Die subtropische Sonne brennt an einem ganz gewöhnlichen Dezembertag in Mitteleuropa auf einen kreisrunden, scheinbar bodenlosen See, unter Palmen und Lianen verdaut ein Krokodil die letzte Beute, während Ameisen, groß wie Gottesanbeterinnen, über den Boden eilen. Ein braunfelliges Säugetier mit länglicher Schnauze, entfernt an ein Pferd erinnernd, überquert den mächtigen Wall, der den See umgibt. Überrascht von dem steilen Abhang stürzt es, verletzt sich und rutscht den jäh abfallenden Grund ins Wasser hinab.
48 Millionen Jahre später steigt, ganz in der Nähe des Orts, an dem das Urpferdchen in die Tiefe glitt, Stephan Schaal aus einem Geländewagen, blickt über sein Reich und spricht: »Das hier ist eine der zehn besten Fossilienfundstätten der Welt.« Schaal ist Paläontologe am Frankfurter Senckenberg-Forschungsinstitut der Leibniz-Gemeinschaft und Leiter der »Messelforschung«. Und »das hier« ist die Grube Messel nordöstlich von Darmstadt, ehemaliger Ölschiefertagebau, einen Kilometer lang, 60 Meter tief. Teils graubraun brachliegend, teils überwuchert von Birken, ist sie allerorts randvoll mit mordsmäßig gut erhaltenen Fossilien aus dem Eozän, jenem Erdzeitalter nach dem Massentod der Dinosaurier.
Im warmen Klima dieser Zeit führten die Ozeane deutlich mehr Wasser als heute. Große Teile Europas waren überflutet, nur höhere Landmassen ragten als Inseln heraus, im Süden umgeben von dem Meer Tethys (dessen kümmerlichen Rest wir heute Mittelmeer nennen). Die Kontinentalplatten hatten sich noch nicht an ihren Platz bewegt; Messel lag etwa dort, wo heute Südfrankreich ist, zwischen einem gewaltigen Gürtel aus tropischen Regenwäldern und den schier endlosen Laubwäldern, die die Erde bis in die höchsten Breitengrade bedeckten.
35.000 versteinerte Pflanzen, 16.000 Insekten und 7.000 Wirbeltiere haben die hessischen Forscher bisher in der Grube gefunden. Von etwa 600 weltweit bekannten fossilen Vogelarten stammen 50 aus Messel; gut 400 im Ölschiefer versteinerte Tier- und Pflanzenarten hatte kein Mensch zuvor gesehen. Seit 1995 gehört die Grube deshalb zum UNESCO-Welterbe, jener exklusiven Liste von Bauwerken und Naturschauplätzen, denen die Kulturbehörde der Vereinten Nationen herausragende universelle Bedeutung für die Menschheit bescheinigt — etwa, weil sie besonders deutlich zeigen, wie sich das Leben auf der Erde entwickelt hat.
An den Hängen liegen vertrocknete Ölschieferflocken so locker auf feuchteren Schichten, dass ein unbedarfter Tritt eine kleine Sedimentlawine auslösen kann. Schaal, der obenherum ein elegantes Sakko, ganz unten aber ausgrabungstaugliches Schuhwerk trägt, passiert das natürlich nicht. Er bückt sich, schiebt eine Handvoll Ölschieferbruch beiseite, greift wahllos in das Material darunter und präsentiert etwas, das der Laie für einen braunen und ansonsten bedeutungslosen Sedimentfetzen halten würde: »Sehen Sie mal, ein versteinerter Pflanzenrest.« So ist das in Messel: Wenn man gräbt, geht es nicht darum, ob man Fossilien findet, sondern darum, welche Arten es sind: nur bereits bekannte Farne, Fische, Fledermäuse — oder eine wissenschaftliche Sensation.
Unter anderem holten die Paläontologen bisher aus dem Ölschiefer: mehrere foxterriergroße Urpferdchen, deren Zähne ihre Verwandtschaft zu heutigen Pferden eindeutig belegen. Dutzende Exemplare einer geflügelten Ameisenart, deren Königin locker auf Kolibrigröße heranwuchs. Und »Ida«, das bisher vollständigste Fossil eines Primaten — bis in einzelne Haarspitzen ist ihr Fell erkennbar.
Die Funde ermöglichen es den Forschern, Lücken im Stammbaum des Lebens zu schließen, unbekannte Vorfahren aufzuspüren und Verwandtschaftsverhältnisse aufzuklären. »Wir werden es nie schaffen, sämtlichen Ölschiefer auf Fossilien zu untersuchen«, sagt Schaal, den Geländewagen über holprige Spitzkehren bis an den Boden der Grube steuernd. Obwohl die Grabungsteams aus Präparatoren und Studierenden der Geologie üblicherweise das ganze Sommerhalbjahr durcharbeiten, bräuchten sie dafür Jahrhunderte. Eine Fossiliengrube hebt man nicht mit Baggern und Muldenkippern aus. Das schwerste Gerät, das zum Einsatz kommt, sind Kettensägen. Mit denen trennen die Forscher Blöcke aus dem Boden, die sie dann in Feinarbeit zerkleinern und sichten.
Das hier ist eine der zehn besten Fossilienfundstätten der Welt.
STEPHAN SCHAAL
Zurzeit jedoch wird in Messel überhaupt nichts ausgegraben: Die Denkmalschutzbehörde hat die Auflagen verschärft, kurioserweise mit dem Hinweis, andernfalls sei der Welterbestatus gefährdet. »Das ist schwer nachvollziehbar«, sagt Schaal. »Ohne die Funde aus unseren Grabungen hätten wir den Status ja niemals erhalten können.« Mit demselben Argument ließe sich dem Bischof im Kölner Dom die Messe verbieten, damit sich das Gebäude nicht abnutzt. Doch inzwischen haben die Senckenberg-Leute mit den Denkmalschützern verhandelt. Ab 2019 dürfen sie weitergraben.
