leibniz

Die russische Aggression gegen die Ukraine schürt vielerorts Ängste. Besonders groß ist die Sorge vor einer Ausweitung des Krieges in Polen. Dort wächst die Zahl derer, die Patriotismus mit der Bereitschaft zur militärischen Verteidigung ihres Landes verbinden, sagt BETTINA BRUNS vom Leibniz-Institut für Länderkunde. In einem Forschungsprojekt untersucht die Soziologin derzeit die aktuellen Militarisierungstrends in der polnischen Zivilgesellschaft.

LEIBNIZ Welche Stimmung nehmen Sie aktuell in Polen wahr, Frau Bruns?

BETTINA BRUNS Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat anfangs ein starkes Bedrohungsgefühl ausgelöst. Aus einer Umfrage von vergangenem Juli geht hervor, dass 94 Prozent der Polen Russland als große Gefahr für die Sicherheit ihres Landes ansehen; 2018 lag dieser Wert noch bei 65 Prozent. Mal zum Vergleich: Bei uns sind es aktuell 66 Prozent, die die Außen- und Sicherheitspolitik Russlands als Gefahr für Deutschland einstufen. Es gibt also einen großen Unterschied hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung des Krieges. Inzwischen hat jedoch eine Art Gewöhnungseffekt eingesetzt: Der Krieg im Nachbarland führt nicht mehr zu Hamsterkäufen und dem Abheben großer Bargeldmengen, wie dies zu Beginn des Krieges vor allem in Ostpolen der Fall war.

Polen hat auf das Gefühl der Bedrohung mit einer zunehmenden Militarisierung reagiert. In Ihrem Forschungsprojekt gehen Sie dem Phänomen auf den Grund. Welche Gestalt nimmt die Militarisierung an, und von wem geht die Initiative aus?

Bevölkerung und Regierung sind sich in dieser Frage ziemlich einig: Russland hat imperialistische Bestrebungen, die auch Polen bedrohen können – und wir müssen auf den Ernstfall vorbereitet sein! Der Staat hat ein ganzes Bündel an Maßnahmen geschnürt. Aber es gibt auch viele private und zivilgesellschaftliche Initiativen.

Beginnen wir mit dem Staat.

Zunächst einmal trat im vergangenen April das »Gesetz über die Verteidigung des Vaterlandes« in Kraft. Es ist eine wichtige Grundlage für die polnische Sicherheitspolitik und soll ihre Effizienz und Rechtssicherheit erhöhen. Außerdem soll es ein Anreizsystem schaffen, um neue Militärangehörige zu gewinnen; das übergeordnete Ziel ist dabei die Vergrößerung der Armee von derzeit 164.000 auf 300.000 Soldaten im Jahr 2035. In diesem Zusammenhang ist auch geplant, die Verteidigungsausgaben auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, was dem Doppelten der Nato-Richtlinie entspricht.

Deutschland hat sich die Nato-Richtlinie von zwei Prozent als Ziel gesetzt …

… und eine Vergrößerung der Bundeswehr auf 203.000 Soldaten bis 2025. Bei einer Einwohnerzahl, die doppelt so hoch ist wie die Polens.

Porträt Bettina Bruns
»Man will dort auf den Ernstfall vorbereitet sein.« In einem Forschungsprojekt untersucht die Soziologin Bettina Bruns Militarisierungstrends in Polen. Foto P. WITTMANN/IFL

Gibt es neben dem Gesetz auch praktische Maßnahmen?

Es gibt eine Reihe davon. Ein Beispiel ist ein neuer Freiwilligendienst der Armee, der im Mai ins Leben gerufen wurde. Er dauert ein Jahr lang und besteht aus einer vierwöchigen Grund- sowie einer Spezialausbildung. Der Freiwilligendienst ist vergleichsweise gut bezahlt, und im Anschluss können die Rekrutinnen und Rekruten in die Territorialverteidigung übernommen werden. Sie haben auch im zivilen Leben bessere Chancen, einen Job zu bekommen, etwa in der Verwaltung.

Was ist die Territorialverteidigung?

