leibniz

Jede Zeit hat ihre Figuren; Vertreter von Professionen, die normalerweise eher zurückgezogen unter ihresgleichen arbeiten, werden ins Bühnenlicht gezerrt. Bei der Finanzkrise, als sich alles um die Marktregulierung drehte, waren es die Betriebs- und Volkswirte, durch Corona rückten Virologen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Spätestens seit den Ereignissen um den Ukraine-Krieg, drängen Politik und Medien die Klima- und Energie-Ökonomen, doch bitte schnell Antworten zu finden: Wie kann eine grüne Wende gelingen? Und wie gestalten wir sie sozial gerecht?

Wir haben keine Zeit mehr!, rufen die einen – meist Aktivisten. Mit der Zeit werden wir Lösungen finden, beschwichtigen die anderen – meist Politiker. Wie beurteilt einer, der seit Jahren mittendrin ist, wie viel Zeit uns bleibt?

Ottmar Edenhofer ist einer der renommiertesten Klima-Ökonomen, er zählt laut Clarivate Analytics zu den ein Prozent der am häufigsten zitierten Forscher. Bis 2015 war er Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe III des Weltklimarats, die sich mit der »Verminderung des Klimawandels« befasst und 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Seit mehr als 22 Jahren bemüht er sich um Aufmerksamkeit für die Klimakrise und zählt als Experte für CO2-Bepreisung zu den einflussreichsten Wissenschaftlern in der Klimapolitik Europas.

02. November 2022

Anruf beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Ja, Herr Edenhofer könne sich für ein Treffen ein Zeitfenster aus dem Terminkalender schneiden, 40 Minuten vielleicht. Eine Stunde? Schwierig, Herr Edenhofer sei gerade so gefragt. Aber möglich? Dann bitte in seinem Büro. Okay, und ein Vorgespräch via Telefon? Nein, dafür sei keine Zeit. Nur zehn Minuten? Nein. Fünf? Nein. Drei? Herr Edenhofer habe dafür wirklich keine Zeit, als Chefökonom und Co-Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung sei er völlig ausgelastet mit Anfragen; der Winter naht, die Gaspreise steigen.

15. November, 11:00 Uhr

A31, das Hauptgebäude des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) – der berühmte Dreikuppel-Bau auf dem Telegrafenberg, dessen Umrisse zum Symbol des PIK geworden sind. Klopfen an einer dunklen Holztür. Ottmar Edenhofer ist noch in einer Konferenz. Zum Warten bitte in sein Büro.

11:03 Uhr

Zwei Schreibtische für die beiden wissenschaftlichen Direktoren, große Fensterfront auf der einen Seite, ein Regal mit Büchern auf der anderen. »Fuel Taxes And The Poor«, »Wirtschaftskrieg«, »Biological Extinction«, aber auch »Die Stille ist ein Geräusch« von Juli Zeh, und auf Leinwand gemalte Bilder, warme Farben, kaum Struktur.

Ottmar Edenhofers Hand an einem Heizkörper, vor ihm ein Globus.
Ottmar Edenhofer vor einem großen Globus, eine Hand an einem Heizkörper.

OTTMAR EDENHOFER
ist Direktor und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Er ist außerdem Direktor des Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change MCC und Professor für Klimaökonomie an der TU Berlin.

11:10 Uhr

Die Tür schwingt auf, Ottmar Edenhofer betritt den Raum. Kurzer Händedruck, er setzt sich an den Schreibtisch, lehnt sich locker zurück und legt die Finger aneinander, so dass nur die Kuppen einander berühren. Wäre mehr Spannung in den Händen, sein Zeichen wäre eine nach oben gedrehte Merkel-Raute. So, sagt er, über was wollen Sie sprechen?

