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KATHARINA STENGEL
ist Historikerin. Am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur hat sie die Rolle der Zeugen in den Auschwitz-Prozessen erforscht. Heute ist sie am Frankfurter Fritz Bauer Institut tätig.

LEIBNIZ Frau Stengel, Ihr Buch »Die Überlebenden vor Gericht« ist eine der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen der Rolle der Zeuginnen und Zeugen in Holocaust-Verfahren. Warum ist die Geschichtswissenschaft über 70 Jahre lang nicht auf diese Idee gekommen?

KATHARINA STENGEL Als ich anfing, mich als Historikerin mit den Auschwitz-Prozessen auseinanderzusetzen, war ich selbst überrascht, wie wenig bis dahin über die Zeugen gesprochen wurde. Ich beobachtete, dass Zeugen im Selbstverständnis der Justiz und auch in der juristischen Literatur ganz allgemein meist nicht als Akteure mit eigenen Anliegen erfasst werden, sondern schlicht als Beweismittel: Sie sind nur soweit interessant, wie sie Angeklagte be- oder entlasten können. Die zeitgeschichtliche Forschung hatte diesen Fokus einfach übernommen.

Wie äußerte sich diese beschränkte Sichtweise vor Gericht?

In den Auschwitz-Prozessen zwischen den 1950er und den späten 1970er Jahren sind die Gerichte selten empathisch mit den Überlebenden umgegangen. Viele der Zeuginnen und Zeugen waren über Jahre in Konzentrationslagern gewesen. Sie waren täglich der Willkür von Deutschen ausgeliefert. Manche haben beobachtet, wie Deutsche ihre Angehörigen ermordeten. Nun sagten sie freiwillig vor deutschen Juristen aus, ohne deren Rolle im Nationalsozialismus zu kennen. In den Prozessen befragten die Richter die Überlebenden dann teils herablassend, oft unwirsch.

Wie kam es zu dieser kühlen Behandlung?

Als ich anfing, die Rolle der Zeugen zu untersuchen, stellte die bestehende Literatur sie vor allem als unzulängliche Quellen dar. Die Zeugen waren nicht der Schlüssel zur Verurteilung der Täter, sondern ein Problem, das die Justiz behinderte. Das war der Anlass für meine Forschung: Ich wollte die Seite der Zeugen beleuchten.

Die Zeugen waren für die Justiz nicht der Schlüssel zur Verurteilung der Täter – sondern ein Problem, das sie behinderte.

KATHARINA STENGEL

Ihr Buch hat 548 Seiten, davon 22 Seiten Literaturverzeichnis, Sie haben den Inhalt von tausenden Stunden Gerichtsverhandlungen ausgewertet. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, ist außergewöhnlich gut dokumentiert. Es gibt sogar Mitschriften des Beisitzenden Richters, die normalerweise nicht zu den Akten kommen. Anders ist es bei den Protokollen späterer Auschwitz-Prozesse vor dem Frankfurter Landgericht, die zum Teil nicht in den Archiven gelandet sind, sondern erst auf private Initiative zum Fritz-Bauer-Institut kamen. Was die Seite der Überlebenden betrifft, war es noch schwieriger: Persönliche Dokumente wie etwa Briefwechsel waren sehr schwer aufzutreiben.

Wie konnten Sie aus schriftlichen Protokollen auf die Atmosphäre im Gerichtssal schließen?

Anhand der Gerichtsprotokolle ist das kaum möglich, sie sind keine Mitschriften des Wortlauts, sondern knappe Zusammenfassungen. Deshalb war es unglaublich hilfreich, dass es vom ersten Frankfurter Auschwitzprozess Tonbandmitschnitte gibt. So lässt sich zum Beispiel der Tonfall der Beteiligten heraushören: Wut, Sarkasmus, Verzweiflung bei Zeugen, Herablassung, aber auch Respekt, bei Richtern. Diese Aufzeichnungen waren übrigens nicht Teil des offiziellen Protokolls, sondern als Gedächtnisstütze des Gerichts gedacht und sollten nach Prozessende vernichtet werden.

Warum sind sie erhalten geblieben?

Weil Überlebende wie Hermann Langbein, einer der Gründer des Internationalen Auschwitz Komitees, Druck gemacht haben, die Mitschnitte aufzubewahren.

Die Richter haben es nicht geschafft, sich auf die Besonderheiten der Massenverbrechen einzustellen.

In ihrem Buch zeichnen Sie ein düsteres Bild vom Vorgehen der deutschen Juristen. Vertrauten sie den Zeugenaussagen anfangs noch, wurden sie bis etwa 1980 immer skeptischer, zweifelten Erinnerungsvermögen und Faktentreue der Überlebenden zunehmend an, verdächtigten sie rechtswidriger Absprachen oder misstrauten ihnen wegen angeblicher charakterlicher Mängel. Was steckte hinter diesem Verhalten?

Die Richter haben selten in dem Selbstverständnis gehandelt, dass sie Täter schützen wollten. Sie haben sich durchaus um gerechte Verfahren bemüht. Aber sie haben es eben nicht geschafft, sich auf die Besonderheiten der Massenverbrechen einzustellen und sich von der Tradition zu lösen, dass nur lückenlos belegte, einzelne Taten bestraft werden können. Deshalb haben sie sehr detaillierte Fragen gestellt, die den Lebensumständen in den Konzentrationslagern in keiner Weise entsprachen. Wie ein solches Auftreten der deutschen Justiz auf die oft traumatisierten Überlebenden wirkt, darüber haben sie sich in vielen Fällen schlicht keine Gedanken gemacht.

Hat die Justiz aus ihren Fehlern gelernt?

Nach einer langen Phase, in der kaum noch Täter verurteilt wurden, änderte sich eigentlich erst etwas mit dem Prozess gegen John Demjanjuk, der 2009 begann. Er war Wachmann im Vernichtungslager Sobibor gewesen und wurde der Beihilfe zum Mord an über 28.000 Menschen schuldig gesprochen, obwohl man ihm außer seiner bloßen Anwesenheit nichts nachweisen konnte. Das Landgericht München wertete den zehntausendfachen Mord, den die Nationalsozialisten während seiner Dienstzeit in Sobibor begingen, als eine einzige Tat, und dieses Verbrechens hatte Demjanjuk sich nach Ansicht des Gerichts mitschuldig gemacht. Das ist genau die Auslegung, die westdeutsche Gerichte jahrzehntelang ablehnten. Seitdem hat es einige Prozesse gegeben, in denen ähnliche Urteile gefällt wurden.

Es gibt eine verspätete Gerechtigkeit?

Alle Täter, die heute noch leben, waren jung, als sie in den Vernichtungslagern waren. Als Demjanjuk der Prozess gemacht wurde, war er beinahe 90. Die Verantwortlichen, die auf höheren Befehlsebenen wirkten, sind längst alle tot. Viele von ihnen haben die Nachkriegszeit oder große Teile davon in Freiheit verbracht. Ich würde das nicht als Gerechtigkeit bezeichnen. Die westdeutsche Gesellschaft wollte jahrzehntelang nicht wahrhaben, wie viele ihrer Mitglieder an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren.

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