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Sie war eine der ersten. Ende des vierten Jahrhunderts machte sich die Spanierin Egeria in ihrer Heimat auf, reiste quer durch Europa, machte in Konstantinopel Halt. Ihr Ziel: das Heilige Land. Sie hatte ein großes Verlangen, die heiligen Stätten und die dort lebenden Heiligen zu besuchen. So schreibt Egeria es im »Itinerarium Egeriae«, einer Art Reiseführer, bei dem es sich um den ausführlichsten und einen der ältesten antiken Berichte über eine Reise ins Heilige Land handelt.

Rund 9.000 Kilometer war die Pilgerin unterwegs, vier Jahre lang, etwa um 380 bis 384. Als Reiseführer diente ihr die Bibel. In Form von Briefen an die verehrten Damen Schwestern, Frauen in ihrer Heimat, berichtet Egeria von all den biblischen Orten, die sie bereiste – Galiläa, Nazareth und Jericho, vom Sinai über Jordanien bis nach Syrien. Zwischen den Reisen verbrachte sie immer wieder Zeit in Jerusalem. Sie wollte dort die christlichen Feste miterleben.

Im Laufe der Zeit wurden Reisen wie die Egerias immer populärer. Und mit den Pilgerinnen und Pilgern begann auch eine frühe Form des Tourismus. Jerusalem, aber auch Orte wie die Kirchen in Ephesos an der türkischen Ägäis zogen Scharen von Menschen an. Das waren natürlich sehr viele fromme Leute, die ein großes Begehren hatten, die heiligen Orte kennenzulernen und selbst dort zu sein, wo Jesus gewandelt ist, sagt Stefan Albrecht. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz, dem Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie, das diesen frühen Tourismus anhand archäologischer Funde rekonstruiert.

An diesen Pilgerorten muss eine babylonische Sprachverwirrung geherrscht haben.

STEFAN ALBRECHT

Untersucht wurden zum Beispiel die Klosteranlage Deir el-Bachit und das Epiphaniuskloster in Theben-West in Ägypten. Es war ein buntes Volk, das da unterwegs war, sagt Albrecht, an diesen Pilgerorten muss eine babylonische Sprachverwirrung geherrscht haben. Die Reisenden kamen von überall her, etwa aus dem heutigen Russland, England, Norwegen oder Italien. Männer wie Frauen waren unterwegs, egal von welchem Stand.

Manche sind reich losgezogen und kamen arm wieder nach Hause zurück, erzählt Stefan Albrecht, das Reisen sei teuer gewesen. Aber auch Arme konnten sich die Pilgerreise leisten. Wahrscheinlich sogar eher als der Mittelstand, der arbeiten musste und nicht einfach so Werkstatt oder Hof verlassen konnte. Wer nichts hatte, habe auch nichts zu verlieren gehabt und konnte sich bettelnd durchschlagen.

Neben ihrer Frömmigkeit war es auch die Suche nach Heilung, für die Menschen auf Reisen gingen. Abu Mena im Norden des heutigen Ägyptens etwa war nicht nur ein christliches Pilgerzentrum, in dem der heilige Menas verehrt wurde, sondern auch ein Kurort. Gleiches gilt für Germia, rund 100 Kilometer nördlich von Ankara. Dort gab es Thermalquellen, zugleich wurde der Erzengel Michael verehrt. Mit Hilfe von Gebeten, heilenden Bädern, speziellen Diäten, körperlicher Betätigung oder auch dem Heilschlaf sollten die Kranken wieder gesund werden.

Was heute über diese frühe Form des Tourismus bekannt ist, weiß man außerdem aus Heiligenviten und aus Pilgerberichten wie jenem von Egeria. Wobei sie eher geografische Kommentare zur Heiligen Schrift sind, mit Beschreibungen des Ziels, zum Beispiel der Grabeskirche, erklärt Stefan Albrecht. Dass ein Ich auftaucht, ist relativ selten.

Das gilt auch für Egeria, deren Aufzeichnungen meist eher praktischer Natur sind. Nur ein einziges Mal erwähnt sie sich selbst: Ich bin nämlich ziemlich neugierig, schreibt sie, als sie auf ein Tal hinabsieht und von ihren Begleitern wissen will, wie es heißt. Vermutlich hat sie sich immer wieder Gruppen angeschlossen und war wie die meisten Pilgerinnen und Pilger zu Fuß, mit der römischen Postkutsche oder auch auf einem Esel unterwegs. Möglich war ihre Reise überhaupt nur aufgrund des römischen Straßensystems, das damals gut ausgebaut war und bis zu 80.000 Kilometer lang.

Eine Menasampulle aus Ton.
Eine zwischen 610 und 640 in Abu Mena gefertigte Ampulle. Foto Ο.31994, R. MÜLLER, RGZM

Besonders beliebt waren die Pilgerampullen: kleine Flaschen aus Blei oder Ton.

