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ANKE LIPINSKY arbeitet im Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung CEWS am GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften.

LEIBNIZ Gelten Sie mit Ihrer Arbeit eigentlich als Nestbeschmutzerin?

ANKE LIPINSKY So bin ich noch nie bezeichnet worden! In meiner Arbeit geht es ja einfach darum, die Wirksamkeit von Gleichstellungsarbeit, aber auch die Gründe für Geschlechterungerechtigkeit zu beforschen und Services für die praktische Anwendung in der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Insofern sehe ich meine Rolle eher als eine, die dazu beiträgt, ein Licht ins Dunkel zu bringen. Und Verantwortlichen in der Wissenschaft dabei zu helfen, genauer hinzuschauen und Empfehlungen auszusprechen, wie man die Dinge verbessern kann. Das hat natürlich auch eine politische Dimension, aber es geht darum, einen sachlichen Diskurs zu ermöglichen. 

Warum ist das nötig?

Wir wissen immer noch nicht genug über sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft. Diese Themen rücken selten an die Oberfläche und werden oftmals tabuisiert. Das Schweigen über unangemessenes Verhalten findet nicht nur aufseiten derjenigen statt, die selbst belästigt wurden und sich dafür schämen. Auch den Wissenschaftseinrichtungen liegt zum Teil wenig daran, unter die Oberfläche zu blicken. Wenn nur wenige Fälle gemeldet werden, scheint wenig Handlungsbedarf zu bestehen. Darum stellen beispielsweise anonyme Umfragedaten eine wichtige Wissensquelle für die Bewertung der Lage dar.

Wie sind Sie dazu gekommen, speziell sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft zu erforschen?

Zu Fragen geschlechterbasierter Diskriminierung in der Wissenschaft arbeite ich schon seit 15 Jahren. Aber die Verknüpfung von Forschung und Gleichstellungspraxis finde ich in diesem Themenfeld ganz besonders eng.

Wie sieht sexualisierte Gewalt speziell im Kontext der Wissenschaft aus?

Sie reicht von sexistischen Bildern in Unterrichtsmaterialien über zweideutige Kommentare und Witze in digitalen Lerngruppen bis hin zu unangemessenen Fragen zum Privatleben. Aber es gibt auch körperliche Übergriffe oder Nötigung. Die Übergriffe selbst unterscheiden sich eigentlich nicht von anderen beruflichen Kontexten.

Betroffene erfahren im Arbeitskontext nicht selten soziale Isolierung.

ANKE LIPINSKY

Wie unterscheidet sich die Wissenschaft von anderen Bereichen?

Ein wesentlicher Unterschied besteht schon auf der rechtlichen Ebene: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bezieht sich in Deutschland insbesondere auf Bewerberinnen und Bewerber sowie Beschäftigte. Internationale Stipendiatinnen und Stipendiaten ohne Arbeitsvertrag sowie die besonders häufig betroffenen jungen Studierenden sind da nicht automatisch mit eingefasst. Außerdem haben Personen mit befristeten Arbeitsverträgen schlechtere Chancen, ein langwieriges Beschwerdeverfahren durchzubringen.

Wie ist die Situation in den Wissenschaftseinrichtungen?

Die Erfahrungen werden über Dunkelfeldstudien erfasst. Daher wissen wir: Bis zu 60 Prozent der Studentinnen werden während des Studiums sexuell belästigt, bis zu 20 Prozent erleben sexualisierte, körperliche Übergriffe. Aber nur ein Bruchteil der Fälle wird bei den offiziellen Stellen der Einrichtungen gemeldet und erfasst. Man kann davon ausgehen, dass etwa 90 Prozent der melderelevanten Übergriffe nicht gemeldet werden. Prävalenzzahlen hängen auch davon ab, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt als Gewalt oder als sexuelle Belästigung wahrgenommen wird. Wenn also eine sehr niedrige Prävalenzrate bei einer Studie herauskommt, sind die Zahlen nicht zwingend auch tatsächlich sehr niedrig. Dies kann viel eher zeigen, dass übergriffiges oder sexistisches Verhalten normalisiert ist in der akademischen Kultur.

Warum schweigen oft auch die betroffenen Menschen selbst?

Viele schämen sich und denken, sie hätten zu dem Vorfall beigetragen. Es ist ihnen peinlich, Beratung in Anspruch zu nehmen. Außerdem müssen sie befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird, sie nicht geschützt werden, oder dass sie nicht ausreichend mitbestimmen können, welche Schritte eingeleitet werden. Da ist viel Handlungsunsicherheit auf allen Seiten. Auch Vorgesetzte oder Kolleginnen und Kollegen, etwa aus Forschungsgruppen, wissen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen: Schreite ich ein oder bin ich dann die Spielverderberin?

Es scheint so, als seien bestimmte Vorurteile immer noch präsent.

Es kommen immer wieder diese Mythen zum Vorschein. Also zum Beispiel, dass eine Person nur Karriere machen will, und deswegen einen Vorgesetzten der sexuellen Belästigung bezichtigt. Dabei begeben sich die Betroffenen mit ihrer Meldung ja selber in eine prekäre Situation. Betroffene finden sich nicht selten in einer Situation wieder, in der sie im Arbeitskontext soziale Isolierung erfahren. Darum war #MeToo als Ausdruck von Solidarität so wichtig. Dabei tragen Leitungspersonen und Beschäftigte gleichermaßen die Verantwortung dafür, sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalt nicht zu tolerieren. Es braucht einen Kompetenzzugewinn in Wissenschaftseinrichtungen, damit die Betroffenen nicht fürchten müssen, sozial, karrieretechnisch oder in anderer Art und Weise sanktioniert zu werden.

Die #MeToo-Diskussion ist nun auch in der Wissenschaft angekommen.

Anke Lipinsky geht eine Wendeltreppe hinunter.

Am GESIS hat Anke Lipinsky die Themenseite Geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft entwickelt, die Forschenden und Gleichstellungsstellen Informationen und Handlungsempfehlungen zur Verfügung stellt.

Welche Effekte haben diese Übergriffe denn langfristig auf die Betroffenen und ihre Werdegänge in der Wissenschaft?

Die psychosozialen und beruflichen Folgen reichen von sozialer Sanktion im persönlichen Umfeld wie dem Ausschluss aus informellen Netzwerken über Stress und Vertrauensverlust bis hin zu depressiven Verhaltensweisen. Solche Effekte wurden auch für digitale Formen von Belästigung nachgewiesen – diese sind für Betroffene nicht weniger folgenreich. Für den beruflichen Werdegang sehen wir, dass sich eine Veränderung der beruflichen Ziele ergibt. Also dass die Zielpersonen von Belästigung vielleicht die Hochschule wechseln, dem Umfeld vor Ort nicht mehr ausgesetzt sein wollen. Es kann sein, dass Motivation und Produktivität abnehmen. Es hat also Effekte nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern auch für ganze Teams.

Was wissen Sie denn über die Opfer und Täter:innen?

Wir wissen, dass sehr junge, weibliche Studierende besonders betroffen sind, im Vergleich zu männlichen Studierenden, die in der Form das nicht erleben und darüber dann auch nicht berichten. Wir wissen aber auch, dass sich das nicht nur auf diese Gruppe beschränkt. Überrepräsentiert unter den Opfern von Belästigung sind Menschen mit diverser Geschlechtsidentität, Queers, Menschen mit Behinderung sowie Frauen in Führungspositionen in der Wissenschaft, die aufgrund ihrer Sichtbarkeit und Machtstellung von den Täter:innen als Bedrohung wahrgenommen werden. Und es gibt bestimmte Situationen, die für eine Häufung von sexueller Belästigung sprechen, also wo das Risiko steigt.

In welchen Kontexten kommt es vermehrt zu Übergriffen?

Auf Partys der Studierenden zum Beispiel oder in den späten Abendstunden auf dem Campus oder in der Bibliothek. Man geht auch davon aus, dass es eine erhöhte Prävalenz in Studiengängen und Disziplinen gibt, in denen Körperlichkeit eine Rolle spielt — in der Medizin, der Sportwissenschaft und den Musikwissenschaften. Unter Studierenden sind es oft Kommilitonen, also Personen auf der gleichen hierarchischen Ebene, von denen sie Belästigung erfahren. Die Gefahr von Übergriffen und Belästigung kann sich im Sinne von Machtmissbrauch außerdem noch einmal potenzieren, wenn diese in einem Abhängigkeitsverhältnis geschieht. Zum Beispiel, wenn die Person über die Verlängerung meines Arbeitsvertrags oder den Zugang zu einem studienrelevanten Praktikum entscheidet.

Wie ist es in männerdominierten Ausbildungs- oder Berufsfeldern?

Das unterstellt natürlich, dass Männer die Täter sind. Statistisch ist das tatsächlich die dominante Gruppe, aber es gibt Belästigungsfälle nicht nur in männerdominierten Bereichen. Allerdings haben Studien aus Großbritannien gezeigt, dass zum Beispiel in MINT-Fachkulturen so etwas wie männliche Doppeldominanz zum Zuge kommt: Männer sind in der Überzahl, sodass dabei auch Männlichkeitsvorstellungen das Sozialverhalten normieren. Die wenigen Frauen oder sogenannte feminine Verhaltensmuster weichen von dieser Norm ab, und das kann zum Anlass für Abwertung oder sexistischen Verhaltensweisen werden.

Wie kann man das ändern?

Die Wissenschaft muss ihre Verantwortung wahrnehmen und hörbar sagen, welches Verhalten nicht geduldet wird. Insgesamt müssen die Einrichtungen mehr Handlungssicherheit gewinnen bei der Prävention, im Umgang mit Täter:innen und mit den gemeldeten Fällen. Belästigung und sexualisierte Gewalt sind in den vergangenen Jahren vor allem durch Vorfälle in Showbusiness und Politik ein Thema geworden. Mein Eindruck ist: Die #MeToo-Diskussion ist nun auch in der Wissenschaft angekommen. Das Forschungs- und Praxisfeld ist in den vergangenen zehn Jahren enorm expandiert. Dennoch besteht die Frage: Wie transferieren wir die Forschungsbefunde eigentlich in die Handlungspraxis und in die Wissenschaftspolitik? Daran arbeitet eine Kommission der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen schon lange. Es ist an der Zeit, die Diskussion breiter zu führen und übergreifende Maßnahmen einzuführen.

Es fehlen niederschwellige Angebote, etwa anonyme Meldemöglichkeiten.

Wie könnte das aussehen?

In Baden-Württemberg beispielsweise haben die Universitätsrektorinnen und -rektoren im Rahmen einer Kampagne eine Erklärung unterzeichnet, dass sexuelle Belästigung an ihren Hochschulen keinen Platz hat. Und in Sachsen-Anhalt hat im September 2020 eine Themenwoche zu #MeToo in der Wissenschaft stattgefunden. Das sind erste Schritte in die richtige Richtung.

In Ländern wie den USA und Großbritannien läuft der Diskurs bereits länger. Woran liegt das?

In den USA, in Kanada und auch in England wird dieser Diskurs in der Tat schon länger und mit einer größeren Vehemenz geführt. Ich führe das auf zwei Dinge zurück: Die Datenlage zu sexualisierter Gewalt und Diskriminierung ist dort viel besser. Auch das Wissen und Bewusstsein über Belästigung, über Gewalt und Diskriminierung ist viel stärker verankert in der wissenschaftlichen Community, nicht nur in den sozialwissenschaftlichen Fächern, sondern auch darüber hinaus. In den USA sind  Diskriminierung und Gewalt Themen, mit denen sich viel mehr Wissenschaftler:innen beschäftigen als bei uns. Dadurch gibt es mehr Studien zu diesen Themen: Die Evidenz sorgt für eine ganz andere Art von Diskussion. In Großbritannien ist das ganz ähnlich. Zudem kann ein nachlässiger Umgang mit Täter:innen bei sexuellen Übergriffen dort direkte finanzielle Folgen haben. Die Hochschulen in diesen Ländern finanzieren sich größtenteils durch Studiengebühren.

Welche Präventionsmaßnahmen gibt es? Was fordern Sie?

Beratungs- und Beschwerdestellen sind bereits sehr gut etabliert. Was noch fehlt, sind niederschwellige Angebote, etwa der Ausbau von anonymen Meldemöglichkeiten und Falldokumentationen, die längst nicht alle Wissenschaftseinrichtungen anbieten. Wir werden in Zukunft intensiv weiter forschen: Wie wird mit dem Thema umgegangen? Wie verhalten sich Hochschulen und Forschungseinrichtungen bei Vorfällen? Wo gibt es Verbesserungsbedarf? Wir werden in den nächsten Jahren neue internationale vergleichbare Evidenzen schaffen. Da kommt noch was!

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