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LEIBNIZ Die Globalisierung ist durch die Corona-Pandemie unter Druck geraten. Weltweit wird sie von Links- und Rechtspopulisten abgelehnt. Und während wir hier miteinander sprechen, führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Stehen wir vor einem Rückfall in Zeiten des Nationalismus, Frau Narlikar?

AMRITA NARLIKAR Auf Ihre Frage gibt es zwei Antworten. Erstens hat die Ära Trump zu einer liberalen Antipathie gegenüber allem, was mit »Nationalismus« zu tun hat, beigetragen. Aber wir sollten Nationalismus nicht ausschließlich als ein schlechtes Wort sehen. Schließlich haben national gewählte Spitzenpolitiker die Pflicht, ihrem Land und ihrem Volk zu dienen. Es ist daher wichtig, in der Außenpolitik und in der globalen Politikgestaltung stärker zu betonen, dass nationale Interessen nicht isoliert verfolgt werden können. Das heißt: Vor allem in der unsicheren Welt, in der wir leben, ist die Arbeit in Bündnissen und Koalitionen entscheidend. Und zweitens ist es wichtig zu erkennen, dass es gute Gründe dafür gibt, dass die Globalisierung und die multilaterale Ordnung, die sie aufrechterhalten hat, unter Druck stehen.

Was für Gründe sind das?

Einerseits war die Globalisierung eine unglaubliche Kraft für das Gute, sie hat Millionen von Menschen aus der Armut befreit. Andererseits haben viele Menschen aus dem Globalen Süden lange Zeit über ihre Marginalisierung geklagt – darüber, dass das System nicht für sie funktioniere, mein kürzlich bei Cambridge University Press erschienenes Buch und weitere meiner Veröffentlichungen thematisieren dieses Anliegen. Wie schrecklich sich die Ausgrenzung auswirkt, haben wir zum Beispiel an der ungleichen Verteilung von Impfstoffen während der Pandemie gesehen. Abgesehen von diesen bereits ernsthaften Bedenken wird die Kontrolle über globale Wertschöpfungsketten zunehmend für geostrategische Zwecke missbraucht. Wir leben in einer Welt, in der gegenseitige Abhängigkeiten zu »Waffen« werden können. Im Falle des Krieges in der Ukraine wird uns das jetzt an Gas, Öl und der Lieferung von Getreide wieder dramatisch vor Augen geführt.

Wir müssen unsere Lieferketten mit gleichgesinnten Partnern neu ausrichten.

AMRITA NARLIKAR

Wie schätzen Sie die Haltung des Westens gegenüber Russland ein?

Um es zunächst klar zu sagen: Die russische Invasion ist einfach inakzeptabel. Aber auch die Rolle des Westens lässt viel zu wünschen übrig, sowohl im Vorfeld des Krieges als auch jetzt. Die westlichen Sanktionen sollen ihre Wirkung in Russland entfalten. Wir wissen allerdings, dass das nicht über Nacht geschehen wird. Währenddessen leiden und sterben die Menschen und Tiere in der Ukraine. Außerdem trifft die Situation – durch die erwähnten globalen Abhängigkeiten – auch die armen Länder sowie die ärmeren Menschen im Westen. Wenn es weltweit zu Hunger kommt, liegt dies am Krieg, den Sanktionen, aber auch an den unzureichenden multilateralen Regeln. Wir müssen den regelbasierten Handel deshalb auf eine neue Grundlage stellen. Der geoökonomische Wettbewerb verlangt von uns, das Kalkül der Globalisierung zu ändern – statt Wohlstand zu verfolgen und diesen als eine zuverlässige Quelle des Friedens anzunehmen, müssen wir erkennen, dass es nie dagewesene Abwägungen und zum Teil Zielkonflikte zwischen unserem Wohlstand und unserer Sicherheit gibt.

Die internationalen Beziehungen müssen sich also ändern, sagen Sie. Wie wird die Welt von morgen aussehen?

Um die Herausforderungen wirksam anzugehen, brauchen wir eine neue Form der Globalisierung. Wir werden unsere Produktionsmuster diversifizieren müssen. Insbesondere in strategisch wichtigen Sektoren wie der Informationstechnologie und Gesundheitsversorgung werden wir uns voraussichtlich wieder bevorraten müssen. In jedem Fall wird es hier auch nötig sein, unsere Lieferketten mit gleichgesinnten Partnern neu auszurichten. Innerstaatliche Maßnahmen müssen dieses Vorgehen erleichtern. Sie werden zumindest auf kurze Sicht aber nicht ohne Kosten erfolgen können. Daher sollten die Sicherheitsgewinne vermittelt werden, die damit verbunden wären.  Außerdem müssen die Regeln des Multilateralismus grundlegend umgeschrieben werden, damit das System in der Lage ist, diese Herausforderungen zu bewältigen, die an seinen eigenen Grundfesten rütteln.

Wie sollten diese Regeln Ihrer Meinung nach aussehen?

Es muss für diejenigen, die das derzeitige System missbrauchen, Konsequenzen geben. Um die Instrumentalisierung von Institutionen wie der Welthandelsorganisation verhindern, braucht es starke Regeln und Kontrollen. Man muss aber akzeptieren, dass es sich voraussichtlich nicht mehr um einen universellen Multilateralismus handeln wird, sondern um ein Modell variabler Geometrie mit einem höheren Integrationsgrad unter gleichgesinnten Partnern.

AMRITA NARLIKAR
ist seit 2014 Präsidentin des German Institute for Global and Area Studies, Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien. Vor ihrem Wechsel nach Hamburg forschte Narlikar an den Universitäten Oxford und Cambridge, dort ist sie Honorary Fellow des Darwin College. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf internationalen Verhandlungen, wirtschaftlicher Staatskunst, Geoökonomie und Multilateralismus. Ihr besonderes Interesse gilt dabei dem Globalen Süden und unter anderem Indien, wo sie geboren wurde.

Der Grundgedanke des Multilateralismus ist, dass die Welt gemeinsam stark ist. Dahinter steht die Idee, dass es trotz aller Unterschiede gemeinsame Werte gibt, etwa die Menschenrechte. China, Russland oder Indien verstehen darunter aber offensichtlich etwas anderes. Wo sind die gleichgesinnten Partner für Europa oder die USA, von denen Sie sprechen?

Ich denke, ein großes Problem ist, dass der Globale Süden im Westen nicht differenziert genug betrachtet wird. Darunter hat beispielsweise Indien zu leiden, weil es dadurch häufig mit China in einen Topf geworfen wird. Ich glaube, dass der Westen durch seinen »Wir-gegen-die Anderen«-Ansatz in Bezug auf den Globalen Süden viele potenzielle Freunde verliert, die liberale Werte teilen.

Könnte Indien so ein potenzieller Freund sein?

Ja, nehmen wir den Fall der Menschenrechte: In Indien gibt es Verständnisse von Menschenrechten, die universell sind, umfassender und absoluter als in den westlichen Varianten des Liberalismus. Auch bei der Darstellung des Klimawandels gibt es Anknüpfungspunkte; die westliche Sorge ist dabei allerdings anthropozentrischer als die indische. Oft heißt es, wir müssen die Umwelt für unsere Kinder und Kindeskinder erhalten; in Indien wurde mir beigebracht, dass die Erde allen Lebewesen gehört, nicht nur den Menschen. Es gibt Freunde da draußen – wie Indien –, die genauso besorgt über den Vormarsch autoritärer Ideen sind wie wir in Europa, und die unsere Werte teilen. Wir müssen also nur bereit sein, uns mit ihnen auf Augenhöhe zu unterhalten, anstatt davon auszugehen, dass wir im Westen die einzigen Hüter des Liberalismus sind.

Aber können wir wirklich davon ausgehen, dass zum Beispiel Indien »gleichgesinnt« mit uns ist. Seine Positionen zur russischen Invasion in der Ukraine sowie seine Bereitschaft, russisches Öl zu kaufen, deuten nicht darauf hin.

Es ist ein bisschen naiv vom Westen, davon überrascht zu sein. Auf den ersten Blick mag es beeindruckend aussehen, wenn 141 Staaten den russischen Angriffskrieg in der Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilen. Sieht man aber genauer hin, ist das Bild nicht mehr ganz so eindrucksvoll. Unter den 35 Ländern, die sich enthalten haben, sind die großen Schwellenländer China, Indien und Brasilien. Und schauen Sie, wie schwierig es für Deutschland ist, sich von seiner Energieabhängigkeit von Russland zu lösen. Warum sollte es uns also überraschen, wenn Indien sich bei der Kritik an Russland zurückhält, wo doch 50 bis 80 Prozent seiner militärischen Lieferungen aus Russland kommen?

Nun sind Öl und Waffen nicht das Gleiche.

