leibniz

 

 

Psychische Belastungsgefährdungen am Arbeitsplatz sind ein ernstzunehmendes Problem. Sie senken die Lebensqualität, können krank machen – und auf Dauer sogar die Existenz gefährden. Wie kann man die eigene Resilienz steigern? Ist die psychische Gesundheit von Berufseinsteiger:innen besonders gefährdet? Welche strukturellen Veränderungen sind notwendig? Wir haben mit einer Promovendin, einer Resilienzforscherin und drei Führungskräften aus Wissenschaft, Wirtschaft und Bundeswehr darüber diskutiert.

STEPHANIE COßMANN
ist lawyer und war als Arbeitsdirektorin und Personalvorständin bei einem Chemiekonzern tätig.

RUBINA ROY
ist Bundeswehrärztin und forscht zu psychischen Belastungen zum Beispiel in Auslandseinsätzen.

DONYA GILAN
ist Psychologin und Resilienzforscherin am Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR). 

SEBASTIAN LENTZ
ist Humangeograf und Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde (IfL). Als Vizepräsident der Leibniz-Gemeinschaft leitete er eine Task Force zu psychischen Belastungsgefährdungen. 

PANKHURI SAXENA
promoviert im Bereich »Kognitive Neurowissenschaften« am Deutschen Primatenzentrum, dem Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ).

LEIBNIZ Frau Coßmann, Frau Gilan, Herr Lentz, Frau Roy, Frau Saxena, psychische Gesundheitsgefährdungen sind in den vergangenen Jahren zunehmend Thema in der öffentlichen Debatte – mit Blick auf den wissenschaftlichen Nachwuchs, aber auch darüber hinaus. Zu Recht?

STEPHANIE COßMANN Die Zahl der Menschen, die unter psychischen Einschränkungen leiden oder einen Burnout haben, ist in den vergangenen 4 Jahren um mehr als 50 Prozent gestiegen. Das ist ein dramatisches Problem – auch für die deutsche Industrie, denn in bestimmten Bereichen haben wir bereits jetzt einen Arbeitskräftemangel. Wenn wir uns nicht um dieses Thema kümmern, wird das zu einer großen Problemlage führen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen und Lösungen finden, vor allem mit Blick auf die Berufsanfängerinnen und -anfänger, aber auch mit Blick auf Beschäftigte, die schon länger im Job sind.

RUBINA ROY Dem stimme ich zu. Aus den Breiten unseres Personalkörpers bei der Bundeswehr kann ich sagen, dass die Psyche tatsächlich zunehmend belastet wird. Das spiegeln Gesundheitsreports weltweit wider, insbesondere in den Industrienationen. Wenn wir auf die krankheitsbedingten Ausfallzeiten schauen, sind dies Fehlzeiten, die wir nicht mehr ignorieren können. Erschreckend ist, dass sie auch bei den 20- bis 24-Jährigen stark zunehmen. Wenn junge Menschen schon beim Berufseinstieg massiven psychischen Belastungen ausgesetzt sind, verbleiben sie womöglich nicht das gesamte Arbeitsleben im Beruf. Für die Gesellschaft verschärft sich die Problematik dann zunehmend, weil uns dieser Anteil an Fachkräften wegbricht.

Sind Berufsanfängerinnen und -anfänger psychisch weniger resilient als früher? Oder woran liegt es, dass die Zahlen so dramatisch in die Höhe gehen?

DONYA GILAN Die Stressoren für Promovierende und Postdocs sind heute vielfältig: der hohe Publikationsdruck etwa, die kurzen Anstellungsverträge und die starke Konkurrenz im Wissenschaftssystem. Auch die mangelnde Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben sowie wachsende Arbeitsanforderungen und -kontrollen stehen in Zusammenhang mit dem Anstieg psychischer Probleme. Befragte berichten von Gefühlen ständiger Unzufriedenheit und Anspannung, von Depression und Schlafproblemen – und von der Unfähigkeit, alltägliche Aktivitäten zu genießen. Traditionell wurden Universitäten als stressarme Umgebungen angesehen. Neuere Studien zu beruflichem Stress unter Akademikern deuten aber darauf hin, dass dieser nicht nur alarmierend weit verbreitet ist, sondern auch zunimmt. Das Zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist häufig auf die Angst vor Stigmatisierung, Vergeltungsmaßnahmen oder die erwarteten negativen Auswirkungen auf die zukünftige Karriere zurückzuführen.

