Ein sonniger Morgen in Berlin: Vom Dach der Geschäftsstelle der Leibniz-Gemeinschaft, wo heute das Interview stattfindet, ist der Ausblick herrlich. Unten auf den Straßen tost der Verkehr, Hauptbahnhof und Fernsehturm funkeln in Sichtweite. Noch ist Martina Brockmeier nur gelegentlich vor Ort, aber das wird sich in Kürze ändern: Gerade organisiert sie ihren Umzug in die Hauptstadt.
LEIBNIZ Frau Brockmeier, wir führen dieses Gespräch im Mai. Vor sechs Monaten, im November 2021, sind Sie zur neuen Präsidentin der Leibniz-Gemeinschaft gewählt worden, im Juli beginnt Ihre Amtszeit. Welches Gefühl überwiegt kurz vor dem Startschuss – Aufregung, Neugier, Freude?
MARTINA BROCKMEIER Alles zugleich. Ich habe in den vergangenen Monaten zahlreiche interne Gespräche geführt, unter anderem mit allen Sektionen und dem Verwaltungsausschuss. Außerdem lese ich viele Unterlagen und Berichte aus der Leibniz-Gemeinschaft sowie von anderen Wissenschafts- und Forschungsorganisationen. Teilweise nehme ich auch ältere Publikationen zur Hand, die mich inspiriert haben und die ich auffrischen möchte – etwa die »Empfehlungen zu wissenschaftlicher Integrität« des Wissenschaftsrats. Ich habe das große Glück, dass der Rektor meiner Universität Hohenheim in Stuttgart mich sehr unterstützt, ich teilweise schon von meiner Professur freigestellt bin und dank dieser Freiheit die Zeit für die Vorbereitung nutzen kann.
Seit 2009 sind Sie in Stuttgart Professorin für Agrarökonomie. Heißt das, Sie kommen mit einem Blick von außen in die Leibniz-Gemeinschaft?
Dass ich von außen komme, stimmt – und stimmt zugleich auch nicht. Bereits 2001 wurde ich als Mitglied in den damals gegründeten Senatsausschuss Evaluation der Leibniz-Gemeinschaft berufen und begleitete die Arbeit für acht Jahre. Als Vorsitzende des Wissenschaftsrats saß ich ab 2017 im Senat der Leibniz-Gemeinschaft. 2020 trat ich in den Senatsausschuss Strategische Vorhaben, kurz SAS, ein. Wenn es also eine Forschungsorganisation gibt, die ich gut kenne und die mir nahesteht, dann ist es die Leibniz-Gemeinschaft.
Es gibt Prinzipien, für die ich immer kämpfen würde.
MARTINA BROCKMEIER
Nach Ihrer Wahl im Herbst 2021 sagten Sie, die Leibniz-Gemeinschaft habe »exzellente Voraussetzungen, um den großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen«. Doch seit dem Frühling 2022 ist in Europa nichts mehr, wie es war. Hat das Ihre Einschätzung verändert?
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Leibniz-Gemeinschaft sehr gut aufgestellt ist, vor allem durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung. Keine Einzeldisziplin kann allein Lösungen für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen finden, wie beispielsweise die Energiewende, die Klimakrise, die Ernährungssicherheit oder das Artensterben. Die Wissenschaft muss interdisziplinär zusammenarbeiten – und darin ist die Leibniz-Gemeinschaft sehr gut. Trotzdem können wir natürlich zum aktuellen Zeitpunkt kein Interview führen, ohne auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu sprechen zu kommen. Was die ukrainische Wissenschaft – wie die gesamte Bevölkerung – zu erleiden hat, ist unvorstellbar. Aber auch viele russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich gegen Putin gestellt haben, sind lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt und stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.
Finden Sie den Abbruch aller wissenschaftlicher Kooperationen mit Russland dennoch richtig?
