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Im Epilog verkehren wir den Schwerpunkt »Gedächtnis« in sein Gegenteil. Weitere Folgen finden Sie über das Schlagwort »Epilog« am Ende dieses Artikels.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Trennung? An den Schmerz und möglicherweise das Gefühl, ihn nie hinter sich lassen zu können? Heute schmunzeln Sie vielleicht, wenn Sie zurückdenken. Die Erinnerung ist noch da, aber sie tut nicht mehr weh.

Wir sagen, die Zeit heilt alle Wunden. Und das ist zugegebenermaßen eine beruhigende Vorstellung. Dahinter steckt die Idee, dass wir Menschen einen Umgang mit schwierigen Lebensereignissen finden, wenn Tage, Monate oder Jahre verstreichen. Irgendwann, so die Hoffnung, ist der Schmerz verflogen, vergessen sozusagen.

Aber diese Vorstellung ist falsch. Dass sich Ihr Hals heute nicht mehr zuschnürt, wenn Sie an ein leidvolles Ereignis zurückdenken, liegt nicht primär an der Zeit, die verstrichen ist, sondern an anderen Erfahrungen, die Sie in der Zwischenzeit gemacht haben.

Unser menschliches Gehirn filtert alles, was um uns herum passiert. Den Großteil nehmen wir gar nicht bewusst wahr, der Rest landet erstmal im Kurzzeitgedächtnis: Gesichