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Ganz von selbst zeigt mir an diesem Tage mein Smartphone einen zufällig zusammengestellten Fotorückblick. Die Überschrift lautet: »Unterwegs mit Agnes«. Neugierig tippe ich auf das erste Bild und erinnere mich: Sommer 2018. Die blonden Haarsträhnen meiner Tochter Agnes flatterten im Wind. Sie war damals zwei Jahre alt und wir waren, wie beinahe jeden Tag, mit unserem Lastenfahrrad unterwegs. Schon seit meiner Jugend bin ich passionierter Radfahrer. Kaum konnte meine Tochter Agnes sitzen, kutschierte ich sie durch die Stadt.

40 Minuten zuvor hatte ich sie an jenem Tag von der Kita abgeholt. Nun saß sie vor mir in der Transport-Kiste des Fahrrads. Drumherum Handtücher, Schwimmflügel, Badesachen und Proviant. Alles für einen Sommernachmittag im Schwimmbad in Berlin. In dem Moment, als das Lastenrad über Kopfsteinpflaster ruckelte, schrie Agnes: »Ahh, au!« Ihr Nacken schmerzte! Oh nein – ich hatte nicht aufgepasst. Denn mit dem Rad über Bordsteinkanten oder unebene Wege zu holpern – das war eigentlich seit Wochen, ja Monaten, für mich tabu.

Über Bordsteinkanten oder unebene Wege zu holpern, war seit Monaten tabu.

Agnes war immer ein dynamisches, aktives Kind gewesen. Anfang 2018 aber hatte es angefangen mit ihren Beschwerden. In immer kürzeren Intervallen hatte sie über Schmerzen im Nacken geklagt. Ein zweijähriges Kind und Nackenschmerzen? Weder meine Freundin Katja, Agnes' Mutter, noch ich hatten die Symptome am Anfang sonderlich ernst genommen. Zu unserem Erschrecken aber steigerte sich die Stärke der Beschwerden, die Nöte unseres Kindes wurden immer wieder im Alltag spürbar: Agnes wollte nicht mehr mit ihrem Laufrad fahren oder auf dem Spielplatz Trampolin springen. Die Erzieherinnen in der Kita berichteten uns ratlos von einer völlig veränderten Agnes, die die meiste Zeit am Rand stand und nicht mehr mittobte und -spielte. Wir suchten bei zahlreichen Ärztinnen und Ärzten Rat. Meine Freundin und ich wechselten uns ab, besuchten Orthopädinnen und Kinderärztinnen. Die Diagnosen variierten. Mal hieß es »Zerrung«, mal »Gelenk-Schnupfen«, letzteres steht umgangssprachlich für eine Flüssigkeitsansammlung im Gelenk nach einer Virusinfektion. Einige Mediziner konnten mit den Symptomen bei einem so kleinen Kind gar nichts anfangen. »Einfach mal entspannen und nicht hineinsteigern«, sagte eine Orthopädin.

Schließlich, das war ein paar Wochen nach dem Schwimmbadausflug mit dem Lastenrad, konnte Agnes kaum mehr den Kopf bewegen. Sie drehte, um zur Seite schauen zu können, den ganzen Oberkörper. Richtig nach oben oder unten guckte sie auch nicht mehr, weil sie den Kopf nicht in den Nacken legen oder nach vorne beugen wollte.

Im Hochsommer kamen Schmerzen in den Gelenken hinzu: in Knien, Fingern und Fußgelenken. Überall hatte sie »aua«. Agnes konnte sich nicht mehr nach heruntergefallenem Spielzeug bücken. Der aktuell konsultierte Orthopäde winkte verlegen lächelnd ab: »Wie sollen all diese schmerzenden Gelenke zusammenhängen?« Den geplanten Urlaub in Österreich sagten wir ab.

Morgens waren die Schmerzen am größten. Agnes konnte nicht mehr alleine aus dem Bett aufstehen – sie kam wegen der Nackenschmerzen nicht mehr aus dem Liegen hoch, wir mussten ihr aufhelfen. Treppen waren für sie zu schier überwindbaren Hindernissen geworden: Sie blieb davor stehen, traute sich nicht hinauf oder hinunter, wir trugen sie. Auf dem Spielplatz brach sie in Panik aus, wann immer andere Kinder ihr zu nahe kamen. Spaziergänge waren kaum mehr möglich, die meiste Zeit musste ich sie tragen. Es war eine schwere Zeit: Kein Arzt nahm die Beschwerden wirklich ernst. Agnes' eigentlich fröhliches Wesen veränderte sich zusehends – sie konnte nicht mehr unbeschwert leben. Die ständige, unterschwellige Angst machte uns Eltern fertig.