Der Nobelpreisträger und Klima-Modelleur Klaus Hasselmann sagt: Er habe Vertrauen in die Menschheit, man werde rechtzeitig Lösungen für die Klimakrise finden. Aktivisten hingegen benennen sich selbst als »Letzte Generation«, treten in den Hungerstreik, verweigern ihre Abiturprüfungen, kleben sich auf Autobahnen fest. Wer hat denn nun Recht?

Schauen Sie, sagt Edenhofer, ich verstehe, dass es den Leuten nicht schnell genug geht und ich verstehe die Empörung darüber, wie langsam das alles ist. Die Sorge, dass unsere politischen Systeme vielleicht gar nicht geeignet sind, die Situation zu bewältigen, lässt sich nicht wegdiskutieren.

Dann beginnt er, heute 61, von seiner Kindheit zu erzählen; von der ländlichen Region in Niederbayern, die noch immer seine Sprache färbt. Er beschreibt ein Dorf: Wie auf einer Urlaubskarte, ein kleiner Fluss plätscherte zwischen den Häusern und durch die Wiesen, im Sommer badeten die Kinder, die Eltern, eigentlich alle – niemand brauchte so etwas wie ein Freibad, der Fluss war kühl und frisch und klar. Bis zu diesem einen Sommer. Die genaue Jahreszahl weiß Edenhofer nicht mehr, aber in diesem Sommer ging niemand mehr schwimmen. Der Fluss trug Blut und die Kadaver von Hühnern, mal im Ganzen, mal nur Innereien oder abgeschlagene Körperteile. Eine Hühnerschlachterei hatte eröffnet und entließ ihre Abfälle ungeklärt in den Fluss.

Die Nachbarn sahen es und verboten ihren Kindern das Baden. Der Gemeinderat sah es und diskutierte über die Situation. Geredet wurde viel über den Fluss und die Schlachterei, getan wurde wenig, eigentlich nichts. Sein Vater redete nicht einmal, sondern akzeptierte das alles, einfach so.

Mir schien das so absurd, so ein Akt der Zerstörung, sagt Edenhofer. Das wollte er nicht länger zulassen. Der niederbayerische Bub Edenhofer besorgte sich Linoleum und schnitt es in Rechtecke – Ausweise für einen Naturschutzverein. Er warb auf der Straße, in der Schule, bei seinen Klassenkameraden und Lehrern, er wollte so viele Mitglieder wie möglich gewinnen, um gegen die Hühnerschlachterei vorzugehen.

Irgendwann, als die Gespräche über den Buben mit den Linoleumschnitten über den Schulhof hinausschwappten, nahm sein Vater sich der Sache an. So könne das nicht weitergehen. Es gehe um die Zukunft der Region. Aber auch um sie als Familie. Ottmar solle schleunigst damit aufhören, gegen die Hühnerschlachterei aufzubegehren – sie sei für die Bauern der Region eine Einkommensquelle. Wenn sein Sohn dagegen vorgehe, kämen die Leute nicht mehr ins Familiengeschäft zum Einkaufen.

Da ist so eine unglaubliche Langsamkeit – wenn wir so weitermachen, werden wir das nicht rechtzeitig schaffen.

OTTMAR EDENHOFER

In den 1970er Jahren klärte der Fluss wieder auf, die Schlachterei musste schließen. Die Ölpreiskrise hatte die kleine Fabrik zu heftig getroffen.

Es war nicht mein Protest, der die Schlachterei gestoppt hat, es waren die Ölpreise, sagt Edenhofer. Dann schweigt er kurz und zeigt das zufriedene Lächeln eines Lehrers.

Seine Lektion: Die politischen Institutionen sind zu schwerfällig, ein direkter und unkomplizierter Lösungsweg bringt auch nichts, weil er zum Scheitern verurteilt ist, am Ende ist es das System, das Veränderung schafft. Grundsätzlich klingt die Argumentation stimmig, Edenhofer ist Ökonom. Dem entgegen stehen Ansätze, die das bestehende System als solches in Frage stellen. Die Transformationsforscherin und Volkswirtin Maja Göpel etwa schreibt in ihrem Buch »Unsere Welt Neu Denken«: Die ökonomischen Ideen und Konzepte der letzten 250 Jahre seien nicht dazu geeignet, Antworten auf die Probleme unserer Zeit zu finden. Es brauche neue, nicht systemimmanente Denkansätze, in denen permanentes Wachstum als Problem erkannt wird.

