leibniz

In den Mangrovenwäldern enden die Reiche der Menschen. Tief im Dickicht, viele Kilometer von Häfen und Krankenhäusern entfernt, ebnen Priele statt Straßen den Weg, und wo kein Wasser ist, ist salziger Schlamm, so tief, dass man darin ertrinken kann. Rhizophora mangle ragen hier in die Höhe, eine Baumart, die auf das Leben im Wechselspiel der Gezeiten perfekt angepasst ist. Ein Forschungsteam hat sich bis an das teils im Wasser, teils an Land liegende Wurzelwerk eines besonders großen Vertreters herangewagt. Sie beginnen mit den Untersuchungen …

So oder so ähnlich könnte ein Text anfangen, der den Schutz der Mangroven zum Thema hat. Er würde von unberührter Natur erzählen, von einem einzigartigen Ökosystem, dass es zu schützen gilt. Und tatsächlich: Mangroven, wie man die Waldgebiete an den Küsten der Tropenregionen nennt, die sich wie ein Gürtel einmal um den Globus spannen, sind ein einzigartiges Ökosystem: Neben Korallenriffen und den tropischen Regenwäldern zählen Mangrovenwälder zu den produktivsten Ökosystemen der Erde. In den Kronen des Mangrovenwaldes leben Reptilien und Säugetiere, und unter Wasser suchen Fische, Muscheln und Krebse Schutz vor Gezeitenströmungen und Fressfeinden. Auch schützen Mangroven das Klima – im Schnitt speichert ein Quadratkilometer Mangrovenwald bis zu fünfmal mehr CO2 ein als ein Stück tropischer Regenwald gleicher Größe.

Und die Mangroven sind in Gefahr. Umweltverschmutzung, Abholzung und Urbanisierung machen den Wäldern zu schaffen; seit 1980 hat sich der weltweite Mangrovenbestand um mindestens ein Drittel reduziert. Ihr Schutz, ihre Wiederherstellung und – natürlich – ihre Erforschung sind essenziell für den Schutz des Klimas.

Nur wäre ein Einstieg wie der obige, und die Story, die mit ihm erzählt würde, unvollständig. Denn die Reiche der Menschen enden nicht in den Mangrovenwäldern. Sie fangen gerade erst an.

Der Mangroven-Ökologe Martin Zimmer sticht einen Sedimentkern aus dem Boden eines angrovenwaldes in Kolumbien. Foto THERESA MARIA FETT/ZMT
Mangroven der Art Rhizophora mangle an der Küste von Barú in Kolumbien. Foto CAROLINA HORTÚA ROMERO
Mangrovenwald im mexikanischen La Paz. Foto MARTIN ZIMMER/ZMT

Wenn an einer Stelle beispielsweise die Holzproduktion die wichtigste Ökosystemleistung ist, können wir als Wissenschaftler:innen nicht einfach hingehen und erklären, dass der Küstenschutz hier Priorität hat, sagt Martin Zimmer. Es geht darum, zu verstehen, was die Menschen vor Ort als das Wichtigste erachten. Es geht um die Bedürfnisse der Leute. Der Mangroven-Ökologe vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen, kurz ZMT, benutzt oft den Begriff der Ökosystemleistung, der eher der Ökonomie denn der Ökologie entnommen scheint. Ein Begriff, der unterstreicht, dass Ökosysteme dem Menschen Nutzen bringen. Von unberührter Natur ist, wenn man mit Zimmer spricht, nur am Rande die Rede.

Mehr als 100 Millionen Menschen leben in und vor allem von den Mangrovenwäldern. Die Fischer Brasiliens, die den Klimawandel am eigenen Leib spüren, lokale Forstarbeitende in Malaysia, die Mangrovenholz hacken und zu Kohle weiterverarbeiten; Mitarbeitende kolumbianischer Nationalparks, für die ein stabiles Ökosystem auch aus touristischer Sicht wichtig ist – sie alle nutzen die Mangroven auf vielfältige Weise, nutzen Ökosystemleistungen. Wie bringt man aber diese Ökosystemleistungen, und mit ihnen auch die unterschiedlichen Interessen rund um die Nutzung der Mangroven, unter einen Hut – und schützt gleichzeitig das Ökosystem? Dieser Frage geht Zimmer auf den Grund. Seine Antwort mutet auf den ersten Blick wie eine seltsame Mischung aus Radikalität und Banalität an: Ökosystem-Design.

Ökosystem Co-Design, korrigiert Zimmer. Ursprünglich hatte ich es als Ökosystem-Design bezeichnet. Letztes Jahr haben wir uns aber entschieden, das Konzept umzubenennen, weil wir damit ganz klar die Bedeutung betonen wollen, die die lokalen Akteure haben.

