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Fast 10 Milliarden Menschen werden 2050 auf der Erde leben. Gleichzeitig werden Land, Wasser und Phosphat – die für die Produktion von Nahrungsmitteln zentralen Rohstoffe  – immer knapper. Wie soll die Welt von morgen trotzdem ernährt werden? Dass die Landwirtschaft noch effizienter wird, ist unwahrscheinlich. Am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) schaut man deshalb unter die Wasseroberfläche: Wie zahlreiche Forschungsteams weltweit setzen die Bremer Forscherinnen und Forscher auf die Meere und eine nachhaltig konzipierte Aquakultur, die dazu beitragen kann, Wildfischbestände und die Umwelt zu schonen. Doch was genau könnte auf unseren Tellern landen? Ein Blick in die maritime Speisekarte der Zukunft.

Ringelwürmer

Auf der Suche nach den Lebensmitteln von morgen zahlt es sich aus, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Denn manche Kandidaten zeigen sich nur an den felsigen Stränden indonesischer Inseln, an zwei Tagen im Jahr, im ersten Schein des Vollmonds. Dafür allerdings in Massen. Millionen Ringelwürmer kommen an diesen tropischen Abenden aus ihren Ritzen im Meeresboden gekrochen und beginnen an der Wasseroberfläche ihren Paarungstanz. Die roten Männchen und die grünen Weibchen umkreisen sich, lassen Sperma und Eier ins Wasser und sinken sterbend wieder zu Boden. Diese kurze Zeit des Tanzes nutzen die Bewohner der Inseln Ambon und Ternate traditionell zur Wurmjagd. Mit Fackeln und Taschenlampen waten sie ins Meer und fangen die dünnen, fingerlangen Tiere in Netzen.

Für die Massentierhaltung wären die Ringelwürmer zwar ungeeignet, denn sie zerschmelzen schon durch die Wärme einer menschlichen Hand. Grundsätzlich sind sie aber interessante Mitbewohner einer nachhaltigen Aquakultur: Sie durchwühlen den Meeresboden und fressen überzählige Futterpartikel, während sie zugleich anderen Tieren als Nahrung dienen.

Aus ernährungsphysiologischer Sicht sind Laor, Palolo, Wawo und andere in der Pazifikregion traditionell gegessene Würmer jedenfalls hervorragende Proteinquellen, denn sie bestehen zur Hälfte aus Eiweiß. Gegessen werden sie gut gewürzt und zu Brei gebraten als Begleiter zu Reis, Walnüssen und Röstzwiebeln. Ihr salzig-würziger Geschmack hält sich lange und übersteht auch eine Tiefkühlung. Theoretisch wäre es also möglich, Ringelwurm auch in Deutschland zu genießen.

Grüne und rote Würmer vor blauem Hintergrund.

Quallen

Was für eine Vision für die Ernährung der Zukunft: große Container, mitten in der Großstadt. Im Innern mehrstöckige Regale mit Aquarien. Und darin tausende von Quallen, die auf dem Rücken liegend ihre Tentakel in die Höhe strecken und sich die künstliche Sonne auf den Bauch scheinen lassen. So könnte es gelingen. Aber Quallenzucht ist schwierig. Die meisten Arten brauchen eine stetige Strömung, um schwimmen zu können.

Deshalb setzt Holger Kühnhold vom ZMT große Hoffnungen auf die Mangrovenqualle, Cassiopea andromeda. Sie liegt mit dem Schirm nach unten auf dem Meeresboden und streckt ihre Tentakel zur Wasseroberfläche, damit winzige symbiotische Algen in ihnen Photosynthese betreiben können. Zur Not lebt Cassiopea längere Zeit von Licht allein. Ansonsten ernährt sie sich, wie die meisten Quallen, von kleinen Lebewesen wie Plankton. Vielleicht könnte sogar ihr Wildfang ausreichen, um eine nachhaltige Proteinquelle zu erschließen, denn die Glibberwesen sind weltweit eine Plage. Während andere Tier- und Pflanzenarten aussterben, profitieren Quallen von menschlichen Eingriffen in das Ökosystem Meer.

In ihrer Kindheit wachsen sie als Polypen an Wracks, Kaimauern und Ölbohrinseln. Als erwachsene Medusen vermehren sie sich ungestört in überhitzten, übersäuerten oder überfischten Gewässern. Viele Quallenarten werden schon jetzt kommerziell gefischt, zum Beispiel an der Golfküste der Vereinigten Staaten. Hauptsächlich für asiatische Gourmets, die sie als Appetizer, in Salaten oder Suppen essen. Zwar bestehen Quallen zu etwa 99 Prozent aus Wasser, der Rest ist jedoch reich an Proteinen mit hochwertigen Aminosäuren. Meist isst man nur den Schirm, der weniger Nesselgift enthält als die Tentakel. Kunstvoll zubereitet haben Quallen die Konsistenz von frittiertem Pudding: außen crunchy, innen cremiges Gelee. Für Europäer attraktiver könnten sie als Chips oder Proteinpulver sein. Doch egal, wie man sie zubereitet: Quallen schmecken nach rein gar nichts.