Ihre Geschichte reicht ein wenig weiter zurück. Polen ist ja bereits seit der Annexion der Krim 2014 alarmiert, eigentlich schon seit dem russischen Einmarsch in Georgien 2008. Als Reaktion auf die Krim-Annexion und den Krieg im Donbass wurde 2017 die Territorialverteidigung ins Leben gerufen, quasi als fünfte Einheit der polnischen Armee. Sie besteht aus Zivilisten, die sich verpflichten, in ihrer Freizeit regelmäßig militärische Übungen durchzuführen. Es handelt sich also nicht um Berufssoldaten, obwohl sie Teil der regulären Armee sind. Im Prinzip eine Art Citizen Soldiers.

Wollen viele Polen Citizen Soldiers werden?

Seit Februar 2022 verzeichnet die Einheit siebenmal so viele Bewerberinnen und Bewerber wie vorher. Auch das zeigt, dass der Angriffskrieg in der Ukraine viel verändert hat in der polnischen Gesellschaft. Insgesamt hat die Territorialverteidigung momentan etwa 36.000 Mitglieder. Darüberhinaus setzt die Regierung auch niedrigschwelligere und weniger verpflichtende Programme auf.

Wie sehen diese aus?

Es gibt zum Beispiel ein eintägiges und kostenloses Programm, das man »Trainiere mit der Armee – militärische Schulungen für jeden« getauft hat. Es beinhaltet Aktivitäten wie Schießtrainings, Survival-Kurse und Erste Hilfe.

Das war eine konkrete Reaktion auf den Ukraine-Krieg?

Ja. Aber bereits 2017 wurde ein Regierungsprogramm ins Leben gerufen, das übersetzt ungefähr »Eine Schießanlage in jeder Gemeinde« heißt. Sein Ziel ist es, der Bevölkerung den Zugang zu diesen Infrastrukturen zu gewährleisten. Die Umsetzung gestaltet sich allerdings schleppend. Darüber hinaus gibt es aber auch Angebote für spezielle Zielgruppen, etwa für Schülerinnen und Schüler.

Viele Eltern möchten, dass ihre Kinder das Schießen lernen.

BETTINA BRUNS

Können Sie ein Beispiel nennen?

Bereits seit 2009 gibt es das Schulfach »Sicherheitserziehung«, das in der 8. Klasse eine Stunde wöchentlich unterrichtet wird und 2017 neu konzipiert wurde. In diesem Fach soll ein Verständnis für staatliche Sicherheit entwickelt werden. Außerdem soll es die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten, in Notfallsituationen richtig zu handeln und ihnen Grundkenntnisse in Erster Hilfe vermitteln. Im laufenden Schuljahr wurde die »Sicherheitserziehung« durch ein Defensivtraining für die 8. und 9. Klassen ergänzt. Hier geht es um militarisierte Inhalte: Auf dem Programm stehen Überlebenstechniken im Krieg, die Versorgung von durch Waffen verursachten Wunden, sowie ein einmaliges Schießtraining für die 9. Klassen. Ähnliche Inhalte hat das Pilotprojekt »Zertifizierte Klassen in Uniform«, an dem mittlerweile mehr als 300 Klassen an über 100 Schulen in ganz Polen teilnehmen.

Da schrillen ja schon ein bisschen die Alarmglocken – Jugendliche an der Waffe. Was sagen denn die Eltern und Lehrer dazu?

Das Defensivtraining wird durchaus kontrovers diskutiert. Es gibt starke Stimmen unter den Pädagoginnen und Pädagogen, die auf die Gefahren hinweisen, die aus einem für alle Schüler verpflichtenden Schießtraining entstehen können. Auch wird ganz grundsätzlich der Sinn eines oberflächlichen Schießtrainings für Jugendliche angezweifelt. Erhöht man dadurch wirklich die Sicherheit Polens? Oder schürt diese obligatorische Beschäftigung mit Waffen nicht eher eine diffuse Angst?

Jugendliche Mitglieder eines Schützenverbands in einem kleinen Raum mit Materialien und Uniformen.
Bei einem Treffen des Schützenverbands »Strzelec«. Die paramilitärische Jugendorganisation wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet – vom ersten Staatspräsidenten Polens.

