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ULF BRUNNBAUER
ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung und Professor für die Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg. Im Fokus seiner Forschung steht die Gesellschaftsgeschichte des Balkans im 19. und 20. Jahrhundert.

Kleingeld macht auch Misstöne: Im Juli 2021 präsentierte die Kroatische Nationalbank die neuen Münzen, die in Umlauf gebracht werden, wenn das Land 2023 der Eurozone beitritt. Die 10-, 20- und 50-Cent-Stücke soll der Physiker und Erfinder Nikola Tesla zieren, dessen Geburtsort im heutigen Kroatien liegt. Zuvor hatte die Nationalbank in einer Umfrage die beliebtesten Motive für die Münzen ermittelt, wobei Tesla mit 23 Prozent die meisten Stimmen erhielt, während es die Krawatte (der Legende nach geht sie auf die Halsbinde eines kroatischen Reiterregiments zurück) auf Platz zwei, der Fußballer Luka Modrić hingegen nur auf Platz 13 schaffte.

Die Nationalbank Serbiens reagierte humorlos. Sie protestierte gegen die Aneignung des kulturellen und wissenschaftlichen Erbes des serbischen Volkes, da Tesla natürlich Serbe gewesen sei. Der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, forderte, man möge Tesla wenigstens auf den größten Banknoten abbilden, nicht auf Kleingeld! (In Serbien ziert Tesla den 100-Dinar-Schein, umgerechnet 85 Cent.)

Nun gab es zwischen Kroatien und Serbien schon gewichtigere Streitpunkte, schließlich ist das Verhältnis der Länder infolge der Kriege zwischen 1991 und 1995 angespannt. Bezeichnend ist der Konflikt um Tesla gleichwohl: Er zeigt nicht nur den Kleingeist, der in den Beziehungen zwischen den Nachfolgestaaten Jugoslawiens herrscht, sondern auch, wie irre-, da engführend national(istisch)e Aneignungen einer durch Vielfalt geprägten Vergangenheit sind.

Tesla kam 1856 im Dorf Smiljan nahe der Stadt Gospić in der Region Lika zur Welt. Sein Vater war serbisch-orthodoxer Priester. Bis zu den Kriegen der 1990er Jahre war der Anteil der serbischen Bevölkerung in der Region sehr hoch. Tesla selbst verließ seine Heimat, studierte erfolglos Maschinenbau in Graz und Prag und wanderte 1884 in die USA aus. In New York meldete er bald seine ersten elektrotechnischen Erfindungen an, 112 Patente sollten es insgesamt werden. Die »Enzyklopädie Jugoslawiens« von 1971, eines der wichtigsten Ergebnisse jugoslawischer Kulturpolitik, streicht stolz heraus, dass Teslas Erfindungen die Welt und die Menschheit bereichert haben. Ob Serbe oder Kroate, darauf gehen die Enzyklopädisten nicht ein – zu Recht, denn abgesehen davon, dass sich Tesla selbst für Elektrizität und nicht Nationalität begeisterte, war er bei Geburt Österreicher: Bis 1918 lag sein Heimatdorf in der Habsburgermonarchie.

Weggabelung auf grün-brauner Wiese. Auf einem breitesten Weg sind gehen ein paar Menschen spazieren.
Weggabelung mit zwei Fahrradfahrern.

Die Frage, wie politische Regime mit Vielfalt umgehen, hat diese Region geprägt – im Guten wie im Schrecklichen. Als die Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg zerfiel, kam ein neues Gefüge auf die politische Landkarte Europas, das sich aus Kroatien und Serbien sowie Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Slowenien zusammensetzte. Fast 70 Jahre lang gehörten sie einem gemeinsamen jugoslawischen Staat an, der von 1918 bis 1941 als zentralistisches Königreich und von 1944 bis 1991 als föderale sozialistische Republik existierte, bevor es ihn unter unermesslichem Leid zerriss. 