Agnes Familie beim Picknick im Park.

Die Rettung kam zufällig, Ende Juli 2018. Katja musste zu einer Routineuntersuchung in die Charité. Belastet durch Agnes' ständige Schmerzen schüttete sie dem behandelnden Arzt ihr Herz aus. Dieser ergriff die Initiative und sagte: »Keine Zeit verlieren!«. Er rief sofort in einer anderen Abteilung auf dem Klinik-Campus an und vereinbarte einen Termin bei einem Kollegen.

Schon am nächsten Vormittag saßen wir mit Agnes am Virchow-Klinikum in der Sprechstunde von Tilmann Kallinich, der die Abteilung »Kinder-Rheumatologie« der Charité und die Sektion »Rheumatologie« des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums leitet – seitdem ist der Arzt und Leibniz-Forscher ein regelmäßiger Begleiter in unserem Leben. Im Prinzip wusste Kallinich sofort Bescheid, nachdem er einen Blick auf die Knie, Finger und Zehen unserer Tochter geworfen hatte: Sie waren geschwollen. Agnes sah damals insgesamt noch ein bisschen »knubbelig« aus. Weder uns Eltern noch den Orthopäden und Kinderärzten waren die Schwellungen aufgefallen.

Zwei Tage mit aufwändigen Untersuchungen in verschiedenen Fachbereichen des Klinikums bestätigten schließlich Tilmann Kallinichs Verdachtsdiagnose: Juvenile Idiopathische Arthritis (JIA), im Volksmund Kinder-Rheuma genannt. Bei dieser Erkrankung verursacht ein außer Kontrolle geratenes Immunsystem versehentlich Entzündungen im eigenen Körper, hauptsächlich in den Gelenken. Bei mir überwog die Erleichterung, endlich eine Diagnose und damit einen Therapieplan zu haben. Tatsächlich hatte ich aber noch keinen Blick in die Broschüren und Infoblätter über die Krankheit geworfen.

Die Krankheit kann sehr unterschiedlich verlaufen und wird in sieben unterschiedlich schwere Formen unterteilt. Manche der betroffenen Kinder bemerken die Symptome kaum, wieder andere haben mit starken Einschränkungen zu kämpfen. Die Krankheit kann unterschiedliche Gelenke befallen und auch die Augen in Mitleidenschaft ziehen. Meist tritt sie erst bei etwas älteren Kindern auf.

Kinder-Rheuma kann mit der Zeit verschwinden und nie wieder auftreten – bei der Hälfte der Betroffenen ist die JIA auch im Erwachsenenalter noch aktiv und muss behandelt werden. Noch suchen Forscher die konkrete Ursache der Krankheit. Auch Agnes' Daten finden, in anonymisierter Form, ihren Weg in die Wissenschaft, das Deutsche Rheuma-Forschungszentrum Berlin, wo auch Tilmann Kallinich forscht, wenn er nicht seine kleinen Pantient*innen behandelt, arbeitet mit ihnen.

Schon am ersten Abend nach der Behandlung rannte Agnes vor Freude jauchzend über die Klinikkorridore.

Unsere Tochter musste nach dem Untersuchungsmarathon direkt für eine sogenannte Puls-Therapie im Krankenhaus bleiben. Dabei wurde ihr intravenös hochdosiert Kortison verabreicht, um die Entzündungsherde im Körper zu eliminieren. Schon am ersten Abend, nach der Behandlung rannte Agnes, von den monatelangen Schmerzen befreit, vor Freude jauchzend und ohne Hosen über die Klinikkorridore. Nach einer Untersuchung im Kernspin – zur Beruhigung lag ich am Ende mit in der Röhre – zeigte sich zu unserem großen Glück, dass der oberste Halswirbel durch die Entzündung nicht beschädigt worden war. Auch sonst waren keine Gelenke nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen worden.

Zuhause musste Agnes anfangs dreimal am Tag Medikamente als Säfte und Tabletten einnehmen: Kortison, entzündungshemmende Arzneien, ein Mittel für den Magenschutz. Einmal die Woche bekam sie eine Spritze – Methotrexat, ein in dieser Dosierung entzündungshemmendes Medikament. Zweimal wöchentlich fuhren wir zur Physiotherpapie, um die Beweglichkeit zu fördern. Und am Wochenende ging es zum Kindersport. Dazu kamen regelmäßige Kontrollen im Krankenhaus und bei anderen Ärzten: Blutabnahmen, Überprüfung der Gelenke, Augenuntersuchungen, Checks des Allgemeinzustands.

