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Ein Hinweis vorab: Im Text beschreibt die Autorin die Fluchterfahrungen ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner und das Leid, das diese im Darién Gap beobachten. Auf empfindsame Leserinnen und Leser könnte dies verstörend wirken.

Es ist Samstag, der 26. August 2023, und wir sitzen auf der Terrasse der Migrant*innen-Herberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt, als wir es aus den Nachrichten erfahren: Die panamaische Regierung will eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt dichtmachen – den Darién Gap.

Der Darién Gap ist ein dichtes Stück Urwald zwischen Kolumbien und Panama. Er verbindet Süd- mit Mittelamerika und ist so unzugänglich, dass er die einzige »Lücke« (daher auch sein Name) in der Panamericana darstellt, dem legendären System aus Schnellstraßen und Highways, das vom südlichsten Zipfel Feuerlands bis hoch ins nördliche Alaska führt. In dem 26.000 Quadratkilometer umfassenden Gebiet gibt es weder Straßen noch Brücken noch Netzempfang. Und auch Menschen siedeln hier nur wenige, einige indigene Gemeinschaften – und kriminelle Gruppierungen. Was es dagegen umso mehr gibt, sind reißende Flüsse, felsige Berge, tropische Flora. Und eine gefährliche Fauna mit Pumas, Kaimanen und Giftschlangen.

Für die meisten Menschen ist der Darién Gap daher ein Ort, den sie nicht freiwillig betreten würden. Für andere ist er die einzige Hoffnung.

Von den Menschen, die an diesem Tag im August auf der Terrasse der Migrant*innen-Herberge beisammensitzen, haben viele den Urwald durchquert, bevor sie es schließlich nach Mexiko-Stadt geschafft haben; für die meisten eine Zwischenstation auf dem Weg in die USA. Als die Nachricht von der Schließung der Fluchtroute die Runde macht, ergreift zunächst die Direktorin der Herberge das Wort: Die Migration wird trotzdem weitergehen, sagt sie und fügt ermutigend hinzu: Egal wie sehr Regierungen versuchen, eure Reise in Richtung Norden zu unterbinden – wir werden hier sein, euch weiter unterstützen! Kurz ist es still. Dann kreisen die Gespräche wie schon so oft um das Thema, das viele in der Herberge verbindet – und sie nicht loszulassen scheint. Um ihre Erfahrungen im Darién Gap.

Menschen im Darien Gap blicken über den Wald Leibniz Magazin

Der kolumbianische Fotograf FEDERICO RIOS ESCOBAR verbrachte 25 Tage im Darién Gap. Seine teils preisgekrönten Bilder erzählen die Geschichte der hunderttausenden Menschen, die den Regenwald auf ihrer Flucht in Richtung Mittelamerika jährlich durchqueren.

Ich selbst bin damals für vier Monate in Mexiko. In zwei Migrant*innen-Herbergen in Mexiko-Stadt und Monterrey im Nordosten des Landes will ich für meine Doktorarbeit herausfinden, inwieweit zivilgesellschaftliche Organisationen einen Einfluss auf die Handlungsfähigkeiten der Immigrant*innen und Geflüchteten vor Ort haben. Als Freiwillige unterstützte ich die Arbeit der Herbergen mehrmals in der Woche. Als Forscherin führe ich dabei teilnehmende Beobachtungen durch – und intensive Gespräche mit den Bewohner*innen.

Migrant*innen-Herbergen sind Zufluchtsorte für geflüchtete Menschen mit wenig finanziellen Ressourcen, die sich auf der Durchreise in Richtung USA oder Kanada befinden oder in Mexiko bleiben wollen. In diesen von zivilgesellschaftlichen Organisationen geleiteten Häusern erhalten sie einen Schlafplatz, Essen und Kleidung, aber auch rechtliche, psychologische und medizinische Unterstützung. Für viele werden die Herbergen zu einem Ort, an dem sie neue Kraft tanken können, voneinander lernen und in Workshops neues Wissen erlangen. Auch ich lerne hier viel dazu. Nicht zuletzt über die erzwungene Migration durch den Darién Gap.