Porträt von Sebastian Lentz.
Der Humangeograf Sebastian Lentz vom Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). Foto PETER HIMSEL

SEBASTIAN LENTZ Mit Blick auf Nachwuchsforschende verzeichnen wir tatsächlich eine objektive Zunahme von Unsicherheit, Druck und Stress, was auch strukturelle Gründe hat. In der Auseinandersetzung mit dem Betreuer, der Betreuerin spüren Promovierende ja so etwas wie Selbstwirksamkeit, indem sie direkte Feedbacks bekommen – das ist aber nicht der Fall, wo die Karriere von Entscheidungen anonymer Peers im Reviewprozess der promotionsrelevanten Publikationen abhängt. Es ist ein Vorgang, in dem die Qualität der Arbeit oft intransparent, zumindest ohne persönlichen Kontakt beurteilt wird. Das würde ich als eine sehr, sehr schwierige Situation beurteilen, die durch die Ausweitung des Wettbewerbssystems entstanden ist.

Frau Saxena, Sie setzen sich im Rahmen des Promovierendennetzwerks der Leibniz-Gemeinschaft dafür ein, dass Doktorandinnen und Doktoranden mehr Unterstützung bekommen. Welche Strukturen machen Promovierenden das Leben schwer?

PANKHURI SAXENA Promovierende leiden überdurchschnittlich oft an depressiven Symptomen und Angstzuständen. Das liegt zum Teil daran, dass sie meist sehr ehrgeizige, intrinsisch motivierte Menschen sind, die hohe Erwartungen an sich und ihre Arbeit haben. Gleichzeitig stellt das Wissenschaftssytem hohe Herausforderungen an sie: Wissenschaft ist ein langsamer Prozess, der viel Geduld erfordert und der von vielen Faktoren abhängt, auf die man keinen Einfluss hat. Oft laufen Projekte nicht so, wie man sich das vorgestellt hat und das ist dann sehr frustrierend. Hinzu kommen unsichere Karriereperspektiven, befristete Arbeitsverträge und zum Teil auch intransparente Vergütungen. Zudem fehlt eine klare Stellenbeschreibung: Man weiß nur, man ist Doktorandin. Die konkrete Aufgabenbeschreibung ist nicht Teil des Vertrags was unrealistische Erwartungen weckt. Wenn Promovierende sich dann mit der Zeit ihrer beschränkten Möglichkeiten bewusst werden und an Grenzen stoßen, entsteht noch mehr Stress.

Frau Coßmann, problematische Strukturen machen nicht nur Nachwuchskräften, sondern auch deren Vorgesetzten zu schaffen. Was waren die belastendsten Situationen, die Sie als Führungskraft in der Wirtschaft bewältigen mussten?

COßMANN Das waren einerseits Situationen, in denen ich Menschen sagen musste, dass sie ihre Arbeit zukünftig anders machen sollten als in den 40 Jahren davor. Ihnen das als eine Verbesserung, einen Vorteil zu präsentieren, war wirklich schwer für mich. Die zweite große Herausforderung bestand in der Coronaphase, als ich meinen Mitarbeitenden in einem absolut unsicheren Gesamtumfeld Sicherheit geben musste. Teilweise war nicht klar, was am nächsten Tag geschehen würde: Sollen die Leute zur Arbeit kommen oder nicht? Ich mag die Idee, als Führungskraft Menschen zu coachen, ihnen ein Ohr zu leihen und zu sagen: Ich sehe dich, ich höre dich, lass uns über deine Probleme sprechen. In einer Zeit, in der man als Verantwortliche selbst mit großer Ungewissheit zu kämpfen hatte, war das schwierig. Man stand selbst extrem unter Druck.

Frau Roy, die psychischen Risiken, mit denen Sie umgehen müssen, könnten extremer kaum sein: Als Gesundheitsmanagerin bei der Bundeswehr betreuen Sie unter anderem Soldatinnen und Soldaten, die an Kriegseinsätzen teilnehmen. Womit müssen diese zurechtkommen?

