Es ist ein schneidend kalter Tag im Dezember, der Schnee von vorgestern ist schon wieder verschwunden, aber der Frost kriecht uns unerbittlich in die Füße und an den Beinen hoch. Annalisa Martin hat uns auf einen Spaziergang in die Vergangenheit eingeladen, vor einem grauen Haus in der Potsdamer Straße im Stadtteil Schöneberg im Berliner Südwesten bleiben wir stehen. Heute ist die Gegend vor allem für ihre Galerien bekannt, für Concept Stores, Hummus-Läden und Cafés. Früher, in den 1980er Jahren, als die Mauer nur ein paar Straßen weiter noch stand, war sie es vor allem für ihren Straßenstrich.
Einen Teil des Gebäudes, vor dem wir jetzt stehen, hatte damals ein Verein namens »Hydra« besetzt, damit die Sexarbeiterinnen aus der Gegend sich an Tagen wie diesem ausruhen und aufwärmen konnten. Mittlerweile sind sie in die Kurfürstenstraße weitergezogen, in der damals minderjährige Mädchen auf dem »Babystrich« anschaffen gingen und heute vor allem osteuropäische Frauen ihr Geld verdienen. Den Schutzraum in der Potsdamer Straße gibt es längst nicht mehr. Nur die Kälte vor der großen blauen Holztür ist dieselbe wie früher.
Es ist Teil der Geschichte, dass die Orte, die ich erforsche, heute nicht mehr zu sehen sind
, sagt Annalisa Martin. Das graue Gebäude beherbergt nun das Frauenreisezentrum »Frauen unterwegs« und die Frauenkneipe »Begine«, im Schaufenster wird eine Party mit »Pop-Perlen der Tangoschlampe« beworben.
Vier Jahre lang hat Annalisa Martin, 30 Jahre alt, für ihre Dissertation die Arbeitsrealität von Sexarbeiterinnen in Hamburg, Köln und Berlin erforscht, der Titel der Arbeit: »Managing Commercial Sex in West Germany, 1950s-1980s«. Die Arbeit entstand am Birkbeck College, das Teil der University of London ist, sowie am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam in der Abteilung »Regime des Sozialen«. Vorher studierte Martin Geschichte an der University of Oxford und an der Humboldt Universität in Berlin. Sie ist in England geboren und aufgewachsen, spricht aber so akzentfrei Deutsch, dass man das nicht vermuten würde.
Wenn man sie fragt, warum sie die Geschichte der Prostitution als Forschungsgegenstand gewählt hat, sagt Martin: Mich haben schon immer Fragen zu Geschlecht und Arbeit interessiert. Ich wollte ein Buch über Sexarbeit von Frauen in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg lesen, aber das gab es nicht. Also musste ich es selbst schreiben.
Wie Sexarbeit während des Zweiten Weltkriegs und in der jüngeren Vergangenheit ausgesehen hat, sei bereits gut erforscht. Dazwischen aber habe bislang eine Lücke geklafft. Die Nachkriegszeit, das Wirtschaftswunder, die sexuelle Befreiung – Wir kennen vor allem die großen Geschichten der Bundesrepublik
, sagt Martin. Doch die Sexarbeit wurde in diesen Narrativen bislang weitgehend ausgelassen.
Wir biegen jetzt in den Bülowbogen ein, heute eine unscheinbare Wohnstraße, und laufen vorbei an einem Waxing-Studio, einer Kneipe, einem Stehcafé. Auf der anderen Straßenseite steht, rot geklinkert, die Amerikanische Kirche. Eine historische Zeittafel erinnert davor an das Ballhaus, in dem zu Zeiten der Weimarer Republik rauschende Homosexuellen-Bälle gefeiert wurden. An die Frauen, die am Straßenrand und in den Eingängen der Bars standen, um ihre Körper zu verkaufen, erinnert an diesem Sonntagmittag dagegen nichts.
Viele von ihnen sahen keine andere Möglichkeit, sich über Wasser zu halten, denn für Frauen war es bis in die späten 1960er Jahre nicht vorgesehen zu arbeiten: Für Sozialversicherung und finanzielle Absicherung waren die Ehegatten zuständig. Ein Scheitern der Beziehung konnte dazu führen, dass Hausfrauen und Mütter durch die Maschen der staatlichen Sozialhilfe fallen
, schreibt Annalisa Martin in ihrer Dissertation. Die Sozialwissenschaftlerin Monika Simmel-Joachim formuliert das so: Frauen waren einen Mann von der Armut entfernt.