Durch die zunehmende Zahl der Pilgerinnen und Pilger entstanden entlang der Fernstraßen und in den Pilgerzentren selbst auch immer mehr Unterkünfte, in denen die Reisenden übernachten konnten. Diese Pilgerherbergen nannte man Xenodochien. Sie wurden meist von Bischöfen oder anderen Wohlhabenden gestiftet und speziell für Pilgerinnen und Pilger eingerichtet, damit sie nicht in den teuren und verrufenen Herbergen und Gasthöfen absteigen mussten, sagt Stefan Albrecht. Vermutlich gab es dort auch eine Art geistliche Betreuung. Und diese Orte waren deutlich sauberer.

Reisende aus der Oberschicht, wie Egeria, kamen zudem häufig in Gästehäusern von Bischöfen und Klöstern unter. In Abu Mena gab es große Anlagen, ein komplexes Gebäude mit zahlreichen verschiedenen Unterkünften. Auf Heilung hoffende kranke Pilgerinnen und Pilger und die gesunden wurden getrennt untergebracht. Zudem gab es einen eingeschossigen Bau, der nach Geschlechtern getrennt Männer und Frauen beherbergte. Wir müssen also davon ausgehen, dass riesige Menschenmengen unterwegs waren.

Die vielen Reisenden waren auch eine Verdienstmöglichkeit für die Menschen in den Pilgerzentren. Auf Jahrmärkten verkauften sie Devotionalien aller Art, Kreuze oder Muscheln. Denn wie Touristen es heute noch tun, wollten sie auch schon damals ein Andenken von den besuchten Orten mitnehmen. Bei Ausgrabungen werden deshalb in ganz Europa immer wieder antike Souvenirs gefunden, zum Beispiel im heutigen England.

Besonders beliebt waren die Pilgerampullen: kleine Flaschen aus Blei oder Ton, etwa acht oder neun Zentimeter groß. In diese Ampullen wurde meist am Grab eines Heiligen geweihtes Öl gefüllt. Man hat sozusagen das Heil auf Flaschen gezogen, sagt Stefan Albrecht. Häufig gab es auch Heilige, aus deren Sarkophag Öl geflossen ist. Wahrscheinlich hat man oben welches reingefüllt und unten ist es wieder rausgekommen, sagt Albrecht. Die Erzählung sei dann aber meist gewesen, dass die Gebeine selbst das Öl ausgeströmt hätten. Die Pilgerampullen waren verziert, mit dem Porträt oder der Figur eines Heiligen, Szenen der Kreuzigung oder anderen christlichen Bildern. Man kann fast schon sagen, dass diese Ampullen großindustriell hergestellt und verkauft wurden. Dadurch kam die Lokalbevölkerung dann natürlich in Lohn und Brot.

Manche verdienten sich aber auch als Pilgerführer ein Einkommen, indem sie den Reisenden die Gegend und die schönsten Reliquien zeigten. Vermutlich nahm auch Egeria ihre Dienste in Anspruch, wenn sie etwa Berge wie den Sinai bestieg oder sich mit der Liturgie der christlichen Feste in Jerusalem befasste. Das tat sie intensiv und beschreibt auch skurrile Szenen. Während der Karfreitag-Messe etwa hätten Diakone das Kreuz genau im Blick behalten: Weil irgendwann einmal einer zugebissen und vom heiligen Holz etwas gestohlen haben soll, deshalb wird es nun von den Diakonen, die im Kreis stehen, bewacht, dass keiner der Kommenden wieder so zu handeln wagt.

Als Pilger wurde man aus der Masse herausgehoben und war Teil einer Community. Ähnlich wie heute Erasmus-Studenten.

Überreste eines Bades im nordägyptischen Pilgerort Abu Mena.
Am Ziel der Reise: Überreste der Badeanlage von Abu Mena ...
Blick vom Gipfel des Berges Sinai.
... und Blick vom Berg Sinai.

Andere Reisende hinterließen selbst Spuren an den Stationen ihrer Touren. Es gibt zahllose Graffiti, die Pilger in die Mauern von Heiligtümern geritzt haben, etwa am Monte Gargano oder in den Katakomben Roms, nicht nur in lateinisch, sondern auch in runisch, sagt Stefan Albrecht. Das waren Angelsachsen, die aus dem Norden heruntergepilgert sind und ihren Namen hinterließen oder auch eine Fürbitte.

Auch vor Egeria und anderen christlichen Pilgerinnen und Pilgern reisten Menschen an berühmte Orte, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Es gab zum Beispiel auch Bildungsreisen in der Antike, etwa nach Delphi.

Egerias Spur verliert sich in Konstantinopel, Anfang und Ende ihres Berichts fehlen. Vermutlich ist sie irgendwann stolz nach Hause zurückgekehrt, wie die meisten Pilgerinnen und Pilger. Die Leute waren dann ja auch erkennbar, wenn sie zurückgekommen sind, mit ihren Pilgerampullen, sagt Stefan Albrecht. Als Pilger wurde man aus der großen Masse herausgehoben und war Teil einer Community. Vielleicht ähnlich wie es heute Erasmus-Studenten sind, die aufbrechen und sich später noch gerne daran erinnern, dass sie in London oder Paris waren.

In den rund vier Jahren, die sie im Heiligen Land unterwegs war, hat Egeria ganz sicher zahllose Erinnerungen gesammelt und vielleicht auch das ein oder andere Souvenir. Fast ein bisschen so, wie das auch heute, gut 1.600 Jahre später, viele Touristinnen und Touristen machen.

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