ROY Ein Kriegsszenario ist eine Form der psychischen Belastung, die extreme Herausforderungen an die Resilienz stellt. Zum Teil entsenden wir die Leute für ein halbes Jahr und das bedeutet mitunter, komplett abgeschnitten zu sein von Möglichkeiten der Kontaktaufnahme. Das ist nicht nur für diejenigen, die im Einsatz sind, ein Stressor, sondern auch für die Angehörigen zu Hause.

Mit welchen Rahmenbedingungen müssen sich Soldatinnen und Soldaten konkret arrangieren?

ROY Ein Beispiel aus meinem eigenen Leben: Ich war in Afghanistan und mehrere Tage konnte ich überhaupt keinen Kontakt zu meiner Familie aufnehmen. Sie hat nur die Anschlagsbilder über den Bildschirm flimmern sehen und wussten nicht, wie es mir geht. Hinzu kommt das Leben in Unterkünften, das besondere Herausforderungen an einen stellt, weil mehrere Personen, die im Schichtdienst arbeiten, sich einen Schlafraum teilen oder man in einem Panzer durch die Gegend fährt und darin schläft, so dass Möglichkeiten der körperlichen Hygiene stark eingeschränkt sind. Die fehlende Privatsphäre kann eine Belastung sein. Zusätzlich kann man nie vorhersehen, was in solchen Einsätzen passiert, und das ist für die Soldatinnen und Soldaten, aber auch für deren Angehörige eine große Herausforderung.

Nachwuchsforschende leiden zunehmend unter Unsicherheit, Druck und Stress.

SEBASTIAN LENTZ

Porträt von Stephanie Coßmann
Die Juristin Stephanie Coßmann.
Porträt von Donya Gilan
Die Psychologin Donya Gilan vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR).

Zumindest in der Industrie wird psychische Resilienz allmählich ernst genommen.

STEPHANIE COßMANN

Ich frage in die Runde: Haben Sie das Gefühl, dass psychische Gesundheit als Thema gesellschaftlich bereits ernst genug genommen wird?

LENTZ Aus meiner Sicht ist die Gesellschaft heute insgesamt eher bereit, Emotionen in beruflichen Kontexten zu akzeptieren. Früher wurde das komplett ausgeblendet. In der Wissenschaft wurde so etwa lange Zeit in Kauf genommen, dass viele Nachwuchsforschende den Stress, der mit der Promotion verbunden ist, auf Dauer nicht ausgehalten haben und aus dem System herausgefallen sind. Mittlerweile hat sich unser Blick darauf verändert und ich finde diesen gesellschaftlichen Wandel sehr wichtig. Wir sind zu Recht nicht mehr willens, derartige Opfer von jungen Menschen beziehungsweise an Karrieren in Kauf zu nehmen.

SAXENA  Ich denke, wir befinden uns in einer Phase des Übergangs. Dass wir heutzutage so viel mehr über psychische Gesundheit sprechen als früher, zeigt, dass wir uns auf eine Zukunft zubewegen, in der psychische Risiken endlich ernster genommen werden. Im Zusammenhang mit der akademischen Welt und Promotionsprojekten muss meiner Meinung nach aber noch viel getan werden. Man sagt uns Promovierenden nach wie vor: Das ist die Struktur – wir Älteren haben damit gelebt, jetzt müsst ihr damit leben. Das muss sich ändern.

COßMANN  Aus einer wirtschaftlichen Perspektive betrachtet führen die zunehmenden Ausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen zu einem Verlust an geleisteten Arbeitsstunden. Wenn wir Menschen ins Berufsleben bringen und dafür sorgen wollen, dass sie es erfolgreich meistern, dann können wir das nicht einfach ignorieren. Zumindest in der Industrie ist glücklicherweise zu beobachten, dass psychische Resilienz allmählich ernst genommen wird, Programme dazu entwickelt und Schulungen abgehalten werden. Aber das ist nur der erste Schritt in die richtige Richtung. Wenn wir das nicht weiterverfolgen, werden wir große Probleme bekommen: Die Menschen werden aussteigen, weil sie in einem solchen Umfeld nicht arbeiten wollen – oder sie werden ernsthaft erkranken, weil sie dem Druck nicht mehr Stand halten können.

Frau Gilan, Sie sind Expertin für psychische Resilienz. Können Resilienzförderung und Präventionsmaßnahmen helfen, dass es nicht so weit kommt?

