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Es ist Freitagnachmittag, Donya Gilan steuert ihr Auto durch die Straßen von Mainz. Eine ganze Arbeitswoche im Leibniz-Institut für Resilienzforschung liegt hinter ihr, nun folgt ein Fotoshooting im Gonsenheimer Wald. Zwischen roten Ampeln und spurwechselnden Dränglern beantwortet sie Interviewfragen zu ihrem Lieblingsthema: psychische Widerstandskraft. Ein schneller Blick auf die Uhr: zu spät, der Fotograf wartet bereits. Donya Gilan drückt aufs Gas. Doch dann blockiert eine Baustelle die komplette Straße. Gilan legt die Stirn in Falten. Einatmen, ausatmen, weiter geht‘s.

Donya Gilan ist Resilienzforscherin – oder, wie sie es lieber nennt: Resilienzbotschafterin. Am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz hat sie bis vor Kurzem den Bereich »Resilienz und Gesellschaft« geleitet und verantwortet nun die Wissenschaftskommunikation des Instituts. Gilan interessiert, wie Menschen mit kleinen und großen Stressoren umgehen – mit Zeitdruck im Job, einer Krebserkrankung oder der Corona-Pandemie. Gemeinsam mit knapp 90 Kolleginnen und Kollegen, darunter Neurobiologen, Psychologinnen, Mediziner und Physikerinnen, geht sie interdisziplinären Fragestellungen nach: Was tun gegen Stress im akademischen Arbeitsumfeld? Welche Auswirkungen haben Lärm und Luftverschmutzung auf die psychische Gesundheit? Und wie gehen Gesellschaften mit großen Krisen wie der Corona-Pandemie um?

Genauso wichtig wie die Forschung ist Donya Gilan, ihre Erkenntnisse in die Gesellschaft zu tragen: Sie hält Vorträge für Polizistinnen und Polizisten, berät Landesministerien bei der Gesundheitsförderung und leitet Resilienz-Workshops für medizinisches Personal. Sie will nicht nur Angebote für gutbezahlte Manager und Beamtinnen machen, sondern vor allem vulnerable Gruppen erreichen: Geflüchtete, Alleinerziehende, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Diese Gruppen möchte sie dabei unterstützen, einen gesunden Umgang mit Stress zu erlernen und stabil durch Krisenzeiten zu kommen. Auch in der Gesundheitsprävention muss es mehr Chancengleichheit geben.

Donya Gilan im Wald

Die Straße schraubt sich eine kleine Anhöhe hinauf, Donya Gilan steuert den Wanderparkplatz an. Autotür auf, Waldluft hinein. Die Forscherin hält ihr Gesicht Richtung Baumkronen. Im Wald brauche ich nie lange, um runterzukommen, sagt sie. In der Corona-Pandemie hat sie es sich zur Angewohnheit gemacht, regelmäßig den Gonsenheimer Wald zu besuchen. Nach der Arbeit fuhr sie hierher und suchte die Begegnung mit der Natur in einer Zeit, in der Begegnungen mit Menschen nicht so leicht möglich waren.

Es ist Herbst, der Wald riecht nach Moos, feuchten Blättern und herben Holznoten. Donya Gilan schlendert über den sandigen Boden, vorbei an Kiefern und Eichen. Die entspannende Wirkung des Waldes bestätige auch die Resilienzforschung: Waldspaziergänge senken nachweislich den Cortisolspiegel im Körper, sagt sie. Endorphine und das Glückshormon Serotonin werden ausgeschüttet. Längere Spaziergänge im Wald helfen, negative, grüblerische Gedanken loszulassen. Eine Studie des Stressforschers Mazda Adli habe sogar gezeigt, dass die Stressregulation im Gehirn davon abhängt, wieviel Grünfläche um das eigene Zuhause herum existiert. Gilan fasst zusammen: Je mehr Grün, desto größer die Stressresilienz.

Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die Eigenschaft hochelastischer Werkstoffe, nach einer Druckeinwirkung wieder die ursprüngliche Form anzunehmen. In der Psychologie verstehen wir darunter die Fähigkeit, trotz einer Krisensituation die psychische Widerstandsfähigkeit aufrechtzuerhalten oder zurückzugewinnen, erklärt Gilan. Erstrebenswert sei nicht der Zustand vor der Krise, sondern eine Weiterentwicklung. Für mich bedeutet Resilienz Flexibilität: Flexibilität im Denken, in der Regulation von Emotionen und im Finden von Lösungsmöglichkeiten.

Donya Gilam im Wald - Leibniz Magazin

Donya Gilans eigenes Leben ist von Veränderungen geprägt, von Anfang an. Sie wird 1982 in der iranischen Hauptstadt Teheran geboren, 1986 emigriert sie mit ihren Eltern nach Deutschland. In Mainz lernt sie Deutsch, geht zur Schule, macht Abitur. Die Eltern – der Vater Mediziner, die Mutter Gründerin einer integrationsfördernden Bildungseinrichtung – erziehen Donya weltoffen und freiheitlich. Im Ethikunterricht kommt sie mit den Philosophen und Sozialforschern der Frankfurter Schule und den Ideen der Psychoanalyse in Berührung. Unser damaliger Lehrer hat das Feuer für die Psychologie in mir entfacht.