Jugoslawien war ein einmaliges Experiment, ethnische, sprachliche und konfessionelle Vielfalt in einer gemeinsamen Ordnung und unter einer übergeordneten Leitidee zu vereinen. Ein Experiment, das zeigte, welcher Mehrwert daraus entstehen kann, einen modernen Staat jenseits des Paradigmas des Nationalstaats zu organisieren. Gleichzeitig steht Jugoslawien für die Verletzlichkeit derart vielfältiger Ordnungen – denn sie sind kompliziert und müssen fortwährend gepflegt werden. Politische Kräfte, die einfache Lösungen und nationalistische Vorurteile gegen »die Anderen« propagieren, können sonst in kurzer Zeit jahrzehntelange Aufbauarbeit zerstören, ohne dass dieser Schaden so rasch wieder zu reparieren wäre. Die jugoslawische Erfahrung steht daher auch als Mahnung dafür, sorgsam mit den zerbrechlichen Institutionen umzugehen, die ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache garantieren. Für das Projekt eines geeinten Europas ist sie deshalb auch heute noch lehrreich.

Einen Lernprozess machte auch Jugoslawien durch: Verfolgte das Königreich der Zwischenkriegszeit noch die gescheiterte Vision, aus der südslawischen Bevölkerung des Landes trotz aller historischer, sprachlicher und konfessioneller Unterschiede eine jugoslawische Nation zu formen, so machte das sozialistische Jugoslawien Multinationalität zum politischen Leitprinzip. Sechs gleichberechtigte Bundesrepubliken gaben den sogenannten »Völkern« (narodi) die Möglichkeit, ihre nationalen Identitäten und Interessen unter einem gemeinsamen Dach auszuleben, wobei eine Republik, Serbien, mit Kosovo und Vojvodina noch zwei autonome Provinzen aufwies, die in sich ethnisch vielfältig waren.

Weitere Identitätsebenen verbanden die Menschen Jugoslawiens über ihre Nationalitäten hinweg: Die, Stand 1991, etwa 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger des Landes teilten sich auf mehrere Religionsgruppen auf, die größten davon Orthodoxie, Katholizismus und sunnitischer Islam. Auch die am weitesten verbreitete Sprache, damals »Serbokroatisch« genannt, war durch Vielfalt gekennzeichnet: Sie wurde in zwei Schriftsystemen geschrieben – Lateinschrift und Kyrillisch – und existierte in zwei unterschiedlichen Standards. Politisch zusammengehalten wurde diese Vielfalt durch den Präsidenten auf Lebenszeit, Josip Broz Tito, die Herrschaft des Bundes der Kommunisten und eine komplexe föderale Ordnung – unter dem gemeinsamen Motto der »Brüderlichkeit und Einheit« (bratstvo i edinstvo).

EIGENE WEGE
Unmittelbar nachdem sich die Wege der sechs jugoslawischen Teilrepubliken getrennt hatten, begann der kroatische Fotograf Silvestar Kolbas die Weggabelung vor dem Fenster seiner Wohnung in Zagreb aufzunehmen. 15 Jahre lang fotografierte er sie zu allen Jahreszeiten. Weil ihn die auseinanderstrebenden Pfade an einen rennenden Jungen erinnerten, nannte er das Projekt »Boy«. Wir zeigen einige Motive daraus.

Weggabelung
Blick auf Weggabelung und fallende Schneeflocken.

Bis Ende der 1980er Jahre – das wissen wir aus zeitgenössischen Untersuchungen – nahmen die allermeisten Einwohnerinnen und Einwohner Jugoslawiens die zwischenethnischen Beziehungen als unproblematisch wahr. Viele sahen in der Vielfalt einen echten Mehrwert: Stammten die Spieler der jugoslawischen Mannschaft, die 1990 die Basketball-Weltmeisterschaft in Argentinien gewann, nicht aus fünf unterschiedlichen Teilrepubliken? Die jugoslawische Tourismuswerbung präsentierte stolz die Vielzahlgroßartiger Bauwerke ganz unterschiedlicher Traditionen: römische Bauten, byzantinische Kirchen, osmanische Moscheen, venezianische und habsburgische Repräsentativbauten, Gründerzeit, Jugendstil und Modernismus. Alles vereint auf relativ kleinem Raum.

