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Manchmal hilft Abstand, um eine neue Erkenntnis zu gewinnen. Im Sommer 1988 unternahmen Forscher einen Erkundungsflug über den Glauberg in der Wetterau, ein Hochplateau nordöstlich von Frankfurt am Main. Zwischen grünen Feldern erkannten sie plötzlich einen aufgeschütteten Hügel mit den Konturen eines Kreises, groß wie ein Helikopterlandeplatz – ein Grab, wie Ausgrabungen später offenbarten, mit einer sensationellen Grabbeigabe: einer Steinstatue, überlebensgroß und mit einer Krone auf dem Kopf, wie sie für keltische Krieger typisch war.

Das war spektakulär. Bis dahin hatten wir keine Hinweise darauf, dass Kelten in dieser Region gelebt haben, sagt Martin Schönfelder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Römisch-Germanischen Zentralmuseum, dem Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie.

Als Archäologe muss er Fundstücke lesen und interpretieren wie Historiker alte Texte. Als die Ausgrabungen am Glauberg in den 1990er Jahren begannen, war Schönfelder noch Student. Er widmete sich goldenen Ohrringen, die ebenfalls gefunden wurden, verglich sie mit früheren Funden aus der Region – Teller und Schüsseln aus Stein, schlichte Formen, simple Muster. Gold schmieden, Ohrringe fertigen, das konnte damals niemand in dieser Region. Wie waren die Ohrringe, die Steinstatue und die Gräber also dorthin gekommen? Diese Entdeckung war für mich ein Schlüsselpunkt, sagt Schönfelder. Damals habe ich verstanden, dass es die Kelten als das eine, homogene Urvolk Europas so nicht gab.

Für Griechen und Römer waren die Kelten gefürchtete Gegner.

Was bedeutet es, wenn die Kelten gar kein Volk waren? Von dieser Frage hängt nicht weniger als unsere Vorstellung von Einheit und Vielfalt ab, davon also, was Gesellschaften verbindet: eine einheitliche Kultur oder die Kombination vielfältiger Einflüsse? Die Kelten sind älter als die Griechen und Römer, breiteten sich ab 800 vor Christus einmal quer durch Europa aus, von der Bretagne, über Böhmen, bis zum Schwarzen Meer. Den südlichsten Punkt markieren die Pyrenäen, den nördlichsten die deutschen Mittelgebirge, von der Eifel bis zum Harz. Schaut man auf die Karte und sieht, wo ihre Spuren überall gefunden wurden, könnte man meinen, dass wir alle irgendwann einmal Kelten waren.

Die Kelten etablierten auch die erste Zivilisation in Mitteleuropa. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie Eisen zu nutzen wussten und daraus Schmuck und Waffen herstellen konnten. Außerdem entwickelte sich eine keltische Kunst mit ornamentalen Mustern, Abbildungen von Pflanzen und Tieren. Durch archäologische Funde lassen sich die Siedlungsräume der Kelten so noch heute rekonstruieren. Sie zeigen außerdem, dass verschiedene keltische Stämme ähnliche Traditionen pflegten und deshalb zumindest in einem gewissen Maße von einer gemeinsamen, keltischen Kultur gesprochen werden kann.

Bunte Illustration eines qualmenden, gemauerten Ofens, eines Blasebalgs, einer Rinne, aus der dunkle Flüssigkeit herausläuft und von Gegenständen aus Eisen: ein Messer, ein Hufeisen, ein Armreif und ein spitzes Werkzeug. Im unteren Teil drei Soldaten, einer von ihnen auf einem Pferd.

Aber weil die Kelten ihre Toten häufig verbrannten, fehlen vielerorts Knochenfunde – und damit DNA-Vergleiche. Von den Kelten gibt es außerdem kaum schriftliche Überlieferungen, nicht einmal einen Hinweis darauf, wie sie sich selbst bezeichneten. Ihren Namen erhielten sie von den Griechen, die nannten sie Keltoi – »die Tapferen«. Die Römer wiederum sprachen von Celtae und meinten damit die Menschen, die in Gallien lebten, einem Gebiet, das sich vom heutigen Zentralfrankreich über Belgien bis nach Trier erstreckte, aber auch Teile der Schweiz und Italiens umfasste. Für Griechen und Römer waren die Kelten mit ihren Schwertern gefürchtete Gegner. In der heutigen Türkei kämpften sie als Söldner für Lohn, Beute und Siedlungsland. Nach der Schlacht an der Allia, einem Nebenfluss des Tiber, eroberten sie 387 vor Christus sogar Rom. Wie unbeugsam und mutig sie waren, wissen wir nicht zuletzt von den alten Kelten Asterix und Obelix. Und wollen wir nicht alle ein bisschen wie Asterix sein?

Die Wissenschaft tastet sich aus unterschiedlichen Perspektiven an die Kelten heran. Die Archäologie konzentriert sich auf die Spuren im Boden und die Fundstücke, vergleicht und analysiert sie und will wissen: Wie lebten die Kelten? Was erklärt ihr Handeln? Die Geschichtswissenschaft durchforstet schriftliche Überlieferungen der Griechen und Römer, um mehr über die Kelten zu erfahren. Am schwersten haben es vielleicht die Anthropologie und die Sprachwissenschaft. Sie müssen mit vereinzelten Knochenfunden arbeiten oder mit den wenigen keltischen Inschriften auf Fundstücken. Doch alle Disziplinen bleiben im Vagen. Es fehlen Beweise – der Kleber, der Fundstücke, Überlieferungen, Knochenfunde und Inschriften zu einem »Volk« zusammenkitten könnte.