Die Migrationsroute durch den Wald gilt als einer der gefährlichsten weltweit. Immer wieder sterben dort Menschen. Sie werden von Flüssen mitgerissen und ertrinken. Sie stürzen Klippen herunter. Sie werden von giftigen Tieren gebissen oder gestochen. Sie erliegen Wunden und Krankheiten. Sie verdursten.

Alexandra kommt aus Venezuela. Mit zwei weiteren flüchtenden Frauen hat sie sich an diesem Tag im August in eine Ecke der Terrasse zurückgezogen. Als ich mich dazugeselle, berichtet sie gerade: Wir hatten Glück, denn wir mussten nicht unmittelbar mit ansehen, wie Leute umgebracht wurden oder starben. Aber ich sah eine tote Familie in einem Zelt. Und später einen toten Mann. Er sei an einem Herzinfarkt gestorben, sagten sie. Sein Leichnam zeigte schon Verwesungserscheinungen. Jede Nacht hörte ich angsteinflößende Tiergeräusche. Es klang nach Raubkatzen und Affen. Ich betete zu Gott und wollte nur so schnell wie möglich weitergehen.

Yeliza, eine der anderen Frauen, erzählt daraufhin, dass sie zweieinhalb Tage im Darién Gap verbrachte: Ich rate jedem davon ab, diesen Urwald zu durchqueren. Wir wurden von einer bewaffneten Gruppe überfallen. Sie klauten uns Geld und Handys, packten uns Frauen grob und begrapschten uns, wie sie wollten. Einer drohte: Sollten wir weinen, würden sie uns vergewaltigen. Wir konnten nichts tun. Wir wussten ja, dass niemand uns zur Hilfe eilen würde.

Jordan, ein Mann aus Venezuela, sagt mir eines Nachmittags: Jeder Schritt, den die Menschen im Dschungel machen, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schritt an den Rand des Abgrunds.

Von den Menschen in den Herbergen erfahre ich, dass der Darién Gap nicht nur wegen seiner natürlichen Gegebenheiten gefährlich ist, sondern auch aufgrund der kriminellen Gruppen, die hier operieren. Besonders präsent ist der Clan del Golfo, ein kolumbianisches Drogenkartell, das das Gebiet kontrolliert. Das Kartell erhebt Wegzölle, lässt die Flüchtenden nur gegen Schutzgeld passieren. Trotzdem kommt es unterwegs häufig zu Überfällen, sexuellen Misshandlungen, Entführungen und Morden. Die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen erfasste 2021 51, 2022 146 und im Jahr darauf 48 verstorbene oder verschwundene Menschen im Darién Gap. Expert*innen gehen aber davon aus, dass die tatsächliche Zahl höher liegt. Für mich klingt das plausibel. Alleine Jordan erzählt mir in der Herberge von zehn Leichen, die er auf seinem Weg gesehen hat.

Wieso begeben sich Menschen auf eine derart riskante Fluchtroute? Die Antwort ist einfach: Sie sehen sich dazu gezwungen, weil sie keine legale Möglichkeit haben, regulär nach Zentral- oder Nordamerika einzureisen. Betroffen sind zum Beispiel Menschen aus Haiti und Venezuela, die in den USA Asyl beantragen wollen. Denn auch Mexiko, Costa Rica und Belize haben ihre Immigrationspolitiken in den vergangenen Jahren verschärft. Ihre neuen Visabestimmungen erschweren flüchtenden Menschen die Einreise mit dem Flugzeug erheblich. Sie zwingen sie auf gefährliche Routen, wollen sie die US-amerikanische Grenze dennoch erreichen.