Kleine Qualle im Türkis blauen Wasser.

Meerestrauben

Süß, sauer, scharf, salzig: Diese vier Geschmacksempfindungen werden in der asiatischen Küche in unzähligen Kombinationen immer wieder neu ausbalanciert. Oft bringen Algen den fünften Geschmack hinzu: Umami. Eine Note, die andere Aromen verstärken kann. Die Meerestrauben Caulerpa lentillifera sind die grazilen Cousinen von Nori, Wakame und Co. Sie machen sich ebenso gut auf Sushi mit rotem Fisch wie im fruchtigen Pomelosalat. Sind ihre grünen, glänzenden Rispen schon hübsch anzusehen, werden sie im Mund zu einer prickelnden Sensation: Sie zerplatzen in kleinen salzigen Explosionen, die an russischen Kaviar erinnern. Deshalb werden die Algen auch als Grüner Kaviar vermarktet. Darüber hinaus sind die Bläschen prall gefüllt mit Vitaminen, Antioxidantien, mehrfach ungesättigten Fettsäuren, Proteinen und Mineralstoffen. Mit einem Wort: Superfood.

In Deutschland ist der pflanzliche Kaviar ähnlich kostspielig wie der vom Fisch. In Vietnam hingegen sind Meerestrauben ein Alltagsessen und werden in großen Mengen angebaut. Das Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung testet dort in Kooperation mit Algenfarmern ihren Einsatz in der integrierten multi-trophen Aquakultur: Füttert man Fische, fallen unweigerlich Partikel zu Boden oder lösen sich im Wasser auf. Bei herkömmlicher Aquakultur ist das ein großes Problem, denn auf die Dauer wird das Gewässer immer nährstoffreicher. Setzt man aber Algen hinzu, nehmen sie die gelösten Nährstoffe auf. Die Meerestraube könnte für Fischwirte also eine zweite Ernte sein und gleichzeitig dabei helfen, das natürliche Gleichgewicht der Küstengewässer wiederherzustellen.

Grüne Pflanze, an deren Armen kleine Grüne Kügelchen hängen, Luftblasen, blauer Hintergrund.

Seegurken

Sie sind pink, orange, grau, blau oder schwarz. Es gibt sie mit Noppen, mit Warzen, mit Stacheln. Zwei Millimeter lang oder zwei Meter. In rund 1.500 Arten leben sie auf dem Boden aller sieben Weltmeere, vom seichten Küstengewässer bis in 10.000 Meter Tiefe. Dort übernehmen Seegurken eine immens wichtige Funktion: Als Staubsauger der Meere fressen sie sich auf der Suche nach Tier- und Pflanzenresten durch die obersten zwanzig Zentimeter des Bodens, lüften ihn und ebnen Mikroben den Weg.

Das macht sie auch für die integrierte Aquakultur interessant, wo sie verputzen, was Fische verlieren. Dabei sind sie so langsam, dass man sie pflücken kann wie eine Frucht. Nach der Ernte werden sie gekocht, getrocknet, gesalzen, manchmal auch geräuchert, bis sie aussehen wie im Schlamm gewälzte und anschließend den Kamin hinuntergeworfene Würstchen, – zumindest fand das der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace, als er im 19. Jahrhundert Seegurken auf malaiischen Märkten sah.

Der aufwändige Prozess macht aus dem unterschätzten Meerestier eine Delikatesse. In Spanien sind Espardenyes teurer als Trüffel, auf den Philippinen schätzt man ihre säuerliche Zähigkeit in der Trepang-Suppe und in China gibt es sie zum Neujahrsfest. Die traditionelle chinesische Medizin schreibt den Schlauchwesen aphrodisierende Eigenschaften zu. Besser belegt ist ihre Wirksamkeit gegen Arthrose. Seegurken enthalten neben Chondroitinsulfat, einem Bestandteil der Gelenkschmiere, weitere bioaktive Substanzen, die sie für die pharmazeutische Forschung interessant machen.

EINE NEUE KULTUR

Aquakultur hat einen schlechten Ruf. Zu Recht, zumindest was die herkömmliche Kultivierung von Meeres- oder Süßwasserorganismen angeht: In intensiver Monokultur werden vor allem Raubfische und tropische Shrimps gezüchtet. Bei der Fütterung fällt immer ein Teil des Futters zu Boden oder löst sich im Wasser auf. Auf die Dauer eutrophiert das Gewässer, das heißt, es gibt ein schädliches Überangebot an Nährstoffen, das zum Beispiel zu Sauerstoffmangel und zum Tod anderer Organismen führen kann. Vor allem fragilen Küstenbiotopen droht der Kollaps. Damit die Tiere in der Massentierhaltung nicht krank werden, gibt man ihnen Antibiotika. Rückstände der Medikamente und resistente Bakterien gelangen ins Wasser und in die Nahrungsketten. In der integrierten multi-trophen Aquakultur werden Fische deshalb mit Arten kombiniert, die sich um die überflüssigen Nährstoffe kümmern: Würmer, Seegurken, Krebse oder Muscheln fressen feste Nährstoffpartikel, Algen filtern gelöste Nährstoffe aus dem Wasser. Farmer können so bis zu vier Produkte aus einer Aquakultur ernten. Das macht Familien und Dorfgemeinschaften unabhängiger von schwankenden Marktpreisen.