Edenhofers Hände bilden wieder eine umgedrehte Merkel-Raute. Wir leben in einem demokratischen Kapitalismus. Das bedeutet: Das Anliegen kann noch so richtig sein, man wird niemanden dafür gewinnen, wenn man die Lebensumstände der Leute ignoriert. Eine erfolgreiche Klimamapolitik muss die kleinen und mittleren Einkommen mitdenken.

Edenhofer sagt, er sei kein Freund von Utopien.

11:16 Uhr

Während Edenhofer in seinem Büro erzählt, rauschen draußen die Nachrichten: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kündigt an, juristische Möglichkeiten zu prüfen; Aktivisten der »Letzten Generation« haben Kartoffelbrei auf das Schutzglas vor einem Monet-Gemälde geworfen. Später am Tag wird die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) fordern, Gesetze so zu ändern, dass Klima-Demonstranten länger als 48 Stunden in Gewahrsam genommen werden können. Bei Maischberger wird der bayerische Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) von verantwortungslosen »Klima-Radikalen« sprechen.

Von all dem weiß Edenhofer nichts, als er sagt: Ja, es gehe zu langsam, ja, alles sei zu schleppend, ja, es müsse viel schneller werden. Aber apokalyptische Untergangsstimmung, die diese Proteste mitunter aufbauen, die halte ich für unbegründet. Es sei nicht so, dass in den zurückliegenden Jahren nichts passiert sei. Im Gegenteil. Vor 22 Jahren habe er als Postdoc seinen ersten Vortrag zum Klimawandel gehalten, an der Industrie- und Handelskammer Nürnberg. Die haben mich damals noch angeguckt, als wäre ich dort, um den Mord an meiner Großmutter zu beichten, sagt Edenhofer. Die haben mich gar nicht verstanden. Was ich gesagt habe, war viel zu weit weg von ihrer Lebensrealität. Das war absurd. Mit Klimapolitik seien damals noch keine Karrieren möglich gewesen – das war ein absolutes Randthema, sagt er, ein Add-on-Gedöns, weit weg von zentralen politischen Debatten.

Heute versuchen sogar Spitzenpolitiker von FDP und Union, mit Klimathemen zu punkten – und verurteilen Aktivisten nur noch für die Art ihres Protests. Extremereignisse wie Fluten und Überschwemmungen besitzen eine so große Dramatik, dass die Klimakrise längst ins Zentrum der Betrachtung gerückt ist, sagt Edenhofer. Er erwähnt nicht das Ahrtal, vielleicht weil er als Wissenschaftler auf globaler Ebene denkt, aber er muss es im Kopf haben, wenn er von Fluten und Überschwemmungen spricht, schließlich war es auch ein Ökonom, der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der das Konzept von schnellem und langsamem Denken etablierte: Was entfernt in der Zukunft passiert, berührt uns wenig, was uns nahe geht, ist die Gegenwart.

Klimawandel ist spürbar geworden. Und so formt Klimapolitik inzwischen den Kern der G20-Treffen, die Klimakonferenz der UN (COP) wurde zum medial vielleicht am intensivsten begleiteten Showdown der Weltpolitik.