Offiziellen Zahlen der panamaischen Behörden zufolge haben 2023 mehr als 520.000 Menschen den Darién Gap durchquert. Ein starker Anstieg: 2022 wurden fürs gesamte Jahr 250.000 Geflüchtete gezählt. 2023 stammen die meisten dieser Menschen aus Venezuela, gefolgt von Ecuador, Haiti, China und Kolumbien. Aber auch Menschen anderer Nationalitäten Lateinamerikas, Asiens und Afrikas durchqueren den Darién Gap. Unter ihnen waren im vergangenen Jahr mehr als 113.000 Kinder und Jugendliche.

Für den Clan del Golfo ist die irreguläre Migration durch den Darién Gap ein gewinnbringendes Geschäft. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass das Kartell durch die Kontrolle der Migrationsroute zwischen Januar und Oktober 2023 um die 57 Millionen Dollar eingenommen hat. In der Herberge erzählt mir Jordan von vier Wegen durch das Urwaldgebiet. Je nach Länge und Schwierigkeitsgrad variieren die Kosten; am unteren Ende der Preisspanne stehen 200 US-Dollar, am oberen können es bis zu 2.000 US-Dollar sein.

Der Weg durch den Wald dauert zwei bis zehn Tage, abhängig davon, welche Route man »bucht«, wie die Wetterlage ist und in welcher körperlichen Verfassung man sich befindet. Jordan, Yeliza und Alexandra aus der Migrant*innen-Herberge mussten unabhängig voneinander zunächst mehrere Stunden lang durch unwegsames Gelände laufen, den letzten Teil der Route legten sie auf kleinen Booten zurück. Alle drei verbrachten mindestens eine unruhige Nacht im Urwald. Jordan war drei Tage im Darién Gap unterwegs. Er sagt: Ich war im Sommer dort. Das Gehen im Schlamm war so schwierig. Es war fast unmöglich, auch nur einen Meter voranzukommen, besonders wenn es bergauf ging. Im Winter, wenn es regnet, muss es noch viel schlimmer sein.

Statt Mauern und immer schärferen Grenzpolitiken braucht es reguläre und sichere Möglichkeiten für Flucht und Migration.

INDI-CAROLINA KRYG

In den Gesprächen wird deutlich, dass die Flüchtenden im Darién Gap die meiste Zeit auf sich gestellt sind. Ohne Führung marschieren sie über die im Laufe der Zeit platt getretenen Wege, die in unregelmäßigen Abständen mit blauen Plastiktüten markiert sind. Vor allem die Solidarität zwischen den Flüchtenden verschiedenster Nationen sichert ihnen das Überleben. So erzählen mir die Frauen in der Casa Tochan, wie sie Essen und Trinkwasser mit anderen teilten. Jordan berichtet, wie er einige Kinder und Frauen mit einem Seil einen Hügel hinaufzog und ihnen über einen Fluss half. Ein Mann aus Haiti berichtet mir, dass er einen Weggefährten zurücklassen musste, der sich das Bein gebrochen hatte; seine Kraft habe nicht mehr ausgereicht, um ihm zu helfen. Während er das Erlebnis schildert, fängt der Mann neben ihm an, sich gegen den Kopf zu schlagen. Es wirkt für mich, als versuche er, die Erinnerungen an den Darién Gap auszulöschen. Schlag für Schlag.

Viele bringen aus dem Darién Gap Traumata mit. Sie werden Zeug*innen von Todesfällen und Opfer von Überfällen, Entführungen und sexuellem Missbrauch, erklärt mir Janett De Jesús, die Psychologin der Casa Tochan. In der Folge entwickeln sie Schlafstörungen, haben Albträume und leiden unter Angst und posttraumatischem Stress. Der Direktorin der Migrant*innen-Herberge Casa Nicolás in Monterrey machen vor allem die Kinder Sorgen. Denn sie werden im frühen Alter mit dem Tod und zahlreichen extrem belastenden Erlebnissen konfrontiert. Diese Erlebnisse müssten psychologisch begleitet und verarbeitet werden, sagt sie.