Hier ist mir zunächst wichtig zu betonen, dass es mir um den Abbruch der Zusammenarbeit mit russischen Institutionen geht. Die persönlichen Beziehungen zu einzelnen russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder zivilgesellschaftlichen Einrichtungen – insbesondere zu den kremlkritischen – sollten im Rahmen des rechtlich Möglichen aufrechterhalten werden. Unter dieser Voraussetzung lautet die Antwort auf Ihre Frage: Absolut! Und zwar auch vor dem Hintergrund, dass wir nicht sicherstelIen können, was in Russland mit gemeinsam erarbeiteten Forschungsergebnissen passiert. Da viele wissenschaftliche Institutionen staatlich sind und sich öffentlich in großer Mehrheit hinter Putin gestellt haben, können wir es nicht mehr riskieren, wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Daten mit ihnen zu teilen.
Die deutsche Wissenschaftslandschaft diskutiert in diesem Zusammenhang über die Dual-Use-Problematik, gemeint ist die doppelte und möglicherweise schädliche Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, etwa zu militärischen Zwecken. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Wir brauchen neue Strategien im Umgang mit totalitären und autokratischen Regimen. Mit science diplomacy ist es hier leider oft nicht mehr getan. Wir müssen uns fragen, unter welchen Bedingungen und in welchen Bereichen wir in Zukunft wissenschaftliche Kooperationen eingehen wollen – insbesondere, wenn diese einen ungleichgewichtigen Fluss von Erkenntnissen in eine Richtung haben. Diese Debatte war schon vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine da. Aber sie hat nun, zusätzlich befeuert durch die aktuellen Recherchen und Diskussionen zur Kooperation mit Universitäten in China, an Fahrt aufgenommen: Wie gehen wir beispielsweise mit Ergebnissen um, die aus Ländern mit einem grundsätzlich anderen Verständnis von Wissenschaftsfreiheit kommen? Oder deren Forschungsinstitutionen eng mit dem Militär verknüpft sind? Sollten wir diese Erkenntnisse und wissenschaftlichen Daten wirklich in unsere Forschung einfließen lassen? Ich sehe das kritisch.
Sie sind Expertin für globale Handelsströme und Ernährungssicherheit – wird den wirtschafts- und agrarwissenschaftlichen Instituten in der Leibniz-Gemeinschaft Ihr besonderes Augenmerk gelten?
Es ist ein Schatz, was die Leibniz-Gemeinschaft in diesem Bereich hat – etliche großartige Institute. Aber es gibt noch viele andere Schätze in der Leibniz-Gemeinschaft ...
Das ist eine sehr diplomatische Antwort.
Die Agrarwissenschaft ist eine Systemwissenschaft und schon deshalb bin ich in vielen Disziplinen zu Hause. Durch meine Arbeit im Wissenschaftsrat habe ich außerdem Einblicke in zahlreiche Fächer bekommen, das hat mich wahnsinnig fasziniert. Ich kann mich für Sprach- und Literaturwissenschaften ebenso begeistern wie für Physik oder Chemie. Und diese Liste ließe sich lange fortführen.
Haben Sie als Leibniz-Präsidentin eine Agenda für das erste Jahr im Amt?
Ganz klar: Ich möchte die Interdisziplinarität noch größer und noch methodischer denken. Wir wissen heute, dass an den Schnittstellen zweier völlig fremder Disziplinen oft der größte Erkenntnisgewinn zu finden ist. Diesen Gedanken würde ich gern aufnehmen und vorantreiben. Außerdem gibt es derzeit kein umfassendes erkenntnistheoretisches Gerüst, wie Interdisziplinarität systematisch ausgestaltet werden kann. Was passiert in einer Disziplin, nachdem Ergebnisse aus der jeweils anderen Disziplin in die eigene Forschung aufgenommen wurden? Wie wirkt das zurück? Darüber möchte ich mit den Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft weiter nachdenken. In den Gesprächen, die ich seit vergangenem Jahr führe, haben sich viele Institute noch mehr Ebenen des Austauschs gewünscht, die auch hierfür genutzt werden können.
Höre ich da einen Führungsstil heraus, der auf Dialog setzt?
