leibniz

Der Kontrollraum

Beim ersten Stopp unserer Führung durchs Internet bemerken Sie zunächst nichts Besonderes. Wir befinden uns in einem gigantischen Raum mit Angeboten, so weit das Auge reicht: digitale Marktplätze, soziale Netzwerke, kreative Plattformen – alle durchaus qualitativ hochwertig, professionell und mit Einfallsreichtum entwickelt. Hier kann man konsumieren, sich vernetzen, Kultur und Unterhaltung genießen. Die einzige Voraussetzung: Die Regeln müssen befolgt, dürfen nicht hinterfragt werden. Verstöße und abweichendes Verhalten werden sanktioniert. So werden etwa Beförderungen verhindert, die Kreditwürdigkeit wird herabgestuft. Im schlimmsten Fall stehen die Sicherheitsbehörden vor der Tür, es drohen Gefängnisstrafen. Willkommen im chinesischen Internet! Hier gibt es eigene Soziale Netzwerke, losgekoppelt von Facebook und Co., und Suchmaschinen, die bestimmte Begriffe und Treffer ausblenden. Große Firewalls, überwachtes Streaming, kontrollierter Zahlungsverkehr. In China, aber auch in Russland, dem Iran und weiteren autoritären Staaten wird das Netz streng kontrolliert und zensiert, um Kritik am politischen System zu unterdrücken. Das Internet ist hier ein Raum, der gewisse Marktfreiheiten bietet, aber nach außen hin hermetisch abgeschlossen ist.

Drei Kameras, die in unterschiedliche Richtungen zeigen, vor einem bewaldeten Hügel.
Foto ISAAC CHOU/UNSPLASH

Der Hassraum

Im nächsten Raum ist es dunkel, deswegen wissen wir nicht genau, wie groß und voll er ist. Wir sehen nur, dass sich immer mehr Menschen hier aufhalten, alle zusammen in einem Raum, aber jeder für sich und allein mit seinen Emotionen. Mit Selbstzweifeln. Mit Argwohn. Mit dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber Frauen, marginalisierten Menschengruppen und politisch Andersdenkenden. Oft steigern sich diese Emotionen zu Hass. Es wird geschimpft, verleumdet, gehetzt, verunglimpft. Wir treffen hier Menschen, die rassistische, antisemitische und antidemokratische Tendenzen in sich tragen. Das sind zum Beispiel Incels, also Männer, die unfreiwillig zölibatär leben und dafür den Frauen die Schuld geben. In Onlineforen wie Reddit lassen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Auch auf Telegram, eigentlich ein Messengerdienst, versammeln sich Menschen in Gruppen von mehreren Tausend Mitgliedern – und hetzen. Es gibt Moderationsteams, die aber je nach Forum unterschiedlich streng agieren. Eine weitestgehend zentrale, rechtlich legitimierte Kontrollinstanz fehlt bisher. Zum nächsten Raum gelangen wir sehr schnell.

Wachturm aus Holz, auf dem ein NPD-Plakat klebt, hinter einem hohen Gatter.
Foto ANNE SCHÖNHARTING/OSTRKREUZ

Der Gefahrenraum

Nur ein Vorhang trennt ihn vom vorherigen. Das Erste, was Ihnen in diesem Raum auffallen wird, ist die ohrenbetäubende Lautstärke. Wohin man auch geht, man wird angequatscht und aufgehetzt. Wir sehen Bilder und Videos, die fake sind oder Zusammenhänge bewusst verzerren. So werden Gedanken und Erzählungen gestärkt, mit denen man schon vorher sympathisiert hat. Faschistische, antisemitische Weltbilder, häufig verquickt mit anti-feministischen Tendenzen. Wer eintritt, wird sich freuen, dass Gedanken, für die man draußen schräg angeguckt oder verklagt würde, hier Anschluss finden und sogar gefördert werden. In diesem Raum werden Menschen, ähnlich wie im Hassraum, radikalisiert. Was die Räume unterscheidet: Im Gefahrenraum gibt es eine Tür nach draußen. Und gelegentlich trägt jemand seine extremistische Haltung ins echte Leben. Halle, Hanau, Idar-Oberstein. Wir kennen diese Fälle.

Gedenkkerzen, Fotos, Blumen am Fuße eines Denkmals vor einer Baustelle.
Foto ALEX KRAUS/LAIF

Der Schutzraum

Wenn Sie Opfer dieses Hasses sind, können Sie sich hoffentlich über den Flur in den Schutzraum retten – den Safe Space. Das ist ein Raum, in dem Betroffenen digitaler Gewalt Erste Hilfe geleistet wird. Hier bekommen sie rechtliche und psychosoziale Unterstützung. Zu verdanken ist das Organisationen wie HateAid, die kostenfreie Rechtsberatung anbieten und bei Bedarf vor Gericht gehen. Auch Antidiskriminierungsstellen, Frauenhäuser und Vereine gegen Gewalt sind verstärkt digital unterwegs. Leider wird digitale Gewalt noch zu oft als nicht real abgetan. Dabei sind die Auswirkungen – auch auf das analoge Leben – massiv: Persönliche Daten und intime Bilder werden veröffentlicht, Menschen müssen ihren Arbeitgeber oder Wohnort wechseln. Hier im Schutzraum werden sie ernst genommen und es wird ihnen geholfen. Dieser Raum ist wichtig, aber leider noch sehr klein.

Eine Frau umarmt ein Mädchen, hinter ihnen Schattenspiele an der Wand.
Foto DAWIN MECKEL/OSTKREUZ

Der Liebesraum

Ist der Schutzraum ein Ort der Ersten Hilfe bei digitaler Gewalt, so finden Menschen im Liebesraum den Ort, an dem sie ihre Identität, unterschiedlichste Interessen, sexuelle Bedürfnisse und Vorlieben sicher und ermächtigt ausleben können. Sie bilden zudem Communitys und tauschen sich aus. Ein solcher Liebesraum ist GayRomeo, eine Datingplattform ähnlich wie Tinder und OkCupid, aber mit Fokus auf homo-, bi- und transsexuelle Menschen. Auch Netzwerke für Menschen mit Migrationshintergrund und feministische Foren können Liebesräume sein, ein Beispiel ist das intersektionale Arbeitsnetzwerk BIWOC* Rising. Gelegentlich kommen auch Menschen, die ihre feindlichen Ansichten aus dem Hassraum mit hierherbringen. Doch relativ strenge Guidelines regeln, was im Raum erlaubt ist und was nicht. Moderiert wird er von Menschen, die oft selbst Teil der Community sind und damit ihre Eigenheiten und Debatten kennen. Der Liebesraum hat eine Tür ins Freie – und damit das Potenzial, dass dort diskutierte Bedürfnisse und Forderungen auch in der analogen Welt sichtbarer werden.

Ein Raum voller Kuscheltiere, mit Poster eines nackten männlichen Oberkörpers und einem Fotokalender.
Foto TOBIAS KRUSE/OSTKREUZ

Der Wissensraum

Treten Sie nun ein in den Wissensraum. Diese multimediale Bibliothek wird von einer Schwarmintelligenz getragen, die sich immer wieder korrigiert und reflektiert. Hier finden Sie nicht nur das Wissen, nach dem Sie gerade suchen – durch Verlinkungen und Querverweise gelangen Sie gleich zum nächsten Wissenshäppchen. Auf diese Weise erschließen Sie den Kontext Ihres Themas und erfahren nebenbei, wie Wissen entsteht und sich organisiert. Dieser Raum zeigt auch, dass Menschen global zusammenarbeiten können, um Wissen zugänglicher und demokratischer zu gestalten. Doch es gibt auch Wermutstropfen: Die Schwarmintelligenz hat noch immer einen Bias. Auf Wikipedia, dem wohl bekanntesten digitalen Wissensraum, werden zum Beispiel viel mehr Einträge über Männer als über Frauen veröffentlicht – auch weil noch deutlich mehr Männer Einträge schreiben. In Deutschland veranstalten Wikipedianerinnen und Wikipedianer deshalb bereits spezielle Hackathons für Frauenbiografien. Weltweit wird ein »User Code of Conduct« für alle Sprachversionen der Wikipedia erarbeitet, um die Online-Wissensproduktion global gerechter und inklusiver zu gestalten.

Ein Ameisenhaufen.
Foto MARKUS MAUTHE/LAIF

Der Freiheitsraum

HINTERGRUND
Beim Erstellen dieser »Führung« durchs Internet haben uns neben der Politikwissenschaftlerin Katharina Mosene die Pädagogin Christina Dinar und der Internetrechtler Matthias C. Kettemann vom Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut unterstützt.

Sehen Sie vor sich eine große, offene Terrasse mit vielen kleinen Sitzinseln – mit Menschen, die angeregt diskutieren oder an einer Werkbank gemeinsam tüfteln? Dann sind Sie am Ende unserer Führung im Freiheitsraum angekommen. Hier werden verschiedene Workshops, Gespräche und partizipative Formate angeboten, um mit Bürgerinnen und Bürgern Fragen wie diesen nachzugehen: Was kann das Internet für unsere Gesellschaft tun? Wie können wir mit seinen Möglichkeiten die Demokratie stärken? Welche Gefahren gibt es und wie können wir ihnen begegnen? Viele global agierende NGOs und Initiativen widmen sich diesen Themen. Tactical Tech etwa ist ein Kollektiv, das digitales Knowhow und Medienkompetenzen an Aktivistinnen und Aktivisten weitergibt. Die Association for Progressive Communications stellt Kommunikations- und Infrastrukturen bereit, um soziale und demokratische Bewegungen zu unterstützen. Fühlen Sie sich willkommen, in diesem kreativen Raum Ihren Platz zu finden und Demokratie mitzugestalten!

Jugendliche mit Megafonen bei einer Kundgebung.
Foto SEBASTIAN WELLS/OSTKREUZ

Vielleicht auch interessant?