Man konnte innerhalb kurzer Zeit verhältnismäßig viel Geld verdienen.
ANNALISA MARTIN
Das Patriarchat drängte vor allem alleinstehende Frauen in die Prostitution. Und es verachtete sie dafür, denn Sexarbeiterinnen waren seit jeher Stigmatisierung ausgesetzt. In Gesetzestexten wird bis in die 1970er Jahre nicht der Begriff »Prostitution« verwendet, sondern »gewerbsmäßige Unzucht«. Die Abwertung stand schon im Gesetz mit drin
, kritisiert Martin.
Frauen, die Sex verkauften, sollten ihre Arbeit im Unsichtbaren verrichten, abseits der Mitte der Gesellschaft und möglichst geräuschlos. Sie sollten aber auch nicht damit aufhören, denn an Bedarf – also Männern, die bereit sind, für Sex Geld zu bezahlen – mangelte es noch nie. Dafür verurteilt wurden trotzdem vor allem die Frauen, die verkauften, nicht die Männer, die kauften.
Wie eine Gesellschaft Sexarbeit moralisch einordnet, hängt stark von den äußeren Umständen ab. Wird sie etwa von wirtschaftlichen Krisen erschüttert, werden Frauen dafür tendenziell weniger geächtet. Das wird allerdings oft rückblickend verklärt, stellte Martin fest und nennt als Beispiel die Nachkriegszeit nach 1945: Es wird oft behauptet, dass der weit verbreitete sexuelle Tauschhandel gegen Waren wie Zigaretten und Lebensmittel, der von Zeitzeugen als ›Hungerprostitution‹ bezeichnet wurde, vor 1948 in der Praxis weitgehend akzeptiert war
, schreibt sie, während die Hinwendung zu sexueller Arbeit nach diesem Zeitraum als Beweis für die moralische Schwäche eines Menschen angesehen wurde.
1948 war das Jahr der Währungsreform, der bald ein wirtschaftlicher Aufschwung folgte. Martin konnte aber keine Beweise dafür finden, dass Prostitution in Deutschland jemals davor noch danach gesellschaftlich akzeptiert war.
Ganz im Gegenteil: Prostitution ist zwar seit 1927 erlaubt, gilt vor dem Gesetz aber seit jeher als sittenwidrig. Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und in seiner Anwendung nicht ganz klar. Wohl aber in seiner Bedeutung: Er meint alles, was dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht
. Für Sexarbeiterinnen bedeutete das: Ihre Arbeit wurde nicht als Beruf anerkannt, sie wurden folglich vom Sozialsystem ausgeschlossen. Ab 1964 mussten sie aber dennoch Steuern zahlen. Sie hatten also die Pflichten des Wohlfahrtsstaats zu erfüllen, erhielten aber nicht seine Rechte.
Was versprachen sich die Frauen dennoch von der Sexarbeit? Man konnte innerhalb kurzer Zeit verhältnismäßig viel Geld verdienen
, sagt Annalisa Martin. Wie viel, das hing davon ab, ob die Frauen selbstständig auf der Straße arbeiteten, in Bars, in einem Bordell, als Callgirl, in welcher Stadt, ja sogar in welcher Straße. Wer unabhängig auf dem Straßenstrich arbeitete, konnte den vollen Verdienst für sich behalten, lebte dafür aber unsicherer; in einem Bordell wurden oft horrende Mieten verlangt, dafür gab es Schutz; Callgirls verdienten gut, waren in privaten Räumen aber ihren Freiern ausgeliefert; und in Berlin – der geteilten und wirtschaftlich schwächeren Stadt – ließ sich weniger Geld verdienen, als in Hamburg oder Köln. Und all das war ständiger Veränderung unterworfen.
Generell lässt sich sagen: Während die Mehrheitsgesellschaft sich sexuell befreite, wurden die Rechte der Sexarbeiterinnen immer weiter beschnitten.