Doch eines war Jugoslawien nicht: eine Demokratie. Es blieb – wenn auch im Vergleich zu anderen kommunistischen Regimen relativ liberal – ein Einparteienstaat mit eingeschränkter Meinungsfreiheit, in dem Andersdenkende verfolgt wurden. Dieses Demokratiedefizit war ursächlich für den Staatszerfall. 1980 verstarb mit Tito die wichtigste Identifikationsfigur und letzte Entscheidungsinstanz, die 1980er Jahre brachten eine massive Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit, steigender Inflation, wachsender Ungleichheit sowie sinkenden Lebensstandards mit sich. In der Bevölkerung schwand das Vertrauen in die Lösungsfähigkeit der politischen Eliten, die sich gegenseitig blockierten, statt gemeinsam Reformen auszuarbeiten. Die jugoslawische Verfassung hatte in ihrer letzten Form von 1974 ein fein austariertes System geschaffen, in dem weder die Bundesregierung noch ein einzelner Landesteil den anderen etwas diktieren konnten. Aber sie eröffnete gleichzeitig so viele Vetomöglichkeiten, dass ehrgeizige Politiker begannen, außerhalb der Verfassungsordnung zu agieren. An die Stelle von »Brüderlichkeit und Einheit« traten nun Nationalismus und Hasspropaganda. Der Vielvölkerstaat zerfiel in seine Einzelteile.

Den Kriegen in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo fielen mehr als 120.000 Menschen zum Opfer. Und sie machten Millionen heimatlos, darunter viele, die Jugoslawien noch heute als ihre eigentliche Heimat ansehen. Selbst die serbokroatische Sprache wurde Opfer der nationalistischen Abgrenzungswut: Die gemeinsame Bezeichnung verschwand aus dem Sprachgebrauch und vor allem in Kroatien bemühten sich Sprachplaner, das Kroatische, soweit es eben geht, vom Serbischen abzusetzen.

Verschwunden ist der Glanz der Vielfalt damit aber nicht. Angesichts der Schrecken der Kriege sowie der sozialen Verwerfungen seit der Auflösung des gemeinsamen Staates blicken viele Menschen nostalgisch auf diesen zurück, wie etwa Umfragen zeigen. Politisch drückt sich diese »Jugonostalgie« nicht aus: Nirgendwo gibt es relevante Parteien, die eine dritte Neugründung Jugoslawiens fordern. Als kulturelle Einstellung aber ist sie präsent – etwa in der anhaltenden Popularität der einst gemeinsamen Musik oder der kulinarischen Vielfalt. Das Leben im gemeinsamen Staat hat seine Spuren in der Alltagskultur, in den Erfahrungsräumen und den symbolischen Welten der Menschen hinterlassen, die auch nationalistische Politik nicht einfach ungeschehen machen kann. 

Alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind multiethnisch, Minderheiten genießen teils weitgehende Rechte.

Weggabelung im leichten Schnee mit einem Jogger.
Verschneite, sich kreuzende Pfade mit zwei Personen.

Selbst die ethnische Vielfalt überlebte Staatszerfall und Krieg: Alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind multiethnisch, wobei Minderheiten teils weitgehende Rechte genießen. Das staatliche Radio in Novi Sad, der Hauptstadt der serbischen Provinz Vojvodina, sendet in sieben Sprachen, darunter Romanes. In Nordmazedonien ist Albanisch zweite Staatssprache. Die Verfassung der Republik Kroatien erkennt 22 Minderheiten an, darunter so kleine wie die der Russinen und Istrorumänen. Die Verfassung von Kosovo reserviert 20 der 120 Sitze im Parlament für Repräsentantinnen und Repräsentanten von Minderheiten, neben Serben sind das unter anderem Ägypter, Ashkali und Gorani.

In Bosnien-Herzegowina ist Ethnizität sogar das bestimmende Prinzip der politischen Organisation, mit einem kollektiven Staatspräsidium, dessen drei Mitglieder den drei konstitutiven Völkern entstammen müssen: Bosniaken, Serben und Kroaten. Aktuell führt das zu der Absurdität, dass ein Mitglied des Staatspräsidiums, der serbische Nationalist Milorad Dodik, den gemeinsamen Staat eigentlich ablehnt. Insofern repräsentieren auch die Nachfolgestaaten die Ambivalenz der politischen Antworten auf Vielfalt – zwischen Nationalismus und Minderheitenschutz.

Doch kommen wir zum Schluss noch einmal zurück zu Nikola Tesla, der 1943 verarmt in New York starb. Die Tatsache, dass Kroatien das Porträt eines ethnischen Serben auf seine Centmünzen gravieren will, kann als Zeichen dafür gesehen werden, dass das Land beginnt, seine Tradition der Vielfalt positiv anzuerkennen. Und das ist ein begrüßenswerter Sinneswandel: Noch 1992 wurde ein Tesla-Denkmal in der umkämpften Stadt Gospić von kroatischen Ultranationalisten in die Luft gesprengt.

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