Nachdem Katja und ich die erste Zeit versucht hatten, die Betreuungsarbeit aufzuteilen, begann immer mehr ich den Großteil des veränderten Alltags mit Agnes zu bestreiten. Nun musste ich zwei Nachmittage die Woche zur Physiotherapie mit ihr. Da nur ich die Spritze verabreichen konnte – Catherine brachte es nicht über sich, Agnes zu stechen – musste ich auch am Wochenende verfügbar sein.

Leider kamen die Schmerzen in den ersten Monaten immer wieder. Daher war Agnes noch einige Male zur Puls-Therapie stationär im Krankenhaus. Um diesen Jojo-Effekt zu beenden und vom Kortison ganz wegzukommen, begannen wir schließlich die Behandlung mit einem speziellen Medikament, einem sogenannten Biologika: Dieser Wirkstoff namens Adalimumab löst, laienhaft erklärt, einen Baustein aus dem Netz des Immunsystems heraus, der für dessen Überreaktion und damit das juvenile Rheuma verantwortlich gemacht wird. Mit Beginn dieser Therapie kamen die Schmerzen nicht mehr zurück. Und tatsächlich konnten wir nach und nach die anderen Medikamenten absetzen. 

Im Frühjahr 2020 bekam Agnes nur noch eine Spritze jede Woche und alle zwei Wochen die zweite Spritze mit dem Biologikum. Die Physiotherapie konnte beendet werden. Sie hatte seit gut einem Jahr keine Schmerzen oder Einschränkungen mehr. Nun wollte ich wieder im Job durchstarten, die Gelegenheit schien günstig. Doch dann kam alles anders: Corona begann.

Daran erinnert mich das nächste Foto, das mein Handy mir von alleine präsentiert. Es zeigt Agnes und ihre ältere Schwester July auf ihren Rädern an einem Frühlingstag 2020. Auf dem Bild herrscht eine seltsame Feiertagsstimmung im Berliner Tiergarten. Auf einer weitläufigen Wiese tummelten sich Familien. Am Rand flanierten ältere und jüngere Paare. Es war der zweite Monat der Pandemie in Deutschland.

Schon in den ersten Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie wurden nach und nach alle meine Foto-Produktionen und -Aufträge abgesagt. Anfang April 2020 war meine Arbeit fast ganz zum Erliegen gekommen, Katja arbeitete nur noch von zuhause aus. Noch war wenig über das neue Virus bekannt. Julys Schule hatte auf Homeschooling umgeschaltet, sogar die Spielplätze waren geschlossen.

Wie gefährlich war Corona für Agnes? Niemand konnte uns sagen, wie es unserer Tochter mit ihrem Kinder-Rheuma und den immundämpfenden Medikamenten, die sie bekam, im Falle einer Infektion mit dem Corona-Virus ergehen würde. Es herrschte ja eine diffuse Angst, die alle bei dem Gedanken an eine mögliche Sars-CoV-2-Infektion erfasste. Wir Eltern schätzten das Risiko für einen schweren Verlauf deutlich höher ein, denn die Behandlung mit Adalimumab erhöht das Risiko für schwere Infektionen. So mussten Catherine und ich die nächsten zwei Jahre lang ständig abwägen – zwischen den möglichen Schäden in Agnes' sozialer Entwicklung, die durch die Isolation entstanden, den finanziellen Einbußen, wenn sie nicht mehr in die Kita ginge und ich gar nicht mehr arbeiten könnte und dem möglichen Schaden durch einen schweren Infektionsverlauf aufgrund des rätselhaften neuen Virus.

Vonseiten der Kita kamen keine Vorschläge, wie Agnes – möglicherweise besser geschützt durch angepasste Betreuungsmodelle – wenigstens für wenige Stunden weiter betreut werden könnte. Schließlich richteten wir uns als Familie ohne die Kita ein. Damit Katja und July in unserer Wohnung arbeiten und lernen konnten, bedeutete das in der Praxis: Agnes und ich mussten ab Frühjahr 2020 an jedem Werktag mindestens fünf Stunden unterwegs sein.

Und wir machten das Beste daraus: Wo ich früher Agnes einfach eingepackt und mit auf Ausflüge genommen hatte, entstand nun ein Miteinander. Mit aller Zeit der Welt widmeten wir uns auf unseren Exkursionen den Tieren und Pflanzen, betrachteten Steine, kletterten auf Bäume, fütterten Eichhörnchen und malten aufwendige Bilder mit Kreide aufs Pflaster. Wir erkundeten jeden Winkel des Zoos, der neben dem Tierpark als einzige Attraktion geöffnet blieb. Drinnen, zuhause, wurde fotografiert, gemalt und gebastelt. Über die Zeit entstanden neben unzähligen Bildern, Häuser, Fahrzeuge und Masken aus Pappe. Und nach und nach lasen und guckten wir uns durch einen von mir kuratierten Kinderbuch-Kanon.