11:21 Uhr

Und doch: Es ist ein Showdown, bei dem der Menschheit die Zeit davon schmilzt. Bei einer Antrittsvorlesung Anfang November, die Uni Duisburg-Essen hatte Edenhofer die Mercator-Professur verliehen, wurde er von einer Frau aus dem Publikum gebeten, er, der auf so vielen Konferenzen gewesen sei, solle mal Hoffnung machen. Er antwortete, er könne – eben durch seine Erfahrung mit solchen Konferenzen – eher das Gegenteil. Da ist so eine unglaubliche Langsamkeit, sagt Edenhofer. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir das nicht rechtzeitig schaffen. Wäre er Politiker, solche Sätze würden von Schärfe gegen die Regierenden begleitet, von gespielter oder tatsächlicher Empörung, sie würden laut gesprochen und schwer von Emotion. Edenhofer aber sagt es in der benennenden Art eines Wissenschaftlers, in dieser Es-ist-so-Tonalität.

Aber es ist mir zu leicht, auf das System zu schimpfen und darauf, dass seine Prozesse der Situation womöglich nicht gerecht werden. Ich sehe es als ethische Pflicht, Lösungsansätze in die Sprache des Systems zu übersetzen. Und die Vokabeln dieser Systemsprache seien eben Zahlen, Preise, Marktdynamiken, Kapital.

Was er von den Protesten mitbekomme, das seien häufig Utopien. Und er halte nun mal nicht viel von Utopien, sagt er wieder. Die sind außerhalb von Raum und Zeit, im Nirgendwo. Ich glaube, die Herausforderung ist, von einem konkreten Ausgangspunkt aus aufzuzeigen, wo es hingehen kann, ohne auf dem Weg Teile der Gesellschaft abzuhängen.

Klimaschutz wird in Fernsehdebatten und Protesten aber oft als Kontrast zum bestehenden System dargestellt, als unvereinbar mit dem Kapitalismus: Radikaler Klimaschutz bräuchte einen Systemumsturz. Edenhofer ist kein Radikaler.

11:37 Uhr

Die Erzählung, das bestehende System sei unfähig und bekomme nichts hin, ärgert Edenhofer. Auch die Legende, ohne Fridays For Future (FFF) oder den Druck durch Aktivisten sei nichts passiert, stimmt so kategorisch einfach nicht. FFF habe einen wichtigen Beitrag geleistet und sei ein zusätzlicher Hebel gewesen, die entscheidenden Weichen aber seien durch EU-Verträge gestellt worden – vor dem Aufkommen der Proteste.

Bis dahin war es ein weiter Weg: 2009 scheiterte die Klimakonferenz in Kopenhagen, 2010 wurde eine Kaskade an Skandalen über den IPCC (den Intergovernmental Panel on Climate Change) öffentlich –wirtschaftliche Korruption, wissenschaftlich nicht belegbare Aussagen, zweifelhafte Darstellung von Szenarien. Leitmedien verfielen in einen Tenor des Misstrauens gegenüber der Klimafolgenforschung. Im Gespräch mit Journalisten kam ich mir fast vor, als würden sie mich beschimpfen, sagt Edenhofer. Da war kaum Vertrauen, nicht einmal von Sendern wie dem ZDF.

Edenhofer war maßgeblich daran beteiligt, dass der IPCC durchleuchtet, seine Forschungen besser geprüft wurden. Die wiederhergestellte Glaubwürdigkeit war wohl eine der Grundlagen für das Übereinkommen von Paris – am 12. Dezember 2015 beschlossen 195 Länder einen Völkerrechtsvertrag für den Klimaschutz.

Als ein Spitzenberater der Politik beeinflusst Ottmar Edenhofer auch den Emissionshandel innerhalb der EU. Die Einnahmen könne man in Startups und grüne Technologien investieren, sagt er, während man das verfügbare Gesamtbudget an CO2-Emmissionen, die ausgestoßen werden dürfen, jedes Jahr ein klein wenig weiter senkt. Als weiteren Hebel, der noch zu ungenutzt sei, nennt Edenhofer multilaterale Entwicklungsbanken. Die brauchen ein einflussreiches Mandat und Budget, um etwa in Entwicklungsländern Kohlekraftwerke aufzukaufen und Gewinne so umzuleiten, dass auch dort in grüne Technologien investiert werden könne.

