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LEIBNIZ Herr Kallinich, ihre kleine Patientin Agnes, über die wir in unserem Text »Meine Tochter, das Rheuma und die Pandemie«  berichtet haben, wurde von einem Facharzt zum nächsten geschickt. Acht Monate lang erkannte keiner, dass sie an Juveniler Idiopathischer Arthritis (JIA) litt, auch bekannt als Kinderrheuma. Ist das typisch?

TILMANN KALLINICH Acht Monate sind schon sehr lang. Laut den gültigen Leitlinien sollte es nicht länger als sechs Wochen dauern, bis eine JIA korrekt diagnostiziert wird. Aber die werden im Moment oft nicht eingehalten. Leider vergehen zwischen den ersten Beschwerden und der Vorstellung bei einer Fachärztin im Schnitt vier Monate.

Woran liegt das?

Zum einen sind auch Kollegen und Kolleginnen häufig überrascht, wenn wir berichten, dass etwa jedes tausendste Kind von einer JIA betroffen ist. Das sind zurzeit etwa 14.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Die Kollegen haben oft nicht vor Augen, dass die Krankheit so häufig auftritt. Sie ist aber auch schwer zu erkennen. Meistens beginnt sie mit leichten, unauffälligen Einschränkungen der Beweglichkeit. Kleine Kinder kompensieren diese oft, in dem sie eine Schonhaltung einnehmen, was Eltern häufig als Folge eines kleinen Unfalls oder einer Überlastung interpretieren. Das kann dazu führen, dass die Kinder erst spät einem Spezialisten überwiesen werden. Außerdem ist die JIA meist eine Ausschlussdiagnose: Wir können sie erst stellen, wenn keine andere Erklärung vorliegt.

Es gibt sieben verschiedene Arten von JIA. In den meisten Fällen entzünden sich Knie-, Sprung- oder Handgelenke, bei anderen Formen sind Augen oder Sehnenansätze betroffen. Welche ist die häufigste?

Gut die Hälfte der Patientinnen und Patienten leidet an einer so genannten oligoartikulären Verlaufsform einer JIA, das ist eine chronische rheumatische Erkrankung von höchstens vier Gelenken, die häufig im Kindergartenalter beginnt und meist Mädchen betrifft. Aber diese Unterteilung ist nicht immer sinnvoll. Wenn sich ein fünftes Gelenk entzündet, ist es immer noch dieselbe Erkrankung, wird dann aber anders benannt. Und beim Erwachsenenrheuma werden die verschiedenen Formen dann wieder anders eingeteilt. Wenn ein Patient volljährig wird, kann es also sein, dass er auf dem Papier plötzlich eine andere Krankheit hat. Es wäre schön, wenn sich die Klassifikationen in der Kinder- und Jugendrheumatologie und der internistischen Rheumatologie annähern würden.

Wir können viel Lebensqualität zurückgeben.

TILLMANN KALLINICH

Was ließe sich dagegen tun, dass JIA oft erst so spät entdeckt wird?

Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich beobachte, wie wenig Wissen über Kinderrheuma in der Bevölkerung verbreitet ist. Ich würde mir wünschen, dass mehr medizinisches Wissen vorhanden wäre. Aber es ist auch wichtig, unter Kolleginnen und Kollegen mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen. Letztlich ist es schließlich ihre Aufgabe, Krankheiten zu erkennen. Wir haben dazu in den vergangenen Jahren verstärkt Öffentlichkeitsarbeit betrieben und wollen diese weiter ausbauen.

Und wenn ein Arzt die Beschwerden des Kindes nicht ernst nimmt?

Dann würde ich Eltern empfehlen, ihr Kind direkt bei einem Spezialisten vorzustellen. Auf der Webseite der Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie gibt es eine Versorgungslandkarte. Jedes Bundesland hat mindestens eine Klinik oder Praxis, die sich auf JIA spezialisiert hat.

Kleines blondes Mädchen spielt auf einem Krankenhausbett
kleines Mädchen lässt ein Spielzeugflugzeug über ein Feld fliegen

Über Tilmann Kallinichs Patientin Agnes und das Leben vor und mit der Diagnose Kinderrheuma berichtet ihr Vater in einer Reportage, die Sie hier lesen können.

Was passiert schlimmstenfalls, wenn eine bestehende JIA nicht diagnostiziert wird?

