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Frau Reichenbach, haben Sie schon mal an einer Wikingerschlacht teilgenommen?

Gekämpft habe ich nicht, aber zugeschaut schon. Zuletzt beim Wikingerfestival in Wolin in Polen. Es wurden Schlachten nachgestellt, Gebrauchsgegenstände auf mittelalterliche Art und Weise hergestellt und Gerichte aus der Zeit der Wikinger nachgekocht.

Sie waren dort nicht als Privatperson, sondern als Wissenschaftlerin. Was ist Ihr Forschungsgebiet?

Ich bin ausgebildete Archäologin und Historikerin und habe mein bisheriges Forscherinnenleben zum einen der Frühgeschichte und dem Frühmittelalter, also der Zeit zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert nach Christus, gewidmet, zum anderen aber auch politischen Instrumentalisierungen der Archäologie wie etwa im Nationalsozialismus. In meinen aktuellen Forschungsprojekten beschäftige ich mich damit, wie sich Menschen außerhalb der Wissenschaft mit dem Mittelalter auseinandersetzen und wie sie diese Zeit interpretieren. Da hat sich eine ziemlich große Szene gebildet.

Wie lässt sich untersuchen, wie Menschen sich im Privaten mit Geschichte auseinandersetzen?

Mein Schwerpunkt liegt auf dem historischen Reenactment, also zum Beispiel dem Nachstellen von Lebensweisen und Kämpfen aus der Zeit der Wikinger und frühen Slawen. Die Szene ist außerdem mit der neuheidnischen Bewegung verbunden, also Menschen, die vor-christliche religiöse Traditionen wiederbeleben möchten. Neben der Recherche in der Literatur bedeutet das auch, dass ich die Aktivitäten der Szene im Internet verfolge und Veranstaltungen wie Mittelalter- oder Wikingerfestivals besuche.

Inwiefern ist es relevant, wie Menschen heute auf das Mittelalter zurückblicken?

Die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter ist oft verbunden mit der Konstruktion von Identität und ethnischen Zugehörigkeiten. Von den Gruppen, die ich untersuche, sind viele auf der Suche nach den Wurzeln, Traditionen oder Werten unserer Gesellschaft, die sie glauben, im Mittelalter finden zu können. Das kann beeinflussen, wie Menschen heute ihre eigene Position in der Gegenwart interpretieren. Und es kann auch politisch instrumentalisiert werden, wenn ein bestimmtes historisches Narrativ betont wird, um ideologische Ziele zu unterstützen.

Die Bilder zum Interview stammen von JULIAN RÖDER. In seiner Arbeit »Licht und Angst« beschäftigt sich der Fotograf mit den Verschränkungen von Esoterik, Völkischer Ideologie und Verschwörungstheorien. Er reiste dafür nach Sibirien, um Gemeinschaften aus dem Umfeld der auch in Deutschland aktiven rechts-esoterischen Anastasia-Bewegung zu fotografieren – und entschied sich bewusst für eine Bildästhetik, die an präfaschistische Motive aus dem völkischen Teil der deutschen Lebensreformbewegung der 1920er Jahre erinnert.

Wo und wie findet das statt?

Die Zeit des Frühmittelalters erfährt aktuell ein regelrechtes Revival. Naturbezogenheit, Esoterik, Folklore, ein Rückbesinnen auf Ursprüngliches, das liegt im Trend. Sie kennen das Gefühl vielleicht: Es wirkt, als würden sich Krisen und Konflikte häufen, und das sorgt für Verunsicherung. Die Sehnsucht nach einer Zeit, in der vieles vermeintlich einfacher und klarer erscheint, liegt da nahe. Im Bezug auf das Mittelalter gibt es beispielsweise Gruppen, die kleiden sich wie im Frühmittelalter und verbringen mitunter Tage gemeinsam auf Reenactment-Festivals oder in nachgebauten historischen Dörfern. Sie kochen, kämpfen und leben dann fernab ihres modernen Alltags und suchen ein Leben im Einklang mit der Natur. Das bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, einer immer unübersichtlicher werdenden Welt für einen Moment zu entfliehen.

Das klingt nach einem netten Hobby.

Ja, aber es gibt in dieser Szene auch rechtsextreme Strömungen und Gruppierungen, die einen Schritt weiter gehen: Sie versuchen eine Verbindung zwischen Ethnizität, Natur und Geschichte herzustellen. Das kann zu einer exklusiven Identitätsbildung führen, die andere Einflüsse, wie zum Beispiel Einflüsse anderer Kulturen, ausblendet. Rechte Gruppen sehen in der Zeit des Mittelalters nämlich eine Ära kultureller Homogenität und ursprünglicher  Werte, die ihre nationalistischen und antimodernistischen Narrative untermauert. Solche Konzepte können sehr anschlussfähig für rechtsextreme Denkmuster sein, und  sie finden auch in der Populärkultur Verbreitung.

In welchen Genres passiert das?

Das können wir seit längerem zum Beispiel in der Black Metal-Szene beobachten, etwa in den Texten und der Ästhetik der norwegischen Band »Burzum« – und bei vielen Nachahmern. Der Sänger und Gründer der Band, Varg Vikernes, ist ein verurteilter Mörder und vertritt klare rechtsextreme Positionen. Der weitverbreitete Wunsch nach Rückbesinnung und einfacheren Zuständen findet so in der Popkultur, also auch in der breiteren Gesellschaft seinen Platz und kann gezielt genutzt werden, um zu polarisieren und bestimmte Weltbilder zu verstärken.

Wie genau kann man sich das vorstellen?

Hier werden Glaube, Riten, Gesellschaftsordnung, Geschlechterrollen und soziale Hierarchien aus der Vergangenheit idealisiert und unserer heutigen Gesellschaft entgegengestellt. Dabei werden häufig Traditionen erfunden, die es so nie gab. Diese vermeintlichen Traditionen basieren aber nur auf sehr fragmentarischen historischen Informationen. Gesellschaftliche Ordnungen, religiöse Praktiken oder ländliche Bräuche werden als etwas Archaisches und somit Naturgegebenes präsentiert, zu dem man wieder zurückfinden müsse.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Nehmen wir die Gesellschaftsstruktur im Mittelalter. In der völkischen Ideologie wird diese oft als eine goldene Ära der ethnischen Homogenität und kulturellen Reinheit dargestellt, bei der die Idee einer »Volksgemeinschaft« und fester Hierarchien im Vordergrund stehen. Die historische Realität aus wissenschaftlicher Sicht zeigt aber: Das Mittelalter war geprägt von Vielfalt, Migrationen und kulturellem Austausch. Es gab verschiedene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Sprachen, Bräuchen und Religionen, die koexistieren konnten.

Wie steht es um die Geschlechterrollen?

In der völkischen Ideologie werden die Aufgaben von Frauen und Männern oft sehr stereotyp dargestellt: In dieser Vorstellung sind die Männer die Krieger und Beschützer und Frauen sind in erster Linie für häusliche Aufgaben und den Erhalt der Familie zuständig. Tatsächlich waren die Geschlechterrollen aber vielfältiger und komplexer.

Es ist auch wichtig zu verstehen, dass Rollen- oder Aufgabenteilung jeweils ihren historischen Platz haben und in diesem Kontext gesehen werden müssen. Mittelalterliche Geschlechterrollen, nur weil sie weit in der Vergangenheit zurückliegen, als ursprünglicher und unverfälschter anzusehen und damit als natürlichen Zustand zu postulieren, führt zu Denkweisen, die moderne geschlechtliche und gesellschaftliche Vielfalt als »unnatürlich« oder »fremd« diffamieren.

Welche Rolle spielt der Wald für die neuen Rechten?

Die Natur und der Wald werden, ganz ähnlich wie das Mittelalter, als Symbol für Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Tradition genutzt. In unseren Breitengraden ist die Natur durch Wälder geprägt und diese Wälder erscheinen als Überreste einer längst vergangenen Zeit, als ob sie seit Jahrtausenden nach ihren eigenen, naturgemäßen Gesetzen funktionieren würden. Dabei sind Wälder und Natur von Anfang an durch den Menschen beeinflusst, ob durch das Jagen in der Steinzeit oder durch die spätere landwirtschaftliche Entwicklung. Diese Vorstellung von unverfälschter Natur wird in rechtsextremen Ideologien bisweilen auf unsere Gesellschaft übertragen und es wird behauptet, dass bei uns etwas durcheinander geraten ist, zum Beispiel durch Zuwanderung oder progressives Denken. Auf diese Weise wird dann argumentiert, dass eine Rückkehr zu alten Traditionen und einem natürlichen Zustand notwendig ist, wie es ihn vermeintlich im Mittelalter gab.

Die Menschen im Mittelalter waren doch aber tatsächlich naturverbundener?

Ja und nein. Im Mittelalter lebten die Menschen oft näher an der Natur als wir heute. Dabei stand aber meist eher eine pragmatische Nutzung der Naturressourcen im Vordergrund, auf die man zum Beispiel bei der Nahrungsbeschaffung angewiesen war. Einige Gesellschaften betonten zwar die spirituelle Bedeutung von Naturphänomenen, das war aber nicht die Regel. Völkische Ideologien betonen trotzdem ein romantisiertes Bild und behaupten: Die Menschen lebten in harmonischer Einheit mit der Natur.

Wie würde es aussehen, wenn man diesem völkischen Verständnis von Naturverbundenheit folgt?

Mit der Ursprünglichkeit der Natur wird im völkischen Denken auch eine Blut-und-Boden-Ideologie begründet: Die geographische und biologische Abstammung prägen demnach ein Volk und statten es mit kulturellen Eigenschaften aus, die dem Volk inhärent sind und übers Blut weitervererbt werden. Das negiert letztendlich die Multikulturalität historischer wie gegenwärtiger  Gemeinschaften und macht  vielfältige Einflüsse zu etwas »artfremdem«. Was das für Gesellschaften wie unsere bedeuten würde, lässt sich im politischen Diskurs der neuen Rechten erahnen.

Portrait Karin Reichenbach Leibniz Magazin
Die Wissenschaftlerin Karin Reichenbach. Foto LEIBNIZ-GWZO

Sie forschen vor allem zu Osteuropa. Wie sieht es in Deutschland aus?

Die AfD sieht sich seit längerem mit dem Vorwurf konfrontiert, völkische Ideologien zu bedienen oder zu fördern. »Volksverräter«, »Umvolkung«, »nationale Identität« oder »Leitkultur« sind nur einige Begriffe, die AfD-Mitglieder verwenden. In den Parteiprogrammen finden sich Forderungen nach einer strengeren Einwanderungspolitik, da die deutsche Kultur angeblich durch »fremde« Kulturen verwässert werden könnte oder gar ein angeblicher Bevölkerungsaustausch stattfinde.

Vor einigen Wochen machte ein Geheimtreffen von AfD-Funktionären und Rechtsextremen Schlagzeilen. Pläne für eine sogenannte »Remigration« sorgten für Empörung und Protest.

Mit diesem Begriff ist schlussendlich die Deportation bestimmter Personengruppen gemeint, und diese Idee kennen wir schon aus dem Nationalsozialismus. Hier gilt wieder das gleiche: Völkische Gruppen und Ideologien neigen dazu, eine rückläufige Wanderungspolitik zu fördern, um eine vermeintlich homogene ethnische oder kulturelle Gemeinschaft zu bewahren oder wiederherzustellen. Die hat es so aber eben nie gegeben. Selbst im Mittelalter nicht.

Dossier Rechtsextremismus

Die Positionen und Pläne werden radikaler und radikaler – trotzdem sind immer mehr Menschen bereit, rechtspopulistischen Parteien wie der AfD ihre Stimme zu schenken. Wir fragen Leibniz-Forschende, woran das liegt: Wie geht Radikalisierung vonstatten, welche Strategien verfolgen Rechtsextremisten on- und offline, worauf beziehen sie sich in ihren Ideologien? Und: Kann der millionenfache Gegenprotest unsere Demokratie schützen? Weitere Fragen und die Antworten der Expertinnen und Experten findet ihr jetzt in unserem Dossier Rechtsextremismus.

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