Klimapolitik, die sich aus einem elitären grünen Dünkel nährt, lehne ich rundheraus ab.

Wenn Edenhofer das System verteidigt, dann verteidigt er – womöglich unbewusst –auch seine eigene Arbeit. Und es ist ja tatsächlich eine Leistung, die Würdigung verdient: Nur wenige wissenschaftliche Berater haben in den vergangenen Jahrzehnten mehr für den Klimaschutz erreicht.

Ja, die Emissionen sinken zu wenig und sie sinken zu langsam, sagt Edenhofer. Aber sie sinken. Europa hat den Green Deal beschlossen, die USA den Inflation Reduction Act. Wir haben zehn Jahre lang darüber diskutiert, ob es den Klimawandel überhaupt gibt. Heute unternehmen zwei große Demokratien die größten Anstrengungen im Bereich des Klimaschutzes. Diese Fortschritte verdienen Anerkennung.

11:46 Uhr

Verdienen Maßnahmen, die zwar weiterhelfen, aber eben nicht schnell genug, tatsächlich Anerkennung? Nur in wenigen Debatten wird so oft mit der Zeit argumentiert, die verrinne, wie in der Diskussion ums Klima. Auch der Kernzweck des IPCC ist es, politische Entscheidungsträger über Gefahren zu informieren. Wer aber über Gefahren spricht, verlässt das Gebiet der Naturwissenschaften. Gefahr ist eine Bewertung – und damit Gegenstand der Moralphilosophie.

Klima-Aktivisten begründen ihre Proteste häufig mit dem Argument der Moral. Für mich ist es das Einzige, was sich moralisch richtig anfühlt, sagte etwa eine Aktivistin der »Letzten Generation« kürzlich in einem Interview, damit ich mir in 20 Jahren guten Gewissens in die Augen schauen und sagen kann: Ich habe es wenigstens versucht.

Edenhofer klebt an keiner Straße und fordert keinen Systemumsturz, er sitzt in einem Büro und arbeitet mit dem System. Aber auch er beansprucht das Argument der Moral. Ich finde es nicht gerechtfertigt, auf einem moralisch hohen Ross zu sitzen und gleichzeitig so zu kommunizieren, dass es die Teilsysteme – Betriebe und ganze Volkswirtschaften, die Regeln des Marktes, aber auch der Gesetzgebung – nicht verstehen können, sagt er. Moral sei ein Begriff, mit dem eine Marktwirtschaft nicht arbeiten könne. Wer Klimaschutz von einem demokratisch-kapitalistischen System fordert, muss sich auf dessen Begriffe einlassen: Geld, Ressourcen, Steuern, Kosten, Handel.

Auch daher erkennt Edenhofer im Emissionshandel ein so wichtiges Werkzeug: Er helfe, klimafreundliche Innovation zu belohnen; etwa mit Vergünstigungen, oder Gewinn durch den Verkauf überschüssiger Zertifikate. Wer sich solcher Innovation versperre oder sie verschleppe, riskiere Verluste und langfristig seine wirtschaftliche Existenz. Edenhofer sagt: Ich versuche zutiefst moralische Entscheidungen so zu übersetzen, dass ökonomische Systeme damit arbeiten können.

Den Emissionshandel aber gibt es bereits seit Jahren. Um die Klimaziele zu erreichen, reicht er in der derzeitigen Form nicht aus. Edenhofer wirft die Hände in die Luft, zum ersten Mal wird er laut, zumindest kurz. Da könnte ich jetzt einen zweistündigen Vortrag halten, was ich an Entlastungspaketen und Ausgestaltung des Emissionshandels noch alles zu meckern habe, sagt er. Aber Politik in einer Demokratie bleibt ein steter Aushandlungsprozess. Dass es zu Konflikten und Verwerfungen kommt, die Prozesse verzögern, sollte uns nicht überraschen, wenn es um so fundamentale Fragen für die Menschen geht wie Arbeitsplätze und ihre Lebensperspektiven.