Donya Gilan studiert Psychologie in Frankfurt. In ihrer Dissertation befasst sie sich damit, wie Menschen mit Migrationsgeschichte Emotionen ausdrücken – auch bedingt durch ihre eigene Biografie. Nach der Promotion entwickelt sie Programme zur Arbeitsmarktintegration von sozial benachteiligten Menschen: abgehängten Jugendlichen, Menschen mit Migrationserfahrung, Langzeitarbeitslosen. Später macht sie die Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin und arbeitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz. Dort entwickelt sie 2015 mit einer Kollegin und einem Kollegen eine transkulturelle Ambulanz, eine psychiatrische Anlaufstelle für belastete Menschen mit Fluchterfahrung und Migrationshintergrund. Bis heute berät Gilan dort Patienten, auch in ihrer Muttersprache Farsi. Durch meinen eigenen Migrationshintergrund kann ich mich besonders gut in sie hineindenken.

Resilienz ist ein dynamischer Prozess

DONYA GILAN

Migration bleibt auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit im Leibniz-Institut für Resilienzforschung ein wichtiges Thema. Das Verlassen der Heimat und das Ankommen in einem neuen Land sind kritische Lebensereignisse, die nicht jeder gut verarbeitet. Gerade unter Geflüchteten seien Angststörungen verbreitet, viele haben Traumatisches erlebt. Aber auch ohne Fluchterfahrung könne das Ankommen in einer neuen Gesellschaft – mit all den bürokratischen, sprachlichen und sozialen Herausforderungen – Ängste und Sorgen auslösen, die eine Depression oder Angsterkrankung begünstigen. Resilienztrainings seien daher für Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchtete besonders wichtig.

Doch wie erforscht man überhaupt, wie resilient jemand ist – und ob Resilienztrainings eine Wirkung entfalten? An einer Lichtung im Wald, das Herbstlicht blinzelt vorsichtig durch die Bäume, holt Donya Gilan weit aus: Resilienz ist ein dynamischer Prozess, sagt sie und zupft sich ein Blatt aus den Haaren. Statt nur einmalig Fragebögen auszuteilen oder Gespräche zu führen, müsse man Menschen über einen längeren Zeitraum beobachten. Deshalb werden in der Resilienzforschung Längsschnittstudien durchgeführt: Die Testpersonen werden in regelmäßigen Abständen bestimmten Stressoren ausgesetzt, ihre Reaktionen untersucht. Verändern sich die neuronale Aktivität, die körperlichen Reaktionen, der Hormonhaushalt? So kann man einerseits verschiedene Menschen miteinander vergleichen, die einem ähnlichen Stressor ausgesetzt werden – und sieht andererseits, ob sich die psychische Gesundheit einzelner Menschen langfristig verbessert. Künstliche Stressoren dürfen in Experimenten gewisse ethische Grenzen nicht überschreiten: Die Teilnehmenden werden nicht zu stark erschüttert oder gar traumatisiert, sondern müssen zum Beispiel schwierige Aufgaben lösen, während sie durch laute Geräusche gestört werden.

Donya Gilan im Wald - Nahaufnahme vom Gesicht - Leibniz Magazin

Im Wald ist es an diesem Freitag ruhig, nur ein einsamer Mountainbiker kreuzt den Weg. Ansonsten leise knackende Äste, raschelnde Blätter, sanfter Wind. Der Kopf ist frei zum Nachdenken über große Themen: In den letzten Monaten interessierte sich Donya Gilan nicht nur für den Umgang mit individuellem Stress, sondern auch für die Resilienz von Kollektiven. Wie können Gesellschaften robust durch Krisen wie die Corona-Pandemie manövrieren? Wie gut ist ein Sozialsystem in der Lage, Schocks und Stressfaktoren zu absorbieren – ohne gleichzeitig wichtige Aufgaben zu vernachlässigen? Die kollektive Resilienz ist ein lückenhaftes, junges und noch wenig erforschtes Konzept, erklärt Gilan. Doch es zeige sich bereits, dass es sich positiv auf die kollektive Resilienz auswirkt, wenn Individuen gestärkt werden. Darüber hinaus werde die Zivilgesellschaft resilienter, wenn Menschen die Möglichkeit bekommen zu partizipieren, sich zu solidarisieren und zusammenzuschließen.

Darin sieht Gilan auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Iran und Deutschland. Der Iran sei eine kollektivistische Gesellschaft, in der viele Menschen ihre individuelle Entfaltung zurückstellen, weil ihnen das Gruppengefüge wichtiger ist. Deutschland sei dagegen individualistisch geprägt. In Krisenzeiten können beide Extreme problematisch sein: Wer andere Menschen über die eigene Lebensführung bestimmen lässt, riskiert seine psychische Gesundheit, sagt Gilan. Umgekehrt ist der Stellenwert der Selbstfürsorge in Deutschland so groß, dass mitunter das Kollektiv leidet.

Der kleine Spaziergang neigt sich dem Ende zu, das geparkte Auto ist schon in Sichtweite. Donya Gilan atmet noch ein letztes Mal die frische Waldluft ein. Solche Kraftmomente sollte man regelmäßig in den Alltag einbauen, rät sie. Ist man nicht permanent in Kontakt mit Stress, kann man sich auch wieder besser regenerieren. Für Donya Gilan geht es nun zurück ins Büro in der Innenstadt: ein weiteres Interview, Arbeit am Computer, Vorbereitung für einen Vortrag im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in der kommenden Woche. Den Wald lässt sie hinter sich – bis zum nächsten Mal.

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