Zum Glück besuchte auch Agnes' bester, gleichaltriger Freund Anton in den ersten Monaten der Pandemie nicht die gemeinsame Kita. So teilten seine Eltern und ich uns die Kinderbetreuung und unternahmen mit beiden Kindern abwechselnd Ausflüge: die Agnes-Anton-Kita.

Zwar beriet ich in der Zeit zwei Unternehmen und eine wissenschaftliche Zeitschrift in bildredaktionellen Fragen und verkaufte auch Fotos aus meinem Alltag an verschiedene Magazine, aber so kamen vielleicht 30 Prozent der Einnahmen von vor Corona herein. Katja musste immer mehr finanzielle Verantwortung übernehmen.

Das nächste Bild erscheint in der Smartphone-Rückblende: An einem grauen Januartag 2021 sitzt Agnes hinter einer Plastikplane – einigermaßen vor Wind und Kälte geschützt – vorne im Lastenrad und isst Maultaschen aus einer Thermoschüssel. Inzwischen hatten wir allerlei Zubehör für unsere Ausflüge angeschafft. Eine Thermoskanne und -schüssel, allerlei warme Unterwäsche für Agnes und mich. Agnes war gerade fünf geworden. Morgens hatten wir ein Eisbrecherschiff auf dem Landwehrkanal beobachtet. Später versuchten wir mit Stöcken die Eisdecke auf einem anderen Stück des zugefrorenen Kanals zu durchstoßen. 

Es wurde schwerer, optimistisch in die sich immer mehr gleichenden und meist nassgrauen Tage zu starten. Katja stöhnte unter der Last der Arbeit. Agnes war genervt davon, nur mit mir ihre Tage zu verbringen. Ich bekam allen Frust von ihr ab. Bald darauf aber schneite es ungewöhnlich heftig und lange in Berlin. Agnes und ich gingen jeden Tag im nahen Mauerpark rodeln. Wir bauten Schneemänner und bewarfen uns mit Schneebällen. Der Schnee war eine glückliche Fügung für uns zwei – gegen die grauen, eintönigen Wintertage in der Pandemie.

Der Schnee war eine glückliche Fügung für uns zwei.

Im Frühsommer 2021, endlich, waren Katja und ich durchgeimpft. Die Fallzahlen waren in Deutschland niedrig. Das Tal der Pandemie schien für uns erstmal durchschritten. Agnes bekam nur noch eine Spritze alle zwei Wochen. 

Sommer 2021 – ein neues Bild: Fahrradlenker, Agnes' blonder Schopf, die rotbraune Sitzkiste. Hier radeln wir in einem Cargobike durch München. Als dieses Foto entstand, waren wir beide wenige Tage zuvor in Richtung Süden aufgebrochen. Seit Beginn der Pandemie hatte ich meine Heimatstadt München nicht mehr besucht und meine Eltern nicht mehr getroffen – eineinhalb Jahre waren vergangen, eineinhalb Jahre hatte Agnes Oma und Opa nicht »in echt« gesehen. Aus Vorsicht hatten meine Eltern sich in der Pandemie zurückgezogen.

Nach all der gemeinsamen Zeit zu zweit reisten Agnes und ich sozusagen auf Augenhöhe durch die Stadt meiner Kindheit. Wir badeten im Eisbach, wanderten durch grüne Wälder im bayerischen Voralpenland und in Österreich. Dort entdecken wir steile Wasserfälle und kleine Tierchen unter Steinen in klaren Gebirgsbächen.

Inzwischen ist Agnes sieben Jahre alt, doppelt geimpft und genesen ist sie sowieso. Seit vergangenem Jahr besucht sie die Grundschule, und diesen Text hier hat konnte sie inzwischen (größtenteils) selber lesen. Unsere Tochter gilt nach heutigem Kenntnisstand nicht als Risikopatientin, es liegen inzwischen Studien zu Corona und Kinderrheuma-Patienten, die gut medikamentös eingestellt sind, vor.

Agnes und ich sind uns auf eine Art nahegekommen, die ich niemals missen möchte. Das gemeinsame Treiben lassen, die Alltagswelt erforschen und das Sammeln von Momenten – dieses Gefühl verlässt uns nicht.

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