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MATTHIAS KLEINER
ist seit 2014 Präsident der Leibniz-Gemeinschaft.

 

CORNELIA BETSCH
ist Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt.

 

JONAS SCHMIDT-CHANASIT
leitet die Arbeitsgruppe Arbovirologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, einem Leibniz-Institut in Hamburg.

 

LEIBNIZ Herr Kleiner, nie waren Wissenschaftler als Berater in der Politik mehr gefragt als heute. Tut das der Wissenschaft gut?

MATTHIAS KLEINER Ja. Wir beraten Politiker ja schon lange. Aber es tut allen gut, die Rollenverteilung zwischen Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit nun auch nach außen sehr klar zu kommunizieren. Die Wissenschaft berät, entscheidet aber nicht. Die Politik braucht Beratung, um gut entscheiden zu können. Auch wenn der Anlass dafür traurig ist: Dass gute Politik, gute Verwaltung und gute Wissenschaft so zusammenarbeiten, ist wunderbar.

Gegen diese These steht ein relevanter Teil der deutschen Öffentlichkeit, der die Herrschaft der Virologen angebrochen sieht.

JONAS SCHMIDT-CHANASIT Das ist genau die Problematik, unter der wir alle leiden. Sie skizzieren ein Idealbild, Herr Kleiner, das ich mir auch wünsche. In der Realität gibt es aber Abweichungen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen finde ich es wichtig, zu unterscheiden, ob Wissenschaftler persönlich beraten, oder ob die Institutionen eingeladen sind. Für Einzelne wird die Belastung durch Politikberatung und Öffentlichkeitsarbeit schnell zu groß. Man hat bestimmte Vorgänge und Äußerungen nicht mehr in der Hand. Deshalb bin ich sehr dafür, eine aktive Rolle zu spielen – aber nur, wenn man sich auch wieder entziehen kann. Gerade wenn nur wenige Experten in einem Bereich tätig sind, kann man Beratung oder eine ständige Präsenz in den Medien nicht jederzeit erwarten.

CORNELIA BETSCH Vor allem, wenn Menschen unsicher sind, suchen sie jemanden, dem sie vertrauen. Das funktioniert besser, wenn Geschichten über echte Menschen erzählt werden können. Wenn man beispielsweise weiß, dass ein Virologe sein Bier auch mal aus der Flasche trinkt, dass er Familie hat, kann man mit ihm so eine ähnliche Beziehung aufbauen wie mit dem Serienlieblingshelden. Viele Menschen führen jetzt mit Virologen eine solche parasoziale Beziehung. Das sind ganz normale Prozesse. Die müssen nur jetzt die Kollegen ausbaden.

Unsere Glaubwürdigkeit ist unser Kapital.

JONAS SCHMIDT-CHANASIT

Porträt von Jonas Schmidt-Chanasit.
Foto BNITM

Das Titelbild zum Interview zeigt Jonas Schmidt-Chanasit mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in der Talkshow Hart aber Fair vom 16. März.

Herr Schmidt-Chanasit, wie trinken Sie Ihr Bier?

SCHMIDT-CHANASIT Die Leute interessieren sich schnell für Dinge, die mit der Wissenschaft gar nichts zu tun haben. Ob jemand sympathisch wirkt, eine schöne Frisur hat, verheiratet ist, oder Bier trinkt. Deshalb bin ich für Gremien. Wir müssen verhindern, dass der Druck oder die Verantwortung am Ende auf den Schultern von zwei oder drei Wissenschaftlern liegt.

BETSCH Es entwickelt sich so eine Art Pop-Kult. Auf der einen Seite gibt es mehr Wissen, auf der anderen aber verschwimmen manchmal die Grenzen zur Unterhaltung.

Das ist doch nicht verwerflich?

BETSCH Wir – auch in der Wissenschaft – sind den Kollegen dafür sehr dankbar. Christian Drosten hat gerade von der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Preis für herausragende Forschungskommunikation bekommen. Das zeigt, dass diese Arbeit aus der Wissenschaftsgemeinde heraus sehr wertgeschätzt wird. Aber man muss ganz klar sagen: Es ist nichts, das wir in unserer Ausbildung irgendwann einmal trainiert haben. Es kostet wahnsinnig viel Zeit und man hat nicht immer etwas davon. Auch die Kollegen beäugen das nicht immer sehr freundlich. Und letztendlich verselbstständigen sich manche Prozesse.

Welche?

BETSCH Wenn zum Beispiel künstlich Kontroversen inszeniert werden, nur weil es die bessere Geschichte ist.

Und das ist falsch?

BETSCH Wissenschaftler haben gelernt, die Unsicherheit zu umarmen. Durch die Auseinandersetzung mit Kollegen lernen wir, revidieren unsere Ansichten, finden neue Beweise. Für die Öffentlichkeit ist das aber manchmal schwer auszuhalten, für Politiker schwer umzusetzen.

Weil die Öffentlichkeit keine Fußnoten kennt?

KLEINER Wenn Wissenschaftler tatsächlich Popstars werden, dann sind es Popstars mit einer besonderen Prägung. Ich habe in den letzten Wochen erlebt, dass die Öffentlichkeit die Kommunikation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr hoch bewertet. Offenheit, Nachdenklichkeit und das Zugeben von Unsicherheiten bedeuten hohe Authentizität. Mir scheint eher, dass Medien wie Talkshows an gewisse Grenzen geraten und Rollen fortschreiben, in die Wissenschaftler nicht passen.

Es entwickelt sich ein Pop-Kult.

CORNELIA BETSCH

Porträt von Cornelia Betsch
Foto MARCO BORGGREVE

Schulden Wissenschaftler der Politik und der Öffentlichkeit denn nichts? Der Steuerzahler steht schließlich für alles gerade, was Sie tun.

KLEINER Die Gesellschaft hat ein Recht auf mein Wissen. Sie hat auch ein Recht auf meine Expertise. Sie hat aber nicht das gleiche Recht, sich über meine Haare oder über mein Outfit zu erregen, oder über die Frage, ob ich verheiratet bin oder nicht.

SCHMIDT-CHANASIT Wir erfüllen unseren Auftrag, indem wir Forschungsergebnisse erzielen und sie zur Verfügung stellen, in bestimmten Situationen sie auch plausibel und verständlich kommunizieren. Viel weiter sollte es nicht gehen. Am Bernhard-Nocht-Institut beschäftigen wir uns mit der Tropenmedizin. Das Corona-Virus ist keine typische Tropenkrankheit. Nichtsdestotrotz haben wir uns natürlich jetzt in die Verantwortung nehmen lassen. Aber wir müssen fragen, wie weit so etwas gehen kann. Darf die Politik letztendlich die Forschung verändern und in eine bestimmte Richtung drängen?

KLEINER Die Autonomie der Wissenschaft darf auch hier nicht in Frage gestellt werden.

BETSCH Wir haben die Autonomie. Es gibt aber einen großen Unterschied, ob eine Landesregierung um Rat fragt, oder ob ein Ministerpräsident eine gemeinsame Pressekonferenz anberaumt.

Sie spielen auf die Heinsberg-Studie des Virologen Hendrik Streeck an, der das Infektionsgeschehen in dem besonders stark betroffenen Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen untersucht hat. Auf der einen Seite gab es Einwände aus der Wissenschaft, weil die üblichen Standards vor der Veröffentlichung nicht eingehalten worden seien. Und auf der anderen Seite gab es öffentlichen Krach, weil die Studie vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) benutzt wurde, um Lockerungen im Corona-Regiment zu begründen.

BETSCH Es ist etwas anderes, ob ein Wissenschaftler sein Wissen einbringt, das dann mit der Expertise anderer verglichen wird. Oder ob er mit der Politik zusammen vor die Kameras geht, oder seine Ergebnisse erstmals in Talkshows präsentiert. Alles, was wir zu Corona wissen, ist vorläufig. Deshalb ist der wissenschaftliche Kontext für die Diskussion wichtig. Momentan sind die vorläufigen Befunde allerdings meist alles, was wir haben und auf dieser Basis treffen nun die Politiker politische Entscheidungen – das ist eine Ausnahmesituation.

SCHMIDT-CHANASIT Die Wissenschaft, wie sie sich in den Medien darstellt, ist eine andere als die, die wir als Forscher kennen. Eine Situation, mit der nicht jeder gleich gut umgehen kann. Hier muss man sich schützend vor die Kollegen stellen, die das im Augenblick erleben. Unsere Glaubwürdigkeit ist unser Kapital. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen – auch nicht in einer Art erzwungener Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft.

Herr Streeck ist aber doch nicht gegen seinen Willen vor die Kameras gezerrt worden.

KLEINER Nein, aber ich würde allen Kolleginnen und Kollegen in der Leibniz-Gemeinschaft jederzeit abraten, sich einer PR-Agentur anzuvertrauen und in eine entsprechende Kampagne hineinziehen zu lassen.

SCHMIDT-CHANASIT Ja.

BETSCH Ja.

KLEINER Die Medien haben sich in der Corona-Pandemie dynamisch verändert. Am Anfang der Krise gab es auch hier eine große Gemeinsamkeit, das Bedürfnis, die Krise gemeinsam zu meistern. Jetzt finden vielen Medien zurück in den Aufregungs- und Konfrontationsmodus, den wir vorher am Beispiel SPD-Führung, Thüringen oder CDU-Spitze erlebt haben.

Die Gesellschaft hat ein Recht auf unser Wissen.

MATTHIAS KLEINER

Porträt von Matthias Kleiner
Foto LEIBNIZ-GEMEINSCHAFT/OLIVER LANG

Ist es denn falsch, über Streit zu berichten, wo es ihn gibt – und über unterschiedliche Ansätze in der Krisenbewältigung?

KLEINER Nein, das ist nicht falsch. Aber hier hat man fast den Eindruck, als seien die Medien erleichtert, wieder in den alten Mustern arbeiten zu können.

Hat denn die wissenschaftliche Beratung von Bundes- und Landespolitikern die Art und Weise verändert, wie Politik gemacht wird?

BETSCH Das wissen wir noch nicht. Ich finde es gut, dass sich die Politik im Augenblick stärker um Wissenschaft kümmert. Es sind ja nicht nur Mediziner und Epidemiologen, sondern auch Verhaltensforscher, Sozialwissenschaftler, die nun gefragt sind. Wir haben es ja immer noch mit einer Krise zu tun, die ausschließlich durch Verhaltensänderungen zu beheben ist. Ich hoffe, dass sich das weiter entwickelt und dass diese wissenschaftliche Arbeit auch die Akzeptanz der notwendigen Maßnahmen weiter unterstützt.

KLEINER Mein Eindruck ist, dass die Politik stärker auch für sich erkennt, dass man auch mit unvollständigen Informationen Entscheidungen treffen muss, dass man auch bereit sein muss, einmal eingeschlagene Wege zu verändern, vielleicht sogar Maßnahmen wieder zurückzunehmen.

Wenn man das als politisches Programm beschreiben würde, kann man seine Laufbahn gleich an den Nagel hängen. Aber wissenschaftlich betrachtet ist das der übliche Weg, oder?

KLEINER Ja. Interessant ist, dass Politiker an öffentlichem Vertrauen gewinnen, wenn sie diese differenzierte Arbeitsweise transparent machen. Wenn sie beschreiben, von welchen Informationen sie sich leiten lassen, oder welche Irrtümer sie gerade korrigieren, werden sie dafür nicht bestraft. Diese Erfahrungen bringen unsere Demokratie weiter.

Aber am Ende liegt die Entscheidung beim Wähler. Und der will keine komplexen Situationen, auch wenn Wissenschaftler das toll finden. Der möchte gern jemandem vertrauen, der ihm eine Lösung bringt.

KLEINER Eine Landesregierung wie die in Schleswig-Holstein, die ohne großes Spektakel kooperativ arbeitet, wird doch sehr positiv wahrgenommen.

Spielt denn in solchen Konstellationen die wissenschaftliche Beratung eine größere Rolle?

KLEINER Ich glaube ja. Weil die Politik ihre Verantwortung, komplexe Probleme zu lösen, wahrnimmt.

Aber man soll doch nicht verhehlen, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt?

SCHMIDT-CHANASIT Ich bin überzeugt davon, dass die Wissenschaft einen geschützten Raum braucht, in dem man sich jenseits der Öffentlichkeit austauschen kann. Wir sind gewöhnt, mit vorläufigen Ergebnissen zu arbeiten und daraus auch operative Empfehlungen abzuleiten. Wir müssen schnell sein, selbst um den Preis, dass die eine oder andere Erkenntnis oder Aussage später revidiert werden muss. Wenn aber jede kleine Studie gleich in der breiten Öffentlichkeit präsentiert und dort teilweise eben auch kontrovers von Nichtwissenschaftlern diskutiert wird, ist dieser Austausch gestört. Es kann nicht 80 Millionen Virologen in Deutschland geben, genauso wie es auch nicht 80 Millionen Trainer für die Fußballnationalmannschaft geben kann.

CORONA-PODCAST

Unser Gespräch mit Cornelia Betsch, Jonas Schmidt-Chanasit und Matthias Kleiner können Sie ab 30. April 2020 in voller Länge im Podcast Tonspur Wissen von t-online.de und der Leibniz-Gemeischaft hören. Für leibniz haben wir es leicht gekürzt und bearbeitet. Im Podcast widmet sich die Journalistin Ursula Weidenfeld täglich verschiedenen Aspekten der Coronakrise und spricht dazu mit wechselnden Leibniz-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern. Auch die drei Teilnehmenden dieses Gesprächs kamen dabei bereits zu Wort. Alle Folgen finden Sie hier.

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