Graskarpfen

Die Texte entstanden in Zusammenarbeit mit Andreas Kunzmann, Holger Kühnhold und Paula Senff, die am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung in der Arbeitsgruppe Experimentelle Aquakultur forschen. Der Text über Ringelwürmer basiert auf einem Artikel des ehemaligen ZMT-Masterstudents Joko Pamungkas.

Ein ganzer Fisch – mit Kopf und Schwanz und Flossen – kommt in deutschen Küchen eher selten in die Pfanne. Deshalb haben es kleinere Fischarten auf dem Markt schwerer als große Raubfische wie Thunfisch, Lachs oder Pangasius, die viele grätenfreie Filets liefern. Doch wer sich auf die andernorts weitverbreitete Vorliebe einlässt, Fisch in Tellergröße zu kaufen, kann viel entdecken. Den Graskarpfen zum Beispiel, Ctenopharyngodon idella.

Mit dem oft modderigen deutschen Teich- und Tümpelkarpfen ist er nicht verwandt – auch geschmacklich nicht. Sein Fleisch ist hell und schmeckt in der Bouillabaisse genauso gut wie vom Grill. Rezepte sucht und findet man in Anglerforen im Internet, denn der ursprünglich aus China und Sibirien stammende Süßwasserfisch wird mittlerweile auch gerne in deutschen Gewässern ausgesetzt. Dort futtert er mit großem Appetit wuchernde Wasserpflanzen ab. Eine Eigenart, die den Graskarpfen zum idealen Fisch für die moderne Aquakultur macht, – vor allem, wenn andere Organismen dann auch noch seine Hinterlassenschaften auffressen.

Ganz grundsätzlich ist es nachhaltiger, pflanzenfressende Fische zu kultivieren als Raubfische. Denn die müssen mit proteinreicher Nahrung – meist Fischmehl oder Fischöl – gefüttert werden. Wer die wachsende Weltbevölkerung in Zukunft ernähren will, muss genau an dieser Gleichung ansetzen: Weniger Protein als Futter einsetzen, um gleichzeitig mehr Protein in Form von Lebensmitteln zu gewinnen.

Fisch, der im lichtdurchfluteten Wasser nach oben schwimmt.

Halophyten

Sie wachsen, wo andere Pflanzen sterben: Halophyten. Der griechische Name Salzliebende bezeichnet eine Gruppe von rund 1.500 ganz unterschiedlichen Pflanzen, die nicht nur auf versalzten Böden gedeihen, sondern teilweise ganz ohne Süßwasser oder trotz Schwermetallbelastung. Mangroven gehören genauso dazu wie das Superfood Quinoa und der im deutschen Wattenmeer heimische Queller. Weil die Frischwasserreserven der Erde bereits jetzt immer knapper werden, könnte es sich in Zukunft lohnen, noch mehr Arten der salzliebenden Pflanzen anzubauen. In Aquakulturen könnten sie sogar mitten in der Großstadt gedeihen.

Einige Halophyten werden in Indien eingesetzt, um kontaminierte Böden wiederaufzubereiten: Die Pflanzen nehmen Giftstoffe oder überschüssige Nährstoffe auf; ihre Wurzeln stabilisieren selbst sandige Böden und erleichtern die Ansiedelung von Mikroben und anderen Pflanzen. Ihre Fähigkeit, trotz Umweltstress zu gedeihen, verdanken Halophyten einem Mix an Antioxidantien, Enzymen und ungesättigten Fettsäuren wie Omega-3-Fettsäuren. Beim Menschen wirken die Pflanzen antibakteriell und entzündungshemmend, sind gut gegen Verdauungsbeschwerden, senken den Cholesterinspiegel und sollen sogar Krebs hemmen. In vielen Teilen der Welt sind Halophyten deshalb Teil der traditionellen Medizin.

In jedem Fall schmecken sie würzig und hätten es verdient, aus der Feinschmeckernische herauszuwachsen. In Deutschland gut erhältlich ist Queller, auch Wasserspargel genannt. Seine wasserspeichernden Blätter und Stängel sind salzig und sehr knackig, ideal zum Beispiel als Salat zum Fisch. Er lässt sich aber auch gut dämpfen und braten und ergibt in Öl eingelegt eine interessante Antipasti.

Grüne Pflanze auf felsigem Grund vor blauem Himmel.

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