GILAN Die hohe Prävalenz psychischer Probleme bei Doktoranden ist in Hinblick auf das individuelle Leiden sowie die organisatorischen und gesellschaftlichen Kosten von entscheidender Bedeutung. Langfristig wird es sich auch auf die Forschung selbst auswirken. Entscheidungsträger in der Forschung sollten daher stärker auf Prävention fokussieren, psychische Gesundheitskompetenz entwickeln und ihr eigenes sowie das Bewusstsein ihrer Mitarbeiter für diese Problematik schärfen. Nur so können Probleme rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Zudem sollten sich die für Forschung verantwortlichen politischen Entscheidungsträger mit aktuellen Modellen der Forschungsfinanzierung und den derzeitigen Beschäftigungsbedingungen auseinandersetzen, Schwachstellen beheben und gezielt resilienzförderlichere Rahmenbedingungen schaffen – etwa durch die Förderung eines gesundheitsorientierten Führungsstils.

Wer seine persönlichen Ressourcen kennt, kann belastende Situationen besser meistern.

DONYA GILAN

Wie müssen Arbeitsplätze im Allgemeinen gestaltet sein, damit sie der psychischen Gesundheit zuträglich sind? Nehmen wir zum Beispiel eine Hochschule.

GILAN Zu nennen sind unter anderem Wertschätzung, Handlungsspielräume für die Mitarbeitenden und Möglichkeiten, an Entscheidungsprozessen teilzuhaben. Auch braucht es Vorgesetzte die täglich danach schauen wie es den Mitarbeitenden geht. In einem ersten Schritt sollte die Hochschule ein Resilienzkonzept formulieren. Dieses sollte klare Ziele, Maßnahmen, Ressourcen sowie Informations- und Kommunikationsstrategien enthalten. Außerdem muss es die Verantwortlichkeiten regeln. In einem nächsten Schritt gilt es, aktiv über die Bedeutung akademischer Resilienz sowie resilienzfördernder Maßnahmen aufzuklären. Die Doktoranden etwa sollten dazu angeregt werden, Angebote wie Coaches oder psychologische Beratungsstellen aktiv zu nutzen. Denn sie können ihre Resilienz gezielt stärken, indem sie beispielsweise ihr soziales Netz ausbauen. Wenn sie ihre ganz persönlichen psychischen, sozialen und strukturellen Ressourcen kennen, können sie belastende Situationen besser meistern, ihnen gelingt dann ein resilientes Verhalten.

Herr Lentz, im Rahmen einer Taskforce zu psychischen Belastungsgefährdungen haben Sie und ihre Mitstreitenden in den Instituten der Leibniz-Gemeinschaft gute Praktiken zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Nachwuchsforschende abgefragt. Was waren die interessantesten Antworten?

LENTZ Ich muss zugeben, dass ich eher komplexe Maßnahmen erwartet hatte – Weiterbildungen, Maßnahmen zur gezielten Sensibilisierung für psychologische Themen. Solche Antworten gab es natürlich auch. Was mich aber am meisten beeindruckt hat, waren zwei ganz einfache Ratschläge. Der erste ist, Nachwuchsforschende so früh wie möglich mit ihrer sozialen Gruppe bekannt zu machen. Mir schien das bis dahin ganz selbstverständlich zu sein, aber es scheint nicht an jedem Institut praktiziert zu werden. Dabei ist es so wichtig, dass man eine Gruppe von Gleichgesinnten hat, mit der man sich austauschen kann.

Und der zweite Ratschlag?

LENTZ Offener zu kommunizieren: Oft fühlt sich das Führungspersonal sehr unter Druck und sozial verantwortlich für die jungen Forschenden, macht das aber nicht transparent. Dabei ignorieren die Führungskräfte, dass sie es mit erwachsenen Menschen zu tun haben. Junge Forschende haben diesen Karriereweg selbst gewählt. Es braucht einen offenen, transparenten Austausch auf Augenhöhe darüber, wie alle Beteiligten die Situation sehen. So einfach ist das.

Porträt der Neurowissenschaftlerin Pankhuri Saxena
Die Neurowissenschaftlerin Pankhuri Saxena vom Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ).

Welche strukturellen Verbesserungen könnten aus Ihrer Sicht helfen, den Druck auf Promovierende zu verringern, Frau Saxena? Was hilft Ihnen persönlich, die Promotionsphase gut zu überstehen?