Die Leibniz-Gemeinschaft ist so organisiert, dass die Präsidentin oder der Präsident vor allem ermöglicht – nicht von oben herab diktiert, wo es langgeht. Das wäre aber ohnehin nicht mein Ansatz. Ich beziehe gerne viele Positionen mit ein und komme gemeinsam mit anderen zu Entscheidungen. Das heißt aber nicht, dass für mich alles verhandelbar ist. Es gibt Prinzipien, von denen ich überzeugt bin und für die ich immer kämpfen würde – Qualität statt Quantität in der Forschung beispielsweise oder wissenschaftliche Integrität, also eine verantwortungsvolle und redliche Grundhaltung, zu der sich die Forschung selbst verpflichtet. Zum Glück weiß ich die Leibniz-Gemeinschaft da absolut hinter mir.
FRISCH IM AMT
Martina Brockmeier ist ab 1. Juli Präsidentin der Leibniz-Gemeinschaft. Zuvor war die Agrarökonomin unter anderem Vorsitzende des Wissenschaftsrats (2017-2020), dem sie seit 2014 angehörte. Seit 2009 ist sie Professorin für Internationalen Agrarhandel und Welternährungswirtschaft an der Universität Hohenheim – ein Fokus ihrer Forschung liegt dabei auf Handelsabkommen und deren Auswirkungen auf Entwicklungsländer und die globale Ernährungssicherheit. Bereits in den vergangenen Jahren ist Brockmeier immer wieder mit der Leibniz-Gemeinschaft in Berührung gekommen, unter anderem als Senatorin der Forschungsorganisation. Deren Mitgliederversammlung hatte sie im November zur Nachfolgerin von Matthias Kleiner gewählt, der nach acht Jahren nicht für eine dritte Amtszeit zur Verfügung stand.
In den zurückliegenden Pandemie-Jahren ist die Wissenschaft massiv in den öffentlichen und medialen Fokus gerückt. Dabei lief nicht alles rund. Wo sehen Sie die Schwächen, wo die Stärken unseres Wissenschaftssystems?
Die Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe hat gezeigt, wie erfolgversprechend ein kooperativer Wettbewerb ist. Wenn Wissenschaft, Wirtschaft und Politik an einem Strang ziehen, sind wir in kürzester Zeit zu Unglaublichem in der Lage. Daraus sollten wir unbedingt lernen! Ist der oft extrem überhitzte Wettlauf um Stellen oder Drittmittel, wie wir ihn aktuell vielfach erleben, der richtige Weg, Wissenschaft zu organisieren? Wir reden viel darüber, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder geprüft und revidiert werden müssen. Warum gucken wir nicht mal mit genau diesem Blick auf das eigene Wissenschaftssystem und gehen dann neue Wege, wenn wir feststellen, dass die schneller zum Ziel führen?
Was springt Ihnen dabei besonders kritisch ins Auge?
Aktuell belohnen wir noch viel zu oft Quantität statt Qualität in der Forschung. Das hat auch damit zu tun, dass die Bewertung der Forschungsqualität sehr zeitaufwendig ist. Aber das setzt falsche Anreize. Publikationen etwa werden vielfach mit Salamitaktik veröffentlicht, auch wenn das wissenschaftlich oft nicht sinnvoll ist. Oder es wird landesweit auf die Anzahl der Nobelpreisträger geschaut, nicht aber auf die beispielsweise ebenfalls sehr wichtige hochwertige Lehre. Dabei ist die Ausbildung der Studierenden und die gute Betreuung von Doktorandinnen und Doktoranden für die Zukunft der Wissenschaft essenziell.
Wie könnte man das bestehende System relativ schnell verändern?
Da fällt mir einiges ein: der offenere Austausch von wissenschaftlichen Forschungsdaten etwa, der Vertrauen aufbaut und weitergehende Kooperationen nach sich zieht. Oder aber wir sind mutiger und experimentieren. Warum vergeben wir Forschungsgelder nicht auch mal nach dem Zufallsprinzip an risikoreiche Projekte, wie es der Wissenschaftsrat bereits 2017 empfohlen hat? Natürlich nach einer qualitativen Vorauswahl. Und wenn wir feststellen, dass uns das weiterbringt, könnten wir in dieser Richtung fortfahren. Gelingt es nicht, suchen wir nach anderen Wegen. Das sind nur einige wenige Beispiele aus der langen Tradition von Empfehlungen, wie das Wissenschaftssystem zu verändern wäre. Oft unterscheiden sich diese grundsätzlichen Empfehlungen lediglich im Detail. Daher müssten wir uns einfach nur beherzter an die Umsetzung machen, dann würde es ganz sicher gelingen.
