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Mehr Sein als Schein.

Zeitreisen, die Besiedlung der Tiefsee oder Kolonien auf dem Mars: Wenn dem Publikum Wissenschaftler (seltener auch Wissenschaftlerinnen) im Film oder in der Literatur begegnen, dann retten sie mindestens die Welt — oder wollen sie umgekehrt, sinistere Absichten verfolgend, ins Verderben stürzen. So oder so fühlen wir uns von solchen Visionen absoluter Machbarkeit bestens unterhalten. Abseits der Science Fiction hat sich aber wohl einiges geändert an unserem Bild vom Wissenschaftler.

Heute begegnet mir in den Medien häufig eine ganz andere Geschichte: eine, die beständig vom Glaubwürdigkeitsverlust der Wissenschaft erzählt und in der sich die zentralen technologischen Heilsversprechen auf Google, Apple und Co. verlagert haben. Warnende Stimmen berichten darin, dass Forschungsergebnisse zur reinen »Ansichtssache« degradiert seien, denen man nach Belieben bequemere »alternative Fakten« gegenüberstellen könne. Da liegt die Versuchung nahe, für die Wissenschaft Gestaltungsanspruch zurückzuerobern, indem man auf ihre Expertise für die ganz großen Fragen pocht; zu denen die Wissenschaft dann natürlich die ganz großen Antworten parat haben muss.

Aber wäre es nicht gerade in diesem Zusammenhang wichtig, einmal ruhig durchzuatmen, statt reflexhaft die Absolutheit von wissenschaftlicher Erkenntnis zu behaupten? Wissenschaft produziert eben gerade nichts Letztgültiges, dafür sind ihre Erkenntniswege überprüfbar und nachvollziehbar, ist Wissen durch neues Wissen widerlegbar. Gute Wissenschaft lässt Irrtum zu und knüpft Wissen an Bedingungen, die hinterfragbar sein sollen. Ihre Durchbrüche spielen sich oft im Unscheinbaren ab. Abstand zu nehmen von den großen Heilsversprechen heißt noch lange nicht, dass gute Wissenschaft keine Visionen einer besseren Welt entwickeln darf. Sie tut das aber in steter Rückkopplung mit der Realität und im Dialog mit der Öffentlichkeit, mit der sie in stetem Wissenstransfer verbunden ist.

In den Kontext einer falsch verstandenen Selbstversicherung der Wissenschaft gehört für mich auch die Flut oft nie gelesener Fachpublikationen. Diese gilt vielen als Beleg für steigende wissenschaftliche Innovationskraft — eine Vorstellung, der ich ein Plädoyer für mehr Gründlichkeit, Langsamkeit und Realitätsbezug, für ein »Mehr Sein als Schein« der Wissenschaft gegenüberstellen möchte. Aber das nur so als Vorschlag …

MATTHIAS KLEINER

Porträt von Matthias Kleiner.

ist seit 2014 Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. Zuvor war er von 2007 bis 2012 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Von 1976 bis 1982 studierte Matthias Kleiner Maschinenbau an der Universität Dortmund, wo er 1987 promoviert wurde und 1991 auch die Habilitation im Fach Umformtechnik erlangte.

Weitere Folgen seiner Kolumne Nur so ein Vorschlag ... finden Sie hier.

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