Das Wort »Design« im Begriff des »Ökosystem Co-Designs« ist dabei ganz wörtlich zu nehmen: Zimmer geht es bei der Aufforstung der Mangroven nicht um eine klassische Restauration, bei der das Ökosystem Mangrovenwald haargenau so aufzuforsten ist, wie es ursprünglich war. Es geht darum, die Wälder so zu gestalten, dass sie dem Menschen optimalen Nutzen bringen, dass sie – so effizient wie möglich– auf Ökosystemleistungen hin optimiert sind. Zimmers Konzept sieht daher auch vor, Mangrovenwälder und ähnliche maritime Ökosysteme dort anzupflanzen, wo vorher keine wuchsen, etwa auf neu entstandenen Sandbänken. Spätestens hier kann von Schutzmaßnahmen – im klassischen Sinne – nicht mehr die Rede sein, erklärt Zimmer, und es ist für uns zweitrangig, ob da vorher Mangroven waren oder nicht.

Mangroven in der Region um Durban an der Küste Südafrikas. Foto MARTIN ZIMMER/ZMT
Mangroven in Malaysia. Foto JEN NIE LEE/UNIVERSITI MAYLAYSIA TERENGGANU

Ökosysteme so herstellen, dass sie in erster Linie dem Menschen dienen. War die Natur vorher etwa nicht gut genug? Wenn man Martin Zimmer so zuhört, kommen einem Gedanken an den Zauberlehrling, der den Geistern, die er rief, nicht mehr Herr werden kann. Gedanken an Künstlichkeit und immer radikalere Eingriffe in natürliche Prozesse. Will der Mensch hier Schöpfer spielen, Herr Zimmer?

Martin Zimmer hält nicht viel von dieser Kritik. Er sagt: Das ist eine in Mitteleuropa, besonders in Deutschland, häufig aufkommende Sorge. Und führt aus: Auch Landwirtschaft, die wir Menschen bereits seit Jahrtausenden betreiben, ist eine Form des Ökosystemdesigns: Ein Ökosystem wurde so optimiert, dass es zum Beispiel möglichst effizient Weizen hervorbringen kann – mit dem Unterschied, dass in der Landwirtschaft weder die ökologischen Folgen noch gesellschaftliche Fragen, wie die nach den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung, im Vordergrund standen oder stehen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass wir mit Ökosystem Co-Design gegen die Förderung der Biodiversität sind.

Tatsächlich seien lokale Akteure in den tropischen Ländern sehr viel empfänglicher für die Ideen des Ökosystem Co-Designs: Ich habe das Gefühl, dass wir hier in Deutschland ein bisschen unsere Abhängigkeit von Ökosystemleistungen aus den Augen verloren haben. In Malaysia etwa ist das ganz anders. Hier leben die Menschen viel mehr von und mit der Natur, die Abhängigkeit von der Natur ist viel größer. Lokale Akteure, damit meint Zimmer zum Beispiel Dorfälteste, Nationalparkmitarbeiterinnen, Fischer. Er meint Menschen, für die die Mangrovenwälder eine Lebensgrundlage darstellen, ein Ökosystem, aus dem Nutzen gewonnen wird.

Warum sich der Mangrovenforscher ganz den Bedürfnissen der Leute verschrieben hat, hat auch persönliche Gründe. Ich erinnere mich an Fidschi, in einem kleinen Fischerdorf, sagt Zimmer. An der Küste der Pazifikinsel hatte er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Wellenbewegungen gemessen – und war dabei von den Einheimischen unterstützt worden. Bei einer Folgeuntersuchung drei Jahre später sprach uns der Dorfälteste an und fragte, wo wir all die Jahre geblieben seien. Im Dorf hätten sie nichts mehr von uns gehört – dabei waren es doch die Einheimischen, die uns beim Anbringen der Sensoren geholfen haben, uns alles gezeigt und erklärt haben. Das war ein Augenöffner, es hat mich nachdenklich gemacht. Es sei jene Helikopter-Wissenschaft, wie Zimmer Forschung ohne Einbeziehung der Menschen vor Ort mittlerweile nennt, die er radikal ablehnt. Hinfliegen, Forschen, wieder Zurückfliegen – und die Menschen allein lassen: Das geht so nicht.