Wenn eine Gelenkentzündung nicht erkannt oder nicht richtig behandelt wird, kann sie zu einem asymmetrischen Wachstum der Knochen führen. Wenn sie chronisch wird, kann sie langfristig sogar Knorpel und Knochen zerstören. Die oligoartikuläre JIA führt zudem oft zu einer Entzündung am Auge. Wenn so eine Uveitis nicht erkannt wird, kann das die Sehkraft bleibend einschränken. Bei der sogenannten systemischen Arthritis entzünden sich neben den Gelenken auch die inneren Organe. Das kann schlimmstenfalls zu einem multiplen Organversagen führen, und bis in die 1980er Jahre verlief diese Form in mehr als zehn Prozent der Fälle tödlich. Seither haben sich Diagnostik, Versorgungstrukturen und therapeutische Optionen aber stark verbessert. Ich habe so einen Fall zum Glück in meiner gesamten Laufbahn noch nicht gesehen.

Müssen JIA-Patientinnen und -patienten ein Leben lang Medikamente nehmen?

Das kommt auf die Form der JIA an. Bei der Oligoarthritis mit weniger als fünf betroffenen Gelenken sind drei Viertel der Kinder und Jugendlichen irgendwann symptomfrei und brauchen keine Medikamente mehr. Bei der Form, die auch die Sehnenansätze betrifft, sind es dagegen weniger als zehn Prozent. Aber natürlich können wir die Symptome lindern. Außerdem sind die Zahlen nicht mehr aktuell. Wir warten noch auf eine neue Statistik, gehen aber davon aus, dass wir inzwischen besser geworden sind, was eine Beschwerdefreiheit ohne Medikamente angeht.

Wie sind Sie als Kinderarzt darauf gekommen, sich einer so relativ seltenen Krankheit zu widmen?

Ich habe kurz nach dem Studium in einer Forschungsgruppe mitgearbeitet, die das Familiäre Mittelmeerfieber untersucht hat, eine erbliche Erkrankung, die mit starken Bauchschmerzen und Entzündungen einhergeht. Das war ein sehr spannendes Forschungsprojekt, bei dem wir viel darüber gelernt haben, wie ein gesunder Organismus Infektionen abwehrt. Seitdem faszinieren mich Erkrankungen des Immunsystems. Heute, als Kinderrheumatologe, kann ich meine Patienten und Patientinnen über Jahre hinweg begleiten und ihnen so viel Lebensqualität zurückgeben. So etwas ist dann auch für mich ein sehr befriedigendes Gefühl.

Tillmann Kallinich Kinderrheuma Leibniz Magazin

Gibt es Kinder, denen sie nicht helfen können?

Es gibt Kinder, die wir nicht heilen können. Aber auch ihnen können wir helfen, indem wir mit Medikamenten die Symptome lindern. Fälle, in denen wir gar nicht weiterkommen, besprechen wir alle zwei bis drei Monate mit Kollegen aus anderen Kliniken, auch aus anderen Ländern. Das führt nicht immer dazu, dass wir das Problem lösen können. Aber wir wissen dann zumindest, dass wir alles versucht haben. Als Arzt bleibt mir in einem solchen Fall nichts anderes übrig, als eine gewisse Professionalität zu entwickeln. Aber wenn ich es trotz aller Bemühungen nicht schaffe, einem Patienten zu helfen, dann berührt mich das natürlich.

Solche Fälle sind die Ausnahme?

Ja! Umso schöner ist es, wenn es in schweren Fällen gelingt, nach langer Therapie die Symptome eines Patienten zu verringern. Bei uns wurde einmal ein anderthalbjähriges Mädchen vorgestellt, das an systemischer Arthritis litt, also an der Form von JIA, die zu den schwersten Verläufen führt. Sie musste über viele Jahre hinweg Medikamente nehmen, darunter zeitweise eine fünffache Kombination aus Immunsuppressiva, Antikörpern und anderen Wirkstoffen. Heute ist sie 23 Jahre alt und zeigt dank zweier Medikamente, die sie regelmäßig einnimmt, kaum noch Symptome.

Wie kann die Therapie der JIA weiter verbessert werden?

Wir sind an den Universitätskliniken leider unterrepräsentiert. Viele andere Disziplinen der Kinderheilkunde sind an allen Universitäten vertreten, aber für Kinderrheumatologie gibt es in Deutschland keine zehn Professuren; die JIA wird dann oft in anderen Fachdisziplinen mitbetreut. Ich würde mir wünschen, dass mehr akademische Zentren geschaffen werden, die gezielt Kinderrheuma behandeln und erforschen.

Für Kinderrheumatologie gibt es in Deutschland keine zehn Professuren.

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