Indien befindet sich in einer sehr schwierigen Nachbarschaft, durch die zuverlässige Militärlieferungen wichtig und unerlässlich sind – das ist eine ebenso maßgebliche Abhängigkeit. Indem es sich aber weigert, eine harte Linie gegenüber Russland einzuschlagen, könnte das Land ungewollt die Hand eines autoritären Chinas an seinen Grenzen stärken. Auch manövriert sich Indien mit seinem Verhalten international in eine missliche Ecke mit ihm, dabei sind seine Beziehungen zu China wahrlich nicht die einfachsten. Das ist die tragische Ironie dabei. Dazu kommt, dass Russland mit voranschreitender Isolierung enger an China heranrücken und noch abhängiger von diesem Land werden wird, mit dem es bereits eine »no-limits-Partnerschaft« verbindet.

Wir sollten uns auf Partnerschaften konzentrieren, die auf gemeinsamen Werten basieren.

Amrita Narlikar

Wie sollte der Westen reagieren?

Nun, die EU könnte weiterhin mit dem Finger auf Indien zeigen, weil es keine klare Haltung zugunsten der Ukraine einnimmt und Russland nur zögerlich kritisiert. Und Indien könnte sich weiterhin ärgern und verteidigen. Das wird jedoch weder der EU noch Deutschland oder Indien helfen. Der Westen sollte die Unzufriedenheit in vielen Ländern des Globalen Südens nicht unterschätzen. Die EU und Indien sollten stattdessen die harte Lektion der als Waffe missbrauchten Interdependenz lernen, die uns dieser Krieg erfahren lässt und sich im internationalen System auf Partnerschaften konzentrieren, die auf gemeinsamen Werten basieren. Diese Zuverlässigkeit bietet Schutz vor einem Missbrauch der Abhängigkeiten und damit Sicherheit. Sowohl die EU als auch Indien sollten ihre Lieferketten diversifizieren – weg von Russland und auch weg von China. Die EU sollte Indien die Hand reichen, um die globalen Lieferketten neu auszurichten und die wirtschaftliche Integration zu vertiefen. Deutschland als führendes EU-Mitglied kann dies auch auf bilateraler Ebene tun und sollte außerdem die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich ausbauen, was es bisher abgelehnt hat.

Warum wäre es so wichtig, die Zusammenarbeit zu vertiefen?

Nur wenn Indien neben Russland und China verlässliche Partner als Alternativen hat, kann es international für die Prinzipien von Demokratie und Liberalität eintreten. Dafür muss sich aber ebenfalls der Westen ändern. Er müsste beispielsweise anerkennen, dass es auch im Globalen Süden ein Bewusstsein für die aktuelle autokratische Herausforderung gibt und Länder, die den wachsenden Einfluss Chinas eindämmen wollen. Im Globalen Süden wird übrigens auch aufmerksam registriert, dass es nicht nur in der Ukraine Krieg, Gewalt und Zerstörung gibt. Dass diese anderen Konflikte weltweit den Westen bislang nicht groß gekümmert haben, wird als Doppelstandard wahrgenommen.

Wie kann die Wissenschaft dazu beitragen, die globale Ordnung friedlicher und gerechter zu gestalten?

Ein globaler Forschungsansatz ermöglicht es, sich mit den Ideen und Praktiken der verschieden Weltregionen zu befassen und die Entwicklungen vor Ort in ihrem eigenen Kontext zu analysieren. Für solide wissenschaftliche Ergebnisse, mit denen wir bessere Politiken zu Fragen der Weltordnung entwickeln können, müssen wir den Globalen Süden einbeziehen. Wir müssen die dortigen Stimmen aktiv in die wissenschaftliche, politische und zivilgesellschaftliche Debatte integrieren, diese Debatten also gemeinsam weltweit führen. Wenn wir die unterschiedlichen Perspektiven, Konzepte und Erfahrungen in unsere Betrachtungen aufnehmen und verstehen, wie die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen entstehen und sich weltweit entfalten, werden wir bessere Lösungen vorschlagen können.

Wie kann die internationale Politik von diesem Forschungsansatz profitieren?

Er unterstützt politische Akteure dabei, die Absichten ihrer Gesprächspartner aus anderen Regionen besser nachzuvollziehen. Das Gegenüber darf dabei nicht idealisiert werden: Es wird – auch angesichts des Missbrauchs des internationalen Systems – politische Unvereinbarkeiten geben. Dabei sollten uns Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit die roten Linien aufzeigen, die nicht überschritten werden können. Ein kontextsensibles Verständnis kann zur Identifikation gleichgesinnter Verbündeter und zur überraschenden Erweiterung von Verhandlungsspielräumen führen. Wissenschaft, die Diversität anerkennt und ihr Potenzial zu nutzen weiß, ist deshalb eine Voraussetzung für geeignete Politikempfehlungen, die Gehör finden und die Weltlage verbessern können.

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