SAXENA Promovierende hängen oft vollständig von der Person ab, die ihr Projekt betreut. Diese benotet die Arbeit und hilft bei der zukünftigen Karriere – oder eben auch nicht. Dadurch trauen sich Promovierende häufig nicht, offen zu sprechen und ihre Beschwerden vorzubringen. An meinem Institut haben wir hierfür die Lösung gefunden, Doktorandinnen und Doktoranden einem Dissertationskomitee zuzuweisen. Es besteht aus einem Betreuer und zwei weiteren Fakultätsmitgliedern, die wissenschaftlich betreuen und Raum bieten, über Probleme zu sprechen. Mir persönlich hilft es, immer wieder kleine Auszeiten zu nehmen. Darüber hinaus sind für mich die Gespräche mit meinen Kolleginnen und Kollegen sehr hilfreich.

Eine Frage, die ich an Sie alle richte: Welche Weichen müssen wir als Gesellschaft stellen, um psychische Gesundheit am Arbeitsplatz langfristig zu sichern – beim Berufseinstieg und darüber hinaus?

LENTZ  Ich sehe einen Bezug zur Frage, ob psychische Gesundheit gesellschaftlich bereits ernst genug genommen wird. Von den Antworten war ich ehrlich gesagt ziemlich frustriert, denn was ich sehe ist, dass eine Menge Aufwand in etwas gesteckt wird, was ich Reparaturversuche nennen würde. Wir gehen aber nicht an die Wurzeln des Problems. Das englische Wort für Arbeit, labour, stammt vom lateinischen laborare ab, das nicht nur arbeiten, sondern auch leiden bedeutet. Und solange wir unsere Arbeit im Sinne von laborare organisieren, werden wir im Zustand der Reparaturmaßnahmen verbleiben. Wenn wir stattdessen das philosophische oder das menschliche Argument verwenden würden, dann müssten wir unser Verständnis von Arbeit grundlegend verändern.

Inwiefern?

LENTZ Wir würden dann das Individuum nicht ökonomisieren, psychische Gesundheit nicht nur deshalb schützen, weil wir uns ökonomische Vorteile davon versprechen und die Gesellschaft so leistungsfähiger wird im Wettbewerb der Weltwirtschaft. Mein Vorschlag: Lasst uns psychische Gesundheit als Menschenrecht verstehen und nach Antworten auf die Frage nach dem gelungenen Leben suchen. In diese Richtung muss meiner Ansicht nach das Führungspersonal seine Macht einsetzen. Das wäre meine radikale Idee.

GILAN Ich glaube ebenfalls, dass wir so etwas wie einen Paradigmenwechsel benötigen. Da spielen neue Konzepte und Fachdisziplinen, Bildungsinstitutionen und generell unsere Vorstellungen von Gesundheit eine Rolle. Um das Konzept der Resilienz wirklich fruchtbar zu machen, sollte man nicht nur danach fragen, was individuelle Schutzfaktoren sind und wie sich das Individuum optimieren kann, sondern danach, wie man bestimmte gesellschaftliche Strukturen verbessern kann. Es gibt viele vulnerable Berufs- und Bevölkerungsgruppen, die mehrfach belastet sind und zum Teil auch unter unzumutbaren Bedingungen leben. Die Möglichkeit auf Teilhabe hat nicht jeder. Deshalb würde ich einen radikaleren Ansatz, wie Herr Lentz ihn vorschlägt, auf jeden Fall unterstützen.

Promovierende trauen sich häufig nicht, ihre Beschwerden vorzubringen.

PANKHURI SAXENA

Rubina Roy, sitzend.
Die Bundeswehr-Betriebsärztin Rubina Roy.

Die Wertschätzung unter Kolleginnen und Kollegen macht einen idealen Arbeitsplatz aus.

RUBINA ROY

Wen sehen Sie in der Verantwortung diese Veränderungen anzustoßen? Und auf welchen Wegen kann Wandel gelingen?