Nochmal zurück zur Leibniz-Gemeinschaft: Für die Finanzierung der 97 außeruniversitären Institute wenden Bund und Länder Milliarden auf. Fürchten Sie, dass das Budget für Forschung durch Staatsverschuldung, Pandemie und Krieg langfristig schrumpfen könnte?
Finanzierungsfragen werden die Leibniz-Gemeinschaft in den kommenden Jahren definitiv beschäftigen. Wir sind in der Vergangenheit stark gewachsen, die Anzahl der Institute und Mitarbeitenden – und damit auch die staatlichen Zuwendungen – haben sich deutlich erhöht. Uns ist klar, dass das so nicht endlos weitergeht, das zeichnete sich schon vor Corona ab. Wenn die Leibniz-Gemeinschaft künftig wächst, dann sollte sie strategisch dort wachsen, wo sie besonders gut ist.
Was genau meinen Sie damit?
Wir sollten bestehende exzellente Bereiche erweitern und die Aufnahme neuer Institute der gezielten Stärkung strategisch sehr wichtiger Bereiche vorbehalten. Aktuell haben wir außerdem noch ein anderes Problem: Den außeruniversitären Forschungseinrichtungen droht eine Besteuerung von gemeinsam mit Universitäten berufenen Personen. Nehmen diese Personen nach ihrer Berufung im sogenannten Berliner Modell Forschungs- und Leitungsaufgaben in der außeruniversitären Forschungseinrichtung wahr, so könnte künftig eine Umsatzsteuer fällig werden. Das trifft allein in der Leibniz-Gemeinschaft auf circa 250 Professuren zu. Aber nicht nur die damit verbundene Kostenexplosion würde unsere Kooperationen deutlich erschweren. Wenn ein Gut, hier also die gemeinsame Berufung, besteuert wird, sinkt die Nachfrage – das wiederum wäre eine Katastrophe für die enge Zusammenarbeit von universitären und außeruniversitären Instituten. Für dieses Problem brauchen wir unbedingt eine politische Lösung.
Bei allen budgetären Unsicherheiten – wo sollte die Leibniz-Gemeinschaft in Zukunft noch aktiver werden?
Wir müssen alle exzellenten und strategisch wichtigen Bereiche weiterentwickeln. Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschungsinfrastrukturen, die derzeit extrem dynamisch ist. Hier sehe ich die Leibniz-Gemeinschaft in einer führenden Rolle, wie etwa bei ihrer vielfältigen Beteiligung an der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur, die wissenschaftliche Datenbestände systematisch erarbeitet, sichert und zugänglich macht. Die internationale, interdisziplinäre Kooperation in diesem Bereich wird immer wichtiger, und die Leibniz-Gemeinschaft kann definitiv helfen, Datenschätze auf höchstem wissenschaftlichem Niveau bereitzustellen, auszuwerten und in neuste Forschung einzubinden.
Die offensichtlichste Frage habe ich mir für den Schluss aufgehoben: Sie sind die erste Frau an der Spitze der Leibniz-Gemeinschaft. Was bedeutet Ihnen das?
Meine Doktorandinnen haben oft zu mir gesagt, ich sei ihr role model. Das bin ich gerne, auch weil ich der festen Überzeugung bin, dass heterogene Teams die besseren sind. Wissenschaftliche Gremien verändern sich, wenn die Zusammensetzung diverser wird, das habe ich nicht nur beim Wissenschaftsrat eindrücklich erlebt. Man trifft Entscheidungen anders, diskutiert anders, arbeitet anders zusammen. Wir sind insgesamt in der Wissenschaft schon ganz gut vorangekommen, aber noch lange nicht am Ziel. Dass die Leibniz-Gemeinschaft unter den großen außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen nun die erste ist mit einer Präsidentin, freut mich unglaublich.