Ist Ihnen denn noch von anderer Seite her Protest gegen die Militarisierung der Gesellschaft begegnet, etwa von Universitäten oder politischen Parteien und Gruppierungen?

Vereinzelt gibt es sicher Stimmen, die die Maßnahmen in Frage stellen. Aber ich habe bisher keinen größeren organisierten Widerspruch gefunden. Es scheinen sich wirklich alle relativ einig zu sein, dass die vom Staat vorgegebene Pro-Verteidigungshaltung sehr wichtig ist. Und dass es notwendig ist, sie schon in der Schule zu vermitteln.

Sie erwähnten den Plan der Regierung, jeder Gemeinde eine Schießanlage zur Verfügung zu stellen. Wie kann man sich das vorstellen – üben die Leute da einfach drauf los?

Es gibt ein großes Angebot an Kursen, die militärische Kenntnisse vermitteln. Vor allem die Nachfrage nach Schießtrainings ist sprunghaft gestiegen. Der Inhaber einer solchen Firma, ein ehemaliger Soldat, erzählte mir, dass kurz nach Ausbruch des Krieges sein Telefon nicht mehr stillstand. Und als es den Vorfall mit der ukrainischen Raketenabwehr gab, bei dem auf polnischem Gebiet zwei Menschen getötet wurden, ging es erneut los.

Wer genau bietet diese Schulungen an?

Es gibt viele Sicherheitsfirmen, also Unternehmen, die kommerzielle paramilitärische Trainings anbieten. Es gibt aber auch Arbeitgeber, die Kurse für ihre Angestellten organisieren, etwa die Polnische Post oder Energieunternehmen. Ein weiteres interessantes, aber nicht neues Phänomen sind die paramilitärischen Schießverbände. Sechs oder sieben davon gibt es in Polen, und sie haben eine lange Tradition – einige existieren schon seit über 100 Jahren.

Schon aus Gründen der Abschreckung wäre es fahrlässig, nichts zu tun.

Was für ein Angebot machen diese Verbände, und an wen richten sie sich?

Neben Schießtrainings bieten sie vor allem Jugendlichen eine Freizeitgestaltung an: Man trifft sich einmal in der Woche, bekommt Hilfe bei den Hausaufgaben und organisiert gemeinsam humanitäre Hilfe. Die Schießverbände haben sich zum Beispiel sehr für die Geflüchteten aus der Ukraine eingesetzt. Aktuell haben sie großen Zulauf. Viele Eltern möchten, dass ihre Kinder mitmachen und auch das Schießen lernen. Dazu muss man aber auch wissen, dass das Militär in Polen schon traditionell eine sehr hohe Wertschätzung genießt.

Trotzdem scheint es die Auffassung zu geben, dass das Militär es nicht alleine schafft. Auch die Bürger müssen mithelfen, sich wappnen und – schießen lernen.

Dahinter steckt der Kerngedanke der sogenannten Total Defense oder Comprehensive Defense: Man sagt, das Militär allein ist nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen – da muss die gesamte Gesellschaft mitmachen. Jeder und jede sollte in der Lage sein, sich zu verteidigen, und sollte wissen, was zu tun ist, wenn der schlimmste Fall eintritt.

Nehmen Sie eine apokalyptische Stimmung in Polen wahr?

Nein, diese Einstellung gehört einfach zur Normalität in Polen. Sie wird als nötige Vorsorge interpretiert, als gesunder Menschenverstand. Schon aus Gründen der Abschreckung wäre es fahrlässig, nichts zu tun. Si vis pacem para bellumWenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor, diesen auf Platon zurückgehenden Satz hat auch der ehemalige Ministerpräsident und aktuelle Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit PiS Jarosław Kaczyński bemüht. Und mit diesem Narrativ ist er in Polen nicht allein: Russland soll erst gar nicht auf die Idee kommen anzugreifen, weil die Bürgerinnen und Bürger bereitstehen und sich verteidigen werden.

Jugendliche Mitglieder des Schützenverbands »Strzelec« beim Baden in einem See.
Schießübungen und Freizeitprogramm. Nach dem Training baden Mitglieder des Schützenverbands »Strzelec« in einem See im Nordosten Polens.

Gibt es auch in anderen Ländern einen Trend zur Militarisierung oder ist das ein rein polnisches Phänomen?

Auch die baltischen und nordischen Staaten legen einen großen Fokus auf Verteidigung, insbesondere Finnland mit seiner langen Landgrenze zu Russland. Und auch hier gibt es Angebote für die Bürgerinnen und Bürger, sich militärische Fähigkeiten anzueignen.

Und Deutschland – beobachten Sie auch bei uns Anstrengungen, es den polnischen Nachbarn gleichzutun?

Es gibt weniger Menschen, die von sich sagen, ich würde mein Land verteidigen. Die Bundeswehr hat kaum Zulauf. Kurz nach Ausbruch des Krieges gab es einen kleinen Peak, aber bereits im September und Oktober lag die Zahl der Interessenten noch niedriger als im Jahr zuvor, während die Zahl der Kriegsdienstverweigerer 2022 stark angestiegen ist.

Die Bundeswehr genießt Vertrauen. Aber kaum jemand möchte mitmachen.

Liegt das an einer geringen Wertschätzung der Bundeswehr?

Die Wertschätzung ist durchaus hoch. Eine Befragung, die vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Auftrag gegeben wurde, zeigt, dass fast 90 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger der Bundeswehr vertrauen. Aber: Kaum jemand möchte mitmachen. Anscheinend ist die innere Verbundenheit der Menschen mit der Bundeswehr nicht sehr ausgeprägt, das zeigen auch Umfragen.

Wie kommt der Unterschied aus Ihrer Sicht zustande?

Hier spielt der geschichtliche Hintergrund ganz stark mit hinein. Auf der einen Seite haben wir Deutschland mit seiner pazifistischen Nachkriegsordnung, an der man bis vor kurzem weitgehend festgehalten hat. Und auf der anderen Seite Polen, dessen Bevölkerung historisch oft um ihren Staat kämpfen musste. Lange Zeit war das Land ein sowjetischer Satellitenstaat, der keinerlei verteidigungspolitische Entscheidung alleine treffen konnte. Und noch davor hatten Preußen, Österreich-Ungarn und Russland das Land unter sich aufgeteilt – Polen existierte als Staat bis 1918 über 100 Jahre nicht auf der Landkarte. Die territoriale Integrität und Souveränität sind daher etwas, das es aus sich Sicht vieler Polen zu schützen gilt.

Ist es nicht grundsätzlich auch etwas Gutes, dass es bei uns keine Militarisierungstendenzen gibt und die Menschen zurückhaltend reagieren? Oder bewerten Sie den Trend in Polen durchweg positiv?

Nein, beim Gedanken an salutierende Kinder sträubt sich in mir alles. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die symbolische Bedeutung mancher adhoc ins Leben gerufener Maßnahmen nicht höher ist als ihr tatsächlicher verteidigungspolitischer Nutzen. Jedoch denke ich schon, dass Deutschland wehrhafter und verteidigungsfähiger werden muss. Der Moment wird kommen, in dem unsere Gesellschaft sich die über Jahrzehnte angewöhnte Distanz zu allem Militärischen im Allgemeinen und zur Bundeswehr im Besonderen sicherheitspolitisch nicht mehr leisten kann. Was natürlich nicht heißen soll, dass wir demnächst Jugendliche an der Waffe ausbilden.

Schauen wir noch einmal nach Polen. Wo liegt Ihrer Einschätzung nach die Grenze zwischen Patriotismus und Extremismus beim Phänomen der Militarisierung? Und wird sie aus Ihrer Sicht teilweise überschritten?

Nein. Es gibt natürlich rechtsextreme Organisationen in Polen, aber dazu gehören weder die Territorialverteidigung noch die Schießverbände. Das sind tatsächlich pro-staatliche, verteidigungsaffine Organisationen, die auf ihre Art und Weise die polnische Staatlichkeit schützen möchten. Sie verstehen sich am ehesten als apolitische Patrioten. Das sind also keine Extremisten, sondern Personen, die sich im Sinne Polens, für Polen einsetzen. Da ist das Land sicher auch ein bisschen ein Sonderfall.

Vielleicht auch interessant?