ROY  Ich denke, bereits jetzt setzen sich verschiedene Gruppierungen für Veränderungen ein, vielleicht finden sie aber noch nicht genug Gehör. Vergessen dürfen wir auch nicht, dass bereits Strukturen zu psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz existieren. Unternehmen sind zum Beispiel gesetzlich verpflichtet, eine sogenannte Gefährdungsbeurteilung mit Blick auf die psychische Belastung am Arbeitsplatz zu erstellen – und das individuell. Diese dann auszuwerten und konkrete Maßnahmen abzuleiten, etwa im betrieblichen Gesundheitsmanagement, wird nach meiner Erfahrung noch nicht ausreichend gelebt. Das Gespräch heute zeigt auch, dass der Austausch zwischen verschiedenen Professionen etwas ist, das man weiterverfolgen sollte. Eine gute Grundlage würde da aus meiner Sicht zum Beispiel das Nachhaltigkeitspapier der Bundesregierung bieten, das auch psychische Gesundheit zum Thema hat. Insgesamt geht es glaube ich darum, unsere Ideen – ein jeder in seinem Fachgebiet, aber auch gemeinsam – weiterzuverfolgen und voneinander zu lernen.

LENTZ Ich sehe es als einen politischen Prozess, in dem auch Fragen danach, wie wir als Gesellschaft eigentlich leben und miteinander umgehen wollen, beantwortet werden müssen. Oft schauen wir mit Sorge auf Spaltungen in der Gesellschaft. Wie könnten einmal überlegen, ob es nicht auch eine Spaltung gibt zwischen denjenigen Menschen, die die Macht haben, mit den Zumutungen der Alltagswelt umzugehen und anderen, die ausgeschlossen sind von Resilienzmaßnahmen. Denn so lange es keine gesamtpolitische Lösung gibt, müssen wir glaube ich immer auch fragen, ob das Thema, über das wir nachdenken, jedermann gleichmäßig betrifft. Und eine solche gesamtpolitische Lösung wird nicht einfach zu installieren sein, denn wir merken ja wie naturalisiert unser Konzept von Arbeit ist. Es ist tief eingelassen in unsere gesellschaftlichen Praktiken und die kann man nicht so schnell verändern. Trotzdem teile ich Ihren Optimismus, Rubina: Ich finde es super, dass wir hier miteinander gesprochen und Perspektiven ausgetauscht haben. Ich muss sagen, das bereichert mich.

COßMANN Ich stimme Ihnen völlig zu, dass ein kultureller Wandel notwendig ist. Aber für mich stellt sich die Frage: Was kommt zuerst? Müssen wir nicht Schritt für Schritt vorangehen, muss nicht jeder von uns seine Stimme erheben und tun, was er oder sie tun kann? Wenn wir darauf warten würden, dass etwas Großes passiert, dann müssten wir ewig warten. Deshalb bin ich ein großer Fan davon, mit gutem Beispiel voranzugehen und Dinge voranzubringen. Denn: Wir haben Einfluss und können Dinge verändern. Ich denke, es braucht tatsächlich beides, die kleinen Veränderungen und den kulturellen Wandel, aber das eine kommt nach dem anderen – und wir alle können etwas dazu beitragen.

Wir bräuchten ein System, das darin bestärkt, sich als Individuum zu entwickeln.

PANKHURI SAXENA

Verraten Sie mir Ihre Visionen für die Zukunft: Wie sähe Ihr idealer Arbeitsplatz aus?

SAXENA Ich frage mich das oft – was wäre ein Szenario, in dem Menschen produktiv, mit ihrem Leben zufrieden, geistig und körperlich gesund sind und sich sozial eingebettet fühlen? Der erste Schritt wäre meiner Ansicht nach, ein System zu etablieren, das die individuellen Kompetenzen von Berufsanfängerinnen und -anfängern berücksichtigt. Es müsste ein System sein, in dem zudem ihre Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten übereinstimmen mit der Arbeit, die sie verrichten und das sie gleichzeitig darin bestärkt, sich als Individuum zu entwickeln. Vielleicht ist das ein wenig naiv, aber wir sprechen ja vom idealen Arbeitsplatz. Insofern können wir uns erlauben, ein wenig zu träumen und diese utopische Idee als Maßstab nehmen.