DER PREIS DER VERSCHMUTZUNG

Treibhausgase wie CO² tragen maßgeblich zur Erderwärmung und zum Klimawandel bei. Seit Jahren beschäftigt sich Ottmar Edenhofer damit, wie Emissionen reduziert werden können. Stark macht er sich dabei immer wieder für ein Konzept: den Emissionshandel. Energiekonzerne, Fluggesellschaften oder Unternehmen, die in der Europäischen Union angesiedelt sind und besonders viel schädliche Gase ausstoßen, müssen seit 2005 für jede Tonne CO², die sie freisetzen, ein Zertifikat besitzen. Diese Zertifikate werden vom Staat verteilt, zum Teil versteigert. Unternehmen können sie auch verkaufen, wenn sie weniger Emissionen erzeugen. Die Idee: Wenn sie Umweltfreundlicher wirtschaften, lohnt sich das für sie auch finanziell, und auch Investitionen in nachhaltige Technologien werden so interessant für sie. Damit die Emissionen Stück für Stück reduziert werden, vergibt der Staat von vorneherein weniger Zertifikate, als es für den aktuellen Ausstoß an CO² nötig wäre. Jedes Jahr kommen weniger von ihnen in Umlauf, um weltweite Klimaziele zu erreichen.

12:00 Uhr

Klopfen. Es ist jetzt Punkt 12, sagt eine Männerstimme. Ja, ja, wir kommen gleich, antwortet Edenhofer. Die Tagesschau wartet auf ein Interview.

12:01 Uhr

Noch etwas, zum Punkt der Moral: Soziale Kohäsion (der Europarat definiert sie als die Fähigkeit einer Gesellschaft, das Wohlergehen all ihrer Mitglieder zu sichern) sei überlebenswichtig für den zivilisatorischen Firn. Wenn sich ins historische Gedächtnis der Menschen einbrennen sollte, dass steigende Ressourcenpreise mit dem Verlust von sozialer Gerechtigkeit einhergehen, dann hätten wir verloren.

Was Edenhofer nicht sagt: Steigende Energiepreise treffen vor allem Geringverdienende, höhere Steuern für Benzin strafen Pendler ab, teurere Flüge und Kampagnen gegen Billig-Airlines bedeuten neben Klimaschutz eben auch: Klassismus. Auch von blockierten Straßen sind Handwerker, Fernfahrer und andere Berufe mit geringem Lohn häufiger und deutlicher betroffen als Top-Verdiener.

Was Edenhofer sagt: Die Politik muss auch den vermeintlich kleinen Leuten gerecht werden. Klimapolitik, die sich aus einem elitären grünen Dünkel nährt, lehne ich rundheraus ab. Wer moralisiert, arbeitet mit Scham. Aber Scham gehört zu den schlimmsten Gefühlen. Durch Scham werden Menschen nicht mitgenommen, nicht motiviert. Scham ist kontraproduktiv.

So pragmatisch und weltgewandt Edenhofer zu argumentieren versucht: Auch seine Ideen bekommen ein Problem, übersetzt man sie in die Wirklichkeit. Multilaterale Entwicklungsbanken, die im Ausland investieren, um so über den europäischen Markt hinaus zu wirken – das kann innerhalb des Systems gelingen. Aber wie nimmt man die kleinen Menschen mit, für so große, weltumspannende Systemideen? Wie vermittelt man einem Eisenbahner, einem Bauarbeiter, irgendjemandem draußen auf dem Land, mit wenig Geld und zu vielen Zahlen auf der Gasrechnung, dass Millionen oder gar Milliarden aus Deutschland erst in eine Bank gepumpt und dann in Vietnam investiert werden sollen, um Kohlekraftwerke aufzukaufen – während Deutschland solche Kraftwerke abbaut? Dass man auch die Kraftwerke in Vietnam langfristig durch grüne Energien ersetzen will, hilft da wenig. Vietnam, das ist weit weg.

