den einige Experten für ein havariertes außerplanetarisches Raumschiff hielten. Ein weiteres beliebtes Thema waren die sogenannten Marskanäle — feine, schillernde Linien auf der Oberfläche des »Roten Planeten«. Bei ihrer Entdeckung in den 1870er Jahren hatten einige in ihnen Bauwerke einer interplanetaren Zivilisation erahnt. Im kosmischen Zeitalter regten sie erneut die Fantasien an: Man spekulierte über eine Kontaktaufnahme mit den Marsbewohnern — bis Fotoaufnahmen von Raumsonden in den 1960er Jahren deutlich machten, dass es sich bei den vermeintlichen Kanälen um optische Täuschungen handelte.

Insbesondere Science-Fiction entwickelte sich in dieser Zeit zu einer der beliebtesten Literaturgattungen des Landes. In den fantastischen Geschichten aus der fernen Zukunft fremder Welten, künstlicher Intelligenzen, abgelegener Galaxien und seltsamer, nicht-humaner Lebensformen ließen sich schließlich all jene Wünsche und Hoffnungen, aber auch Ängste und Probleme in fiktionaler Form darstellen, die im real existierenden Sozialismus keinen Ort hatten. Bereits 1957 veröffentlichte Iwan Jefremow seine große Zukunftsutopie »Andromedanebel« (auch: »Das Mädchen aus dem All«). Sie handelt von einer galaktischen kommunistischen Zivilisation des 4. Jahrtausends, in der jede und jeder frei nach ihren und seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten leben kann und staatliche Machtapparate zugunsten eines Wissenschaftsrates weitgehend abgeschafft sind. Georgi Martynow schrieb zur gleichen Zeit seine unter Jugendlichen enorm populären Romane über die »Kallistane«, schwarzhäutige Außerirdische, die mit friedlichen Absichten die Sowjetunion der nahen Zukunft besuchen. Ein paar Jahre später verfasste Sergei Snegow die erste sozialistische Space Opera, die Romantrilogie »Menschen wie Götter« (1966–1977).

Doch nicht nur diese Zukunftsutopien machten das Genre attraktiv. Genauso waren es Werke, die auf fernen Planeten brennende Fragen und Probleme der eigenen Gegenwart verhandelten — ohne dass die Zensur sie sogleich verbot. Ausführlich konnten anhand ferner Zivilisationen gesellschaftliche Fehlentwicklungen diskutiert werden. In der Darstellung ökologischer Katastrophen oder des Missbrauchs wissenschaftlich-technischer Innovationen ließ sich auf die Gefahren des eigenen Fortschrittsoptimismus hinweisen. Und in der Begegnung mit exzentrischen und alternativen Lebensformen wurde man mit der konformistischen Tristesse des sozialistischen Alltags konfrontiert.

Gemeinsam war all diesen Werken, dass sie in bewusster Abgrenzung zu den amerikanischen Szenarien imperialer Sternenkriege meist davon ausgingen, dass höherentwickelte Zivilisationen grundsätzlich friedlich zu sein hätten, auch wenn es immer wieder Missstände und Ausnahmen gibt. Stanisław Lems Roman »Solaris« (1961) über den rätselhaften kosmischen Ozean sowie der Roman »Picknick am Wegesrand« (1972) der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki über geheimnisvolle intergalaktische Objekte, die auf die Erde abgestürzt sind, entstanden in dieser Zeit. Später drehte der Regisseur Andrei Tarkowski auf ihrer Grundlage grandiose Filme. Das Firmament als mythischer Göttersitz und Ort schicksalhafter Himmelszeichen entwickelte sich so zu einer populären Projektionsfläche für wunderbare Begebenheiten, übersinnliche Phänomene, märchenhafte Abenteuer und moderne Mythen, die auch der menschlichen Raumfahrt zusätzlich Glanz und Gloria verliehen.

Illustration eines Kopfes im Querschnitt, darüber Astronauten in einer Fantasiewelt.

III.

Was bleibt, ist der Kosmos als virtueller Imaginationsraum.

Heute scheint dagegen vieles auf ein Ende der kosmischen Ära hinzudeuten. Es gibt nur noch wenige technische Innovationen und kaum neue Erkenntnisse in der Raumfahrt, der Betrieb der ISS wird wohl bald eingestellt, ein neues bemanntes Mondprogramm steht in den Sternen. Unbemannte Raumsonden, Satelliten und Teleskope haben unser Sonnensystem und die angrenzenden galaktischen Regionen so weit erkundet, dass hier nicht mehr mit großen Überraschungen zu rechnen ist. Zumal wir Menschen diese entlegenen Orte ohnehin nicht besuchen könnten.

Was aber bleibt als Erbe der bemannten Raumfahrt des Ost-West-Konflikts, ist der Kosmos als virtueller Imaginationsraum. In Filmen, TV-Serien, Romanen, Computerspielen und Realityshows kann sich die Menschheit ihre Träume von friedlichen Zivilisationen und ökologisch nachhaltigen Lebensformen ebenso wie ihre Ängste vor Klimakatastrophen und Alien-Invasionen ausmalen und sie reflektieren. Dabei hat sich das Verhältnis von realer Raumfahrt und virtueller Fiktion gewissermaßen umgekehrt. Gab es von Gagarins Raumflug 1961 noch keine Fotos oder Filme und empfing man vom Mondflug 1969 live lediglich schemenhafte Schwarzweißbilder, können wir heute dank digitaler Techniken umso realistischer Weltraumszenarien simulieren — Hollywood und Co. lassen grüßen. So bleibt die Eroberung des Weltalls ein Traum, den wir in berührenden Bildern und wunderschönen Geschichten weiterträumen.

 

 

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