ROY Ich bin ein sehr pragmatischer Mensch. Für mich sind es das Wertschätzen von kleinen Dingen und die Wertschätzung, die man unter Kolleginnen und Kollegen erfahren kann, die einen idealen Arbeitsplatz ausmachen. Das ist dann eben nicht der riesen Projekterfolg, sondern vielleicht jeden Abend zu überlegen: Was ist denn heute gut gelaufen? Das ist auch etwas, was ich meinen vier Kindern immer mitgebe: Den Tag mit einem positiven Gedanken sowohl im Arbeitsleben als auch im Schulalltag zu beschließen. So eine Kultur zu etablieren fände ich ideal.

COßMANN Ich finde, das ist eine schöne Vision – und aus meiner Sicht wird sie bald Realität werden, denn der Mangel an Arbeitskräften, den wir auf dem Markt sehen werden, wird automatisch die Art und Weise verändern, wie wir arbeiten und was die Menschen von ihren Vorgesetzten und ihrem Arbeitsumfeld verlangen. Führungskräfte müssen sich verändern und Mitarbeitende müssen sich darüber klar werden, was sie wollen und sich dafür einsetzen. Beides ist bereits im Gange. Ich bin also zuversichtlich, dass wir diesen Wandel erleben werden und dass er viel Gutes bringen wird, sowohl für die Gesellschaft als auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung.

GILAN Ich würde noch Diversität als wichtigen Faktor ergänzen – nicht nur in Bezug auf die persönlichen Eigenschaften einer Person, sondern zum Beispiel auch in Hinblick auf die Denk- und Lebensweise und den Kommunikationsstil. Zudem sind soziale Unterstützung und Inklusion unabdingbar: Menschen, die schwierige Startbedingungen haben, sollten am Arbeitsplatz so integriert werden, dass sie innerhalb einer Organisation die gleichen Chancen erhalten, um sich zu entwickeln. Dabei sind Möglichkeiten zur Partizipation extrem wichtig, denn dadurch entwickeln Menschen intrinsische Motivation, finden persönlichen Gefallen an ihrer Arbeit.

LENTZ Dem muss ich nicht viel hinzufügen, denn was Sie gesagt haben ist alles völlig richtig. Einzig dieses: Was ich mir wünsche, ist, dass all die kleinen Schritte und Maßnahmen, die wir hier heute skizziert haben, nicht wie Tranquilizer zur gesellschaftlichen Ruhigstellung beitragen. Stattdessen hoffe ich, dass sie eine Eigendynamik entwickeln und so tatsächlich dazu beitragen, dass es zu Veränderungen kommt.

WIE KANN ICH MIT BELASTUNGEN IN DER PROMOTIONSPHASE UMGEHEN?

Ein Jahr lang hat Sebastian Lentz in einer Taskforce Antworten auf diese Frage gesammelt und sich dabei eng mit den Leibniz-Instituten und dem Leibniz PhD Network ausgetauscht, dessen Sprecherin Pankhuri Saxena damals war. Das Ergebnis, die Leibniz-Handreichung »Psychische Gesundheit in der Promotionsphase«, bündelt Empfehlungen für Promovierende, ihre Betreuenden und Institute. Im Fokus stehen drei Handlungsfelder: Sensilbilierung, Prävention und Krisenberatung. Sensibilisierung kann nur durch eine von Aufmerksamkeit und Fürsorge geprägte Arbeitskultur erreicht werden, die in Informationsveranstaltungen und Trainings aber erst einmal entwickelt werden muss. In einem so sensibilisierten Arbeitsumfeld sind psychische Erkrankungen kein Tabu und können frühzeitig erkannt und adressiert werden. Es ermöglicht Präventionsmaßnahmen, die am besten direkt in den Graduiertenschulen verankert sind und auch besondere Herausforderungen berücksichtigen, die etwa internationale Doktorandinnen und Doktoranden oder auch promovierende Eltern schultern müssen. Darüber hinaus sollten Personalverantwortliche regelmäßig überprüfen, dass Promovierende genügend Zeit für Urlaub und Erholung haben – und Führungskräfte eine positive Urlaubskultur vorleben. Trotzdem können auch gute Maßnahmen manchmal nicht ausreichen oder zu spät kommen. In solchen Fällen kann man sich an anonyme Krisenberatungsstellen wenden, die außerhalb der Institute angesiedelt sind. Das Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) etwa betreibt die sogenannte Resilienz-Ambulanz, die externen Klienten offensteht und anonymitätswahrend berät.

Vielleicht auch interessant?