Dafür Verständnis zu schaffen, ist schwer, sagt Edenhofer, das ist sehr schwer. Man müsse den Leuten vermitteln, dass Deutschland keine Insel mehr sei. Da liege die berühmte Chance in Krisen: Bei Kriegsbeginn in der Ukraine habe er, gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des PIK, begonnen auszurechnen, was steigende Gaspreise für kleine und mittlere Haushaltseinkommen bedeuten. Wie müssen Kompensationspakete ausschauen? Ich bin sofort ins Kanzleramt gelaufen, sagt Edenhofer, und habe gesagt, dass wir einen Kanal brauchen, um den Leuten direkt Gelder zukommen zu lassen.

Menschen müssen Veränderungen und Entscheidungen positiv im eigenen Leben spüren. Wem man droht oder etwas wegnimmt, der wird eine Sache selten aufgrund moralischer Überzeugung unterstützen. Das gelingt im Augenblick noch nicht. Von energieeffizienteren Fahrzeugen etwa profitieren vor allem Langstreckenfahrer – ärmere Haushalte aber fahren vor allem Kurzstrecke. Auch die Pendlerpauschale ist tendenziell auf weitere Strecken angelegt. Dasselbe gilt sogar für die Landwirtschaft: Wer mehr Fläche besitzt, erhält mehr Subventionen. Auch das gehört zum bestehenden System.

Natürlich gibt es eine ganze Menge Fehler, sagt Edenhofer. Statt zu Moralisieren, ist es wichtig, diese anzugehen.

Ottmar Edenhofer vor dem Potsdam Institut für Klimafolgenforschung.

12:08 Uhr

Nochmal klopfen. Langsam werde es dringend, die Sendezeit lasse sich ja schlecht verschieben – das Team der Tagesschau habe Zeitdruck. Edenhofer nickt, eine Minute.

12:09 Uhr

Die Wut, dass zu wenig passiert, den Zorn, dass alles so langsam passiert, das kann ich verstehen, sagt Edenhofer. Gleichzeitig befinden wir uns aber auf einem Weg mit vielen Unwägbarkeiten und Gefahren. Und auf so einem Weg kann man nicht sprinten, oft kann man sich nur stetig voran tasten. Wir müssen die Situation mit Mut, Nerven und Vorsicht angehen. Das bestreitet ja nicht den Ernst der Situation, bedeutet aber, dass wir dabei Ruhe bewahren müssen. In Panik kann man keine Bergtour bestehen.

12:10 Uhr

Am Ende ist es eine Wette, sagt Edenhofer. Wir bestreiten unser Leben immer wieder durch Wetten. Habe ich den richtigen Partner gefunden? Heirate ich? Für welches Studium, für welchen Beruf entscheide ich mich? Traue ich mich, ein Kind zu bekommen und vertraue darauf, dass für dieses Kind in dieser Welt schon alles gut werden wird? Meine existenzielle Wette ist, dass es hoffentlich reichen wird, was wir mit kontinuierlicher Arbeit und viel Nachdruck voranbringen, um Apokalypsen zu vermeiden und die Klimakrise zu bewältigen.

12:10 Uhr

Edenhofer muss los. Jetzt wirklich. Den Leuten der Tagesschau läuft die Zeit weg. Er hebt noch schnell die Hand, und tritt ab.

12:11 Uhr

Eine Wette, ausgerechnet so etwas grundsätzlich Unwissenschaftliches. Aber es ergibt auch Sinn. Die Wissenschaft kann Situationen beschreiben, Dynamiken erklären, Wahrscheinlichkeiten errechnen und Szenarien modellieren; sie findet auf viele Fragen verlässlich Antworten. Aber sie kann keine sicheren Anweisungen geben, was zu tun ist, damit am Ende nicht doch alles schief geht. Wissenschaft gibt keine Garantie. Eine Wette bedeutet immerhin: Hoffnung.

Vielleicht auch interessant?