Workshop in Malaysia. Foto MAHESHWARAN GOVENDER/ZMT
Die Teilnehmenden eines Workshops in Kolumbien. Foto MONDANE FOUQUERAY/CAMILO ARRIETA/ZMT

Seitdem suchen Zimmer und sein Team das Gespräch mit den Leuten vor Ort, um über ihre Bedürfnisse zu reden, über ihre Wünsche, ihre Bedenken. Das geschieht vor allem in Workshops, bei denen die ZMT-Forschenden mit Einheimischen zusammenkommen. Wir versuchen, die Teilnehmendenzahlen auf etwa 20 zu halten, um in einen echten Austausch treten zu können, aber es gibt Fälle, da werden es mehr, weil großes Interesse vor Ort besteht. Wenn nötig, teilen wir die Workshops dann nochmal in Kleingruppen auf, damit auch Frauen, die viel zu sagen hätten, aber es aufgrund von hierarchischen Strukturen nicht können oder dürfen, zu Wort kommen.

Konflikte mit den Einheimischen? Gibt es selten, sagt Zimmer. Das liegt vor allem daran, dass er sich selbst nicht als Konfliktpartei betrachten will, sondern mehr als Mittler. Es geht nicht darum sich durchzusetzen, es geht darum, etwas gemeinsam zu entwickeln, Kompromisse zu finden, die Mensch und Natur nutzen. Zimmer ringt um Worte. Man bekommt das Gefühl, er versuche das Wort »Konflikt« zu vermeiden. Natürlich haben wir, wenn wir da als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinkommen, unsere Vorstellungen. Aber wir müssen uns von dieser Sichtweise entfernen. Es geht eben nicht darum, dass wir dorthin gehen und sagen, wir wissen es besser, sondern es geht darum, unser Wissen mit dem Wissen der Menschen vor Ort zusammenzubringen. Kompromisse statt Konflikte also. Die Sorgen der Einheimischen ernstnehmen. Austausch statt Einmischung.

Natürlich wissen die Menschen vor Ort vieles, was wir in der Wissenschaft noch nicht wissen, führt Zimmer aus. Und da kommt es schonmal vor, dass die Einheimischen unsere Vorschläge ablehnen. So war es zum Beispiel in Malaysia. In den Setiu Wetlands haben uns die Verantwortlichen explizit aufgefordert, an Ort und Stelle keine Mangroven anzupflanzen, weil das auf Kosten anderer Ökosysteme ginge. Und das ist völlig okay so.

Mangroven-Baumschule im Dorf Santa Ana in Kolumbien. Foto MONDANE FOUQUERAY/CAMILO ARRIETA/ZMT
Mangrovenaufforstung in Kolumbien. Foto MONDANE FOUQUERAY/CAMILO ARRIETA/ZMT
Mangrovenwald in Kolumbien. Foto MARTIN ZIMMER/ZMT

Auch in Indonesien wurde in den Workshops hitzig diskutiert, diesmal über Aquakulturen für Shrimps. Der Fang und der anschließende Verkauf der Schalentiere stellen die wichtigste Einnahmequelle der Menschen vor Ort dar. Dem Vorschlag, eine Kombination aus Aquakulturen und Mangroven zu installieren, wurde vor allem ökonomische Bedenken entgegengehalten. Viele Teichbetreiber hatten die Befürchtung, wir wollten ihnen die Shrimp-Becken wegnehmen. Aber hier kommen wir als Forscherinnen und Forscher ins Spiel: Es gibt Studien, die nahelegen, dass eine Kombination aus Aquakulturen und Mangrovenwäldern die Aquakulturen möglicherweise sogar ertragreicher macht. Und gut für das Ökosystem ist eine Teilbepflanzung der Flächen mit Mangrovenwäldern sowieso. Das sei am Ende dann auch ihr Argument in der Diskussion mit den Teichbetreibern gewesen, sagt Zimmer. Wir sind sehr glücklich, dass Einige einwilligten und nun Mangroven in und an ihren Teichen wachsen lassen.

Tatsächlich, so Zimmer, sei das Konzept der kombinierten Nutzung noch mit Schwierigkeiten behaftet. Die Wände der Teiche sind oft zu steil für Mangroven und das Wasser ist eigentlich zu tief, um Mangroven da dauerhaft anzupflanzen. Aber genau dafür sind wir da: um Lösungen zu finden. sagt Zimmer. Und ergänzt: In Zusammenarbeit mit den Teichbetreibern natürlich. Denn die müssen ja einverstanden sein.

Die Beispiele zeigten gut, so Martin Zimmer, dass sie mit ihren Bestrebungen zum Ökosystem Co-Design gerade erst am Anfang stünden. Es zeigt aber auch, dass wir eines Tages in großem Stil Mangroven nach dem Konzept des Ökosystem Co-Designs anpflanzen werden. Da bin ich mir sicher. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Eins ist klar: Martin Zimmer wird ihn nicht allein beschreiten.

Vielleicht auch interessant?