Dass die Messeler Versteinerungen so gut erhalten sind, ist dem Zusammenspiel mehrerer, für die Fossilbildung geradezu idealer Bedingungen zu verdanken. Der See, in dem die Pflanzen und Tiere des Eozäns zu Boden sanken, war ein Maar. Maare entstehen, wenn große Mengen Grund- oder Regenwasser aufsteigendem Magma begegnen. Sie verdampfen explosionsartig, es zischt und knallt, und die freigesetzte Energie sprengt das Gestein auf. In Messel folgten mehrere solcher Explosionen aufeinander und trieben ein 400 Meter tiefes und einen Kilometer weites Loch in den Boden, das sich später mit Wasser füllte.
Am Grund des tiefen, abflusslosen Sees enthielt dieses Wasser extrem wenig Sauerstoff. Noch nicht einmal die Kleinstlebewesen, die sonst Kadaver und Pflanzenreste zersetzen, konnten dort unten überleben. Was hinabsank, wurde nicht verspeist, nicht abgenagt, nicht zersetzt. Es blieb genau so liegen, wie es war. Sedimente und abgestorbene Algen bedeckten es mit einem ständig wachsenden Teppich. Nach 800.000 Jahren verlandete der See; in den folgenden Jahrmillionen verdichtete sich die Schicht zu einem spröden, bräunlichen Gestein. Weil es unter Druck in flache Scheiben zerbricht und einen erdölähnlichen Brennstoff enthält, wird es als Ölschiefer bezeichnet.
Die Fossilien, die Schaal und seine Leute in diesem Material entdecken, sind nicht — wie an vielen anderen Fundorten — kaum erahnbare Linien im Gestein. Sie sind detailgetreue Abbilder des Lebens im Eozän, oft bis auf den kleinsten Knochen, die feinste Schuppe vollständig. Der Chitinpanzer einiger Käfer ist derart gut erhalten, dass seine Oberfläche noch heute das Licht bricht. Die Tiere schillern, als habe ein geschickter Fälscher einen Blattkäfer in Ölschiefer gebettet und als Fossil verkauft.
Schaal lenkt den Geländewagen aus der Grube und parkt ihn ein paar Minuten weiter vor einem schmucklosen weißen Gebäude. Darin äugt ein Mann mit Lockenkopf in ein Binokularmikroskop im Wert einer fabrikneuen Oberklasselimousine. Unterm Objektiv liegt eine dunkle, briefbogengroße glänzende Platte, deren Mitte das Skelett eines Fischs zeigt. Ein solcherart unpräpariertes Fossil gleicht einer Radierung: Die Formen sind erkennbar, aber das Objekt ist beinahe zweidimensional.
Michael Ackermann verleiht ihm Tiefe. Er greift zu einer Präpariernadel und schabt — als sei es das Normalste der Welt, so viel Geduld für so kleine Arbeitsschritte aufzubringen — winzige Flocken Ölschiefer vom Strahl der Rückenflosse des Cyclurus kehreri, auch als »Schlammfisch« bezeichnet. »Die habe ich schon so oft präpariert, dass ich genau weiß, wo die Knochen anfangen und aufhören«, sagt Ackermann. Alle paar Minuten muss er den Ölschiefer mit Wasser übergießen, sonst wird das Trägermaterial brüchig — und damit das Fossil.
Stephan Schaal greift den möhrenfarbigen Griff eines mächtigen Küchenmessers, mit dem er eben noch Butterkuchen für seine Mitarbeiter zerteilt hat, und sagt: »Wenn wir einen Fund aus der Grube geholt haben,« — mit einem Ruck dreht er den Griff — »spalten wir damit den Brocken, Schicht für Schicht. So legen wir ihn für die Präparatoren frei.« Wird das darin enthaltene Fossil gleich mitgespalten, sagt Schaal, sei das kein Grund zu erschrecken. »Unsere Präparatoren können es wieder zusammensetzen.« Oft gestatte die Innenansicht sogar aufschlussreiche Einblicke in das Fossil.
Dann werden die Versteinerungen von einer Seite in Kunstharz eingegossen. Das Harz hält den Fund nachhaltig beisammen, und die Präparatoren können sich ans Werk machen. Das kann einen Tag dauern oder eine Woche — kommt statt eines Fischs ein Krokodil oder Tapir aus der Grube, durchaus auch mal das gesamte Winterhalbjahr.
Bedenkt man, dass die in Messel konservierte Tierwelt zeitlich näher an der von den Dinosauriern beherrschten Kreidezeit lag als an unserer Epoche, wirken die Fossilien erstaunlich vertraut. Cyclurus kehreri ist ebenso eindeutig als Fisch zu erkennen wie Titanomyrma giganteum als Ameise oder Tachypteronfranzeni als Fledermaus. »Fast alle unsere Fossilien gehören zu Tiergruppen, die heute noch existieren«, sagt Stephan Schaal.
Und deshalb hofft er, dass — wenn die Paläontologen die Grabungen wieder aufnehmen — die Messeler Erde noch ein paar Sensationen freigibt. »Mir ist zum Beispiel rätselhaft, warum wir in einem ehemaligen See keinen einzigen Wasservogel gefunden haben.« Vielleicht bringt das nächste Großprojekt die Lösung: »Ich stelle mir eine 27 Meter tiefe Schachtgrabung vor.« Auf diese Weise, so Schaal, würden die Grabungen nicht mehr nur Punktaufnahmen liefern. Stattdessen könnten die Messeler Forscher die Entwicklung des Lebens verfolgen — über mehrere hunderttausend Jahre hinweg.