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LISA HÖCKEL
ist Ökonomin am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Integration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte ins Schulsystem.

ATIKA MÜLLER-EROĞUL
ist Lehrerin am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Duisburg-Marxloh. Außerdem ist sie Landeskoordinatorin des Netzwerks »Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW«.

LEIBNIZ Frau Höckel, in Ihrer Studie haben Sie untersucht, inwiefern Schülerinnen und Schüler von bilingualen Lehrkräften profitieren. Wie sind Sie dabei vorgegangen, und was hat Sie an den Ergebnissen überrascht?

LISA HÖCKEL Für meine Studie habe ich die Daten des Nationalen Bildungspanels NEPS genutzt, das die Bildungsverläufe von Menschen nachzeichnet. Konkret habe ich untersucht, ob ein Kind mit Einwanderungsgeschichte bessere Leistungen erzielt, wenn es von einer Lehrerin oder einem Lehrer mit Einwanderungsgeschichte unterrichtet wird. In der Studie konnte ich zeigen, dass bilinguale Lehrkräfte in Bezug auf Lese- und Schreibfähigkeiten tatsächlich einen positiven Einfluss auf die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler haben. Besonders spannend war, dass das nicht nur für Kinder mit Einwanderungsgeschichte gilt – sondern für alle Kinder. Im Fach Mathematik hingegen konnte ich praktisch keinen Unterschied feststellen.

Wie erklären Sie sich diesen Effekt?

HÖCKEL Lehrkräfte mit Migrationshintergrund, die bilingual aufgewachsen sind, haben einen anderen Zugang zu Sprache. Sie reflektieren Sprache mehr, stellen Unterschiede fest und können diese besser erklären. Das ist gewissermaßen ihre Superkraft, die ihnen dabei hilft, Sprachen besser zu unterrichten.

Frau Müller-Eroğul, Sie unterrichten Geografie und Psychologie am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Duisburg-Marxloh, an dem ein Großteil der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund hat. Sie selbst sind türkischst.mmig. Haben auch Sie diese Superkraft?

ATIKA MÜLLER-EROĞUL Leseverständnis und Sprachen-Skills spielen auf jeden Fall auch in meinem Unterricht eine große Rolle. Als bilinguale Lehrkraft habe ich wahrscheinlich ein besseres Verständnis für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und weiß, worauf Sprachschwierigkeiten und Verständnisprobleme zurückzuführen sind. Manchmal machen sie etwa komische Fehler in der Wortwahl oder im Satzbau. Im Türkischen sagt man zum Beispiel »Suppe trinken« statt »Suppe essen«. Ich weiß, wie solche Fehler entstehen – und gehe verständnisvoller damit um.

Schülerinnen während des Unterrichts. Berivan Tosun meldet sich, ihre Sitznachbarin schreibt in ein Heft.
Die Schülerin Precious Mbabuike mit einem Smartphone in der Hand. Hinter ihr blaue Schließfächer.

Berivan und Precious, Ihr seid beide 16 Jahre alt und besucht die 10. Klasse des Gymnasiums. Seid auch Ihr mehrsprachig aufgewachsen?

BERIVAN TOSUN Meine Eltern sind Kurden aus der Türkei, wohnen aber schon seit über 20 Jahren in Deutschland. Zu Hause sprechen wir drei Sprachen: Türkisch, Kurdisch und Deutsch. So viele Sprachen überfordern mich manchmal. In der Schule kamen ja auch noch Englisch und Französisch dazu. Zugleich weiß ich, dass meine Mehrsprachigkeit ein krasser Vorteil ist. Allein hier, in diesem Stadtteil, hat mich mein Türkisch sehr vorangebracht.

PRECIOUS MBABUIKE Meine Eltern sind aus Nigeria, leben aber auch schon seit 20 Jahren hier. Zu Hause sprechen wir Deutsch und Englisch, obwohl das gar nicht die Muttersprachen meiner Eltern sind. Mein Vater und meine Mutter kommen aus unterschiedlichen Stämmen, die verschiedene Sprachen sprechen. Wir haben uns deshalb darauf geeinigt, dass unsere Familiensprache Englisch ist. 

Was schätzt Ihr am Unterricht von Frau Müller-Eroğul und anderen Lehrkräften mit Migrationshintergrund?

BERIVAN Ich fühle mich einfach wohler bei Lehrern, die einen ähnlichen Background haben wie ich. Einerseits können sie Dinge in mehreren Sprachen erklären. Andererseits verstehen sie meinen Hintergrund und meine Probleme besser. Kultur und Sprache gehen ja Hand in Hand.

PRECIOUS Mir geht es ähnlich. Selbst wenn eine Lehrkraft nicht direkt aus Nigeria stammt, sondern zum Beispiel aus der Türkei, fühle ich mich wohler. Mein Freundeskreis besteht größtenteils aus türkischen Freunden, deshalb habe ich zu Menschen aus der Türkei eine gute Verbindung. Ich würde sie viel eher auf meine Probleme ansprechen als andere Lehrer. Eine Lehrkraft aus Nigeria – mit der gleichen Hautfarbe wie ich – das wäre aber noch besser.

Konnten Sie einen solchen Effekt auch in Ihrer Studie nachweisen, Frau Höckel?

HÖCKEL Diesen »Role-Model-Effekt« konnte ich tatsächlich auch in meiner Studie feststellen: Kinder mit Einwanderungsgeschichte schätzen ihre Lehrkräfte positiver ein, wenn diese ebenfalls eine Einwanderungsgeschichte haben. Das gilt selbst dann, wenn sich die Herkunftsländer und -biografien unterscheiden. Auch Studien aus den USA zu Themen wie Geschlecht oder Hautfarbe zeigen: Je ähnlicher man einer Lehrkraft ist, desto besser fühlt man sich aufgehoben, und umso größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Vorbildfunktion einnimmt.

Frau Müller-Eroğul, wie haben Sie selbst Deutsch gelernt, und wie sind Sie Lehrerin geworden?

MÜLLER-EROĞUL Meine Eltern sind in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert. Ich selbst wurde in Deutschland geboren. Zu Hause haben wir nur Türkisch gesprochen, Deutsch habe ich erst im Kindergartenalter gelernt, von den Nachbarskindern. Nach der Grundschule habe ich die Hauptschule besucht und dann eine Ausbildung zur Drogeriefachfrau gemacht. In meiner Nachbarschaft wohnten fast nur Familien mit türkischem Hintergrund, ein einziger Nachbar hatte studiert. Sein Beispiel hat mich wahnsinnig motiviert. Ich habe aufgehört zu arbeiten und holte das Abitur nach. Zu Hause hatten mir meine Eltern immer beigebracht, mich unterzuordnen, sonst sei ich eine schlechte Tochter. An der Universität sah ich plötzlich Türkinnen, die frei denken und sich frei bewegen konnten. Das fand ich toll.

BERIVAN TOSUN (links)
ist 16 Jahre alt und Schülerin der 10. Klasse des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums. Ihre Lieblingsfächer sind Englisch und Chemie. Nach der Schule möchte sie Medizin oder Recht studieren.

PRECIOUS MBABUIKE
ist ebenfalls 16 Jahre alt und Berivans Klassenkameradin. Im nächsten Schuljahr kommt sie in die gymnasiale Oberstufe und möchte später am liebsten im öffentlichen Dienst arbeiten.

Atika Müller-Eroğul schaut auf das Blatt einer ihrer Schülerinnen.
Schulhof mit Bäumen vor einem weiß-grauen Gebäude.

Ich kann für Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund besser da sein.

ATTIKA MÜLLER-EROĞUL

Nach dem Studium sind Sie an eine Schule gegangen, deren Schüler- und Lehrerschaft sehr divers ist. War das eine bewusste Entscheidung?

MÜLLER-EROĞUL Ich habe mein Referendariat hier gemacht und bin danach auch bewusst an dieser Schule geblieben. Warum sollte ich meine besondere Kompetenz und Erfahrung in diesem Bereich nicht auch nutzen? Ich kann damit für Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund besser da sein, sprachlich wie kulturell.

HÖCKEL Das finde ich spannend. In meiner Studie habe ich nämlich auch untersucht, ob Lehrkräfte mit Einwanderungsgeschichte Kinder mit Einwanderungsgeschichte bevorzugen, indem sie sie beispielsweise subjektiv besser benoten. Das wäre gefährlich, weil so andere Kinder benachteiligt würden. Es hat sich aber gezeigt: Das ist nicht der Fall.

Umgekehrt gibt es Studien, die zeigen, dass herkunftsdeutsche Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler mit Einwanderungsgeschichte schlechter beurteilen.

HÖCKEL Das ist richtig. Manchmal handelt es sich dabei schlichtweg um Diskriminierung. Vieles hat aber auch mit kulturellem Verständnis oder fehlender Sprachkenntnis zu tun. Wenn ein Schüler im Unterricht ein Wort in seiner Herkunftssprache sagt, kann eine Lehrerin mit derselben Muttersprache das einbeziehen. Anderen Lehrkräften ist das nicht möglich.

MÜLLER-EROĞUL Das kenne ich auch. Wenn wir im Unterricht einen Sachtext erarbeiten, sind häufig schwierige Wörter dabei. Manchmal unterhalten die Schülerinnen und Schüler sich dann in ihrer Muttersprache darüber. Sprechen sie auf Türkisch, verstehe ich, dass sie sich über die Unterrichtsinhalte austauschen. Sprechen sie in einer anderen Sprache, sage ich manchmal: »Was quatscht ihr da?«

Haben Sie den Eindruck, dass die unterschiedlichen Sprachen, die die Schüler von zu Hause mitbringen, an der Schule Wertschätzung erfahren?

MÜLLER-EROĞUL Noch vor ein paar Jahren hat man an unserer Schule gesagt: Hier wird Deutsch gesprochen, wir sind an einer deutschen Schule! Selbst im Lehrerzimmer hat man so etwas immer wieder gehört. Heute hat sich das gewandelt. Vermutlich hat sich herumgesprochen, dass Mehrsprachigkeit von Vorteil sein kann. Insgesamt merkt man aber eine Hierarchie der Sprachen. Es ist ein Unterschied, ob im Flur auf Französisch oder Türkisch gesprochen wird.

BERIVAN Diese Hierarchie kenne ich auch. Türkisch ist nicht so angesehen wie die englische oder französische Sprache. Das finde ich schade.

Kinder spielen Ball an einer Tischtennis Platte auf dem Schulhof.
Lisa Höckel sitzt an einem Tisch, an der Wand hinter ihr Schwarzweiß-Fotogrfien.

Würdet Ihr euch mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund an Eurer Schule wünschen?

BERIVAN An unserer Schule gibt es ja bereits viele, etwa 20 Prozent stammen aus anderen Ländern. Das finde ich gut. Ich denke aber, dass es weniger um die Frage des Deutschseins geht, sondern darum, ob ein Lehrer meine Kultur und meine Probleme versteht.

Wie meinst Du das?

BERIVAN Bei jungen, deutschen Lehrern, die mit vielen verschiedenen Nationalitäten aufgewachsen sind, fühle ich mich auch wohler. Vor Kurzem war zum Beispiel Zuckerfest. Die Lehrerin meiner Geschwister hat Sü.igkeiten an die Kinder verteilt. Und sie hatte Verständnis, dass muslimische Kinder eine Aufgabe nicht erledigen konnten, weil sie mit ihrer Familie gefeiert haben. Obwohl sie selbst nicht in diesem Kulturkreis aufgewachsen ist.

HÖCKEL Deutschlandweit beträgt der Anteil an Lehrkräften mit Einwanderungsgeschichte nur etwa acht Prozent, während 33 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Einwanderungsgeschichte haben. Das ist schon eine große Diskrepanz. Grundsätzlich finde ich, dass die Gesellschaft, in der wir leben, sich auch im Lehrerzimmer widerspiegeln sollte.

Warum ergreifen Menschen mit Migrationshintergrund so selten den Beruf der Lehrerin oder des Lehrers?

HÖCKEL Dafür gibt es viele Gründe. Nach wie vor macht ein geringerer Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte das Abitur – und erlangt so die Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen. Eine einfache politische Maßnahme wäre es, den Zugang zum Lehramtsstudium zu erleichtern. Das halte ich aber für keine gute Idee. Besser sollte man Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund früher fördern und strukturelle Benachteiligungen schon im Kindergarten oder in der Schule beseitigen. In manchen Milieus von Einwanderern hat der Beruf der Lehrkraft auch wenig Prestige, Lehrer oder Lehrerin zu werden ist also nicht so attraktiv.

MÜLLER-EROĞUL Viele Menschen mit Migrationshintergrund fühlen auch eine gläserne Decke, eine unsichtbare Barriere also, die sie nicht durchbrechen können – und trauen sich deshalb nicht so viel zu. Das beobachten wir auch in unserem Netzwerk »Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW«, das Abiturientinnen und Abiturienten mit Migrationshintergrund ermutigen will, ein Lehramtsstudium aufzunehmen, und den Austausch zwischen Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte fördert. Dort haben wir eine Umfrage gestartet: Wer würde eine Schulleitungsposition annehmen? Viele wünschen sich diese Position, bewerben sich aber nicht, weil sie denken, sie hätten ohnehin keine Chance. Ich frage mich: Haben wir die falsche Strategie oder muss man als Lehrkraft mit Migrationshintergrund einfach mehr leisten? 

Die Gesellschaft, in der wir leben, sollte sich auch im Lehrerzimmer widerspiegeln.

LISA HÖCKEL

Berivan Tosun, Lisa Höckel, Precious Mbabuike und Atika Müller-Eroğul vor einer Tischtennis Platte auf dem Schulhof.

Wie ist das mit Euren Eltern, Berivan und Precious? Unterstützen sie Euch?

BERIVAN Meine Eltern stehen voll hinter mir. Sie sagen: Geh studieren, mach eine Ausbildung, bilde dich weiter. Du hast alle Möglichkeiten, die wir nicht hatten!

PRECIOUS Ich habe zwar noch kein konkretes Berufsziel vor Augen, aber meine Eltern unterstützen mich auch bei allem, was ich ausprobieren will. Ehrlich gesagt, denken meine Eltern viel positiver als ich. Sie haben hohe Erwartungen, die sie auch erfüllt haben wollen.

BERIVAN Manche Freundinnen von mir spüren auch richtig viel Druck. Sie denken, dass sie etwas erreichen müssen, was ihre Eltern nicht erreichen konnten.

HÖCKEL Diesen Befund kennen wir auch aus der Wissenschaft. Aus Befragungen wissen wir, dass die Bildungsaspiration von Familien mit Einwanderungsgeschichte manchmal sogar höher ist – und dass das auch eine Belastung für die Kinder sein kann. 

Was raten Sie Lehrerinnen und Lehrern, Frau Höckel und Frau Müller-Eroğul? Wie können sie ihren Schülerinnen und Schülern da helfen?

MÜLLER-EROĞUL Herkunftsdeutsche Lehrer brauchen mehr Hintergrundwissen, mehr Sensibilität und mehr Möglichkeit zur Reflexion über den Umgang mit Diversität. Wenn Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund positives Feedback bekommen, trägt das stark dazu bei, dass sie bessere Leistungen erzielen. Wir brauchen mehr Raum, um uns darüber auszutauschen, im Studium wie im Kollegium.

HÖCKEL In meiner Studie konnte ich zeigen, dass Lehrkräfte, die ein Verständnis von Diversität haben und die Vielfalt wertschätzen, auch einen positiven Einfluss auf Schülerinnen und Schüler mit Einwanderungsgeschichte haben – unabhängig von ihrer eigenen Herkunft. Es sollte einfach keinen Unterschied machen, wo Lehrkräfte ihre Wurzeln haben, weil sie ohnehin alle im Klassenraum gleich behandeln. Das wäre das beste Szenario.

HÖRTIPP
Mit dem Thema Mehrsprachigkeit befasst sich auch eine Folge von »Date a Scientist«,  des neuen Podcasts der Leibniz-Gemeinschaft. 

 

WIE VIELFÄLTIG SIND SCHULBÜCHER?

Spiegeln Schulbücher die vielfältigen Einwanderungsgeschichten der Schülerinnen und Schüler in Deutschland wider? Auch wenn Unterrichtsmaterialien immer diverser werden, stellen sie Migration noch häufig als Problem oder Konfliktauslöser dar. Forschende des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Institut für Bildungsmedien fordern deshalb, kulturelle Unterschiede positiver zu behandeln, um Kinder und Jugendliche stark gegen Rassismus und Antiislamismus zu machen. Dabei sollten auch Klischees aktiv aufgebrochen werden: Nicht alle Türkinnen tragen Kopftuch, nicht alle Deutschen sind weiß. Und auch beim Blick in die Vergangenheit gibt es mehr als eine Perspektive – etwa die Stimmen der Unterdrückten der Kolonialzeit.

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