In den 1950er Jahren etwa wurde der Betrieb von Bordellen verboten, stattdessen entstanden sogenannte Dirnenwohnheime, deren einziger Unterschied darin bestand, dass die Zimmer darin zu angemessenen – und nicht zu den extrem hohen Bordellpreisen – vermietet werden mussten. Dafür waren die Nebenkosten so hoch, dass sich praktisch kaum etwas änderte. Hamburg und Köln, die im Gegensatz zu Berlin über zentral gelegene Rotlichtviertel verfügten, erklärten ganze Straßenzüge zu Sperrbezirken, in denen Straßenprostitution fortan nicht mehr erlaubt war. Im Laufe der 1960er und 1970er Jahre räumten die Städte dann die Bordellstraßen und forderten die Frauen auf, in den neu errichteten »Eros-Zentren« zu arbeiten: mehrstöckigen Gebäuden an den Stadträndern, die wegen der hohen Nutzungskosten und der großen Konkurrenz chronisch von Teilleerstand betroffen waren. Ich sehe das als Teil eines Gentrifizierungsprozesses
, sagt Martin.
Zu Berlins zeitweiser Interpretation eines Eros-Zentrums – einem größeren Dirnenwohnheim, das die meiste Zeit jedoch ebenfalls in Teilen verwaist war – führt Annalisa Martin uns von der Potsdamer Straße jetzt eine Viertelstunde weiter westlich. Wir kommen vorbei an dem berühmt berüchtigten Sexshop »LSD – Love, Sex, Dreams«, Polizeiberichten könne man entnehmen, dass hier auch früher schon Sexshops betrieben wurden, erzählt Martin. Auf solche Berichte aus den drei untersuchten Städten stützt sich der Großteil ihrer Recherche, Monate habe sie dafür in den Stadtarchiven verbracht. In Köln und Hamburg seien die Akten immerhin nach Delikten wie »Kuppelei« oder »Zuhälterei« sortiert gewesen, in Berlin nicht. Martin wälzte Ordner um Ordner, um sich ein Bild davon zu machen, unter welchen Umständen Prostituierte damals hier arbeiteten.
So fand sie auch das ehemalige Dirnenwohnheim, vor dem wir nun stehen. Heute ist es ein Hotel, in der Lobby flimmern Berliner Sehenswürdigkeiten über einen Flachbildschirm. In zwei Waschbetonkübeln ist Kunstrasen ausgelegt, Weihnachtsdekoration hängt an der gläsernen Eingangstür, aus der gerade ein Hund in einer Daunenweste ins Freie trippelt. Die Geschichte ist irgendwo zwischen Tannengirlanden und Kunstrasen verloren gegangen. Verschwunden ist die Sexarbeit – auch rund um die Potsdamer Straße – trotzdem nicht.
Ein offiziell anerkannter Beruf – mit allen Pflichten und Rechten – ist sie erst seit 2002, als die Sittenwidrigkeit mit dem neuen Prostitutionsgesetz abgeschafft wurde. 2017 trat das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft. Seitdem müssen Sexarbeiterinnen ihre Tätigkeit bei der Ordnungsbehörde anmelden. Vermutlich tut das aber nur ein Bruchteil der Frauen – auch weil viele von ihnen sich illegal in Deutschland aufhalten. 2019 waren rund 40.000 Prostituierte deutschlandweit angemeldet. Weil Sexarbeit während der Corona-Pandemie teilweise erschwert oder verboten wurde, brach die Zahl im Jahr darauf auf knapp 25.000 ein. Die Frauen kommen heute nicht mehr wie früher größtenteils aus Deutschland, sondern schon länger aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn – Ländern mit schwächerer Wirtschaft und stärkerem Patriarchat.
Annalisa Martin, die inzwischen Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Greifswald ist, will die Vergangenheit der Prostitution in Deutschland auch weiter erforschen. Sie hat jetzt die sogenannten Arbeitshäuser ins Auge gefasst, in die Sexarbeiterinnen bis Ende der 1960er Jahre zur Strafe und Eingliederung in ein »geordnetes Leben« geschickt wurden, wenn sie etwa unerlaubt in einem Sperrbezirk gearbeitet hatten.
Außerdem arbeitet sie den Nachlass des Sexarbeiters und Aktivisten Marc of Frankfurt auf. Er setzte sich auf Demonstrationen und Kongressen für eine Professionalisierung, gesellschaftliche Anerkennung und Erforschung der Sexarbeit ein. Es ist Annalisa Martins erste Forschungsarbeit zu einem männlichen Sexarbeiter.