Die Traumata der Kinder und Jugendlichen kann man in der Casa Nicolás auch sehen. In einem Workshop haben einige ihre Migrationserlebnisse auf Papier gemalt. Die Bilder hat man an die Wände des Speisesaals gehängt, wo ich sie mir einige Tage später angucke. Besonders eine Zeichnung lässt mich nicht mehr los: Ein junger Mann steht mit einer Flagge in der Hand im Wasser, umgeben von Steinen und Bäumen. Zwei Zelte sind ebenfalls zu sehen, eine große Schlange, Fische, ein Geist – und ein menschliches Skelett. Gemalt hat dieses Bild Jonaiker, 16 Jahre alt, geboren in Venezuela.

Als ich mit seiner Erlaubnis ein Foto von der Zeichnung mache, stellt sich ein etwa 12-jähriges Mädchen zu mir und zeigt auf eine zweite Zeichnung. Sie habe das Bild gemalt, sagt sie, und erzählt mir, dass sie im Wald auch Tote gesehen habe. Mir fehlen die Worte. Ich will ihr sagen, wie unfair und furchtbar unsere Welt ist. Doch statt ihr mein Mitleid auszudrücken, entscheide ich mich, mit ihr hinauszugehen, um etwas mit ihr und den anderen Kindern zu spielen. Vielleicht, denke ich, ist es besser, sie für einen Moment abzulenken.

Einige der Menschen, mit denen Indi-Carolina Kryg für ihre Forschung gesprochen hat, haben ihre Flucht durch den Darién Gap mit dem Smartphone dokumentiert. Wir zeigen eine Auswahl ihrer Aufnahmen – und die Zeichnung von Joaniker.

Alle Menschen mit denen ich über ihre Flucht durch den Darién Gap gesprochen habe, erfuhren dort Furchtbares. Doch gerade wegen dieser Erlebnisse wollten sie ihr Ziel nicht aufgeben: die USA. All das Leid, der Schmerz und die Angst sollten nicht umsonst gewesen sein.

Um sich einem US-Grenzübergang nähern und dort endlich Asyl beantragen zu dürfen, braucht es eine Erlaubnis, die man über eine App namens CBP One erhält. So gut wie jeder und jede in den Herbergen hat sie auf dem Smartphone; wartet und wartet und wartet. Jordan, Yeliza und Alexandra haben nach wochenlangen Warten in Mexiko-Stadt schließlich einen dieser heißbegehrten Termine erhalten und befinden sich, während ich von ihnen schreibe, bereits in den USA. Tausende andere warten noch immer.

Als ich ihnen von diesem Text erzählte, gaben mir die drei sofort die Erlaubnis, ihre Erlebnisse darin zu teilen. Es ist ihnen wichtig, dass Menschen in aller Welt von den Geschehnissen im Darién Gap erfahren, ihre Geschichten von der Flucht durch den Urwald lesen.

Statt Mitleid wünschen sich Jordan, Yeliza und Alexandra, dass sich etwas ändert. Sie fordern sichere Migrations- und Fluchtwege auf dem amerikanischen Kontinent. Sie wollen, dass niemand mehr durch gefährliche Urwälder wie den Darién Gap migrieren muss.

Ich kann mich dieser Forderung nur anschließen. Diese lebensgefährliche und doch hundertausendfach genutzte Migrationsroute ist ein Produkt der restriktiven Grenz- und Migrationspolitiken Mexikos und anderer zentralamerikanischer Länder, die unter dem Druck der um Abschottung bemühten USA zustandegekommen sind.

Doch statt Mauern und immer schärferen Grenzpolitiken braucht es reguläre und damit sichere Möglichkeiten für Flucht und Migration. Denn Migration aufhalten, das kann keine Regierung. Menschen in Not werden immer Wege finden, ihr Zielland zu erreichen. Und wenn diese noch so gefährlich sind.

INDI-CAROLINA KRYG
ist Doctoral Researcher am GIGA, dem Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Flucht und Migration in Lateinamerika in Bezug auf zivilgesellschaftliche Organisationen, Grenzregime und weitere Themen.

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