Die Kelten stehen nicht für Homogenität, sondern für eine große Vielfalt.

Dennoch gibt es immer wieder Versuche, in der Kultur der Kelten die Wurzel einer Identität zu finden, die Europa verbindet. Und so nährt sich der Mythos um das eine Urvolk. Der Wiener Prähistoriker Otto H. Urban etwa vertritt die These, die Kelten seien durch ihre gemeinsame druidische Religion verbunden gewesen und könnten deshalb als die ersten Europäer definiert werden.

1991, kurz vor den Ausgrabungen am Glauberg, vor allem aber kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, fand in Venedig die bis dahin meistbesuchte Ausstellung über die Kelten statt. Auch sie stilisierte sie zum ersten »europäischen Volk« und postulierte eine Einheit, die wohl gut in das Narrativ eines geeinten Europas passte. 

Martin Schönfelder sieht das anders. Der Volksgedanke vereinheitlicht, grenzt aber ebenso aus, sagt er. Nehmen wir zum Beispiel die Iren. Irisch ist eine keltische Sprache, mit dem Rückgriff auf die Kelten grenzen sich die Iren bis heute von den Engländern ab. Gleichzeitig fehlen Hinweise, dass die Kelten überhaupt auf die britischen Inseln übergesiedelt sind. Aus Sicht der Archäologie gehören beide Regionen also gar nicht zum Kernraum der Kelten, sagt Schönfelder. Die Idee der Kelten als homogenes »Urvolk« sei vielmehr ein Narrativ, das einer Vielzahl verschiedener Stämme mit ähnlichen Traditionen übergestülpt würde.

Bunte Illustration von Gebäuden, in deren Mitte ein beladener Wagen steht. Außerdem eine ornamentarisch verschlungene Schlange, Sonne, Mond und zwei Personen am Lagerfeuer.

Um das Unbehagen des Archäologen zu verstehen, lohnt ein Vergleich mit den Germanen. Auch bei ihnen fehlen Nachweise darüber, dass sie ein homogenes Volk waren. Trotzdem verengten die Nationalsozialisten die Germanen darauf und instrumentalisierten sie, um damit ihre rassistische Ideologie zu unterfüttern. Bis heute ist die germanische Kultur mit ihren Runen und ihrer Naturmystik anschlussfähig bei Rechtsextremen. Szeneläden benennen sich nach dem germanischen Gott Thor, Neonazis pilgern zu den Grabstätten germanischer Kämpfer und zeigen: Der Grat zwischen dem Wunsch nach einer gemeinsamen Identität und nationalistischer Vereinnahmung kann schmal sein.

Zurück zum Glauberg in Hessen und der Frage, wie die keltischen Funde dorthin gekommen waren. Die eine Erklärung wäre, dass Kelten dort im großen Stil gesiedelt haben. Dafür aber fehlten weitere Beweise. Die andere Erklärung, die auch für Schönfelder und seine Kollegen Sinn ergab, wäre: Keltische Stämme hatten sich mit lokalen Stämmen vermischt, vielleicht durch Heirat. Vielleicht waren die keltischen Objekte auch durch Handel dorthin gekommen. In jedem Fall muss es damals eine gewisse Aufgeschlossenheit unter den Stämmen füreinander gegeben haben. Und das ist die Erkenntnis, die Schönfelder aus den Funden am Glauberg zog: Die Kelten stehen nicht für Homogenität, sondern für eine große Vielfalt.

Es muss ein Interesse an anderen Kulturen gegeben haben.

MARTIN SCHÖNFELDER

Löst man sich von dem engen Begriff des Volkes, wird auch deutlich, dass der Niedergang der Kelten zeitlich nicht klar einzugrenzen ist. Die meisten assimilierten sich, mussten sich den am Ende doch überm.chtigen Römern, ihrer Sprache, Religion und ihren territorialen Ansprüchen unterwerfen. Andere pflegten noch bis ins Mittelalter keltische Traditionen.

In Hessen entstand nach den Funden vor fast 30 Jahren ein Museum und Forschungszentrum. Dort können Besucherinnen und Besucher heute sehen, was die Forscher damals bei ihrem Rundflug über den Glauberg entdeckten und was sie seither ans Tageslicht geholt haben.

Und auch wenn die Entdeckung der Grabstätte am Glauberg zunächst vor allem Aufschluss über die Vergangenheit gab – die Erkenntnis, die mit dem Fund verbunden ist, besitzt für Martin Schönfelder Aktualität. Es muss damals ein Interesse am Austausch mit anderen Kulturen vorhanden gewesen sein, sagt er. Nur so konnte sich die keltische Kultur ausbreiten und zum verbindenden Element vieler eigenständiger Stämme mit jeweils eigenen Kulturen werden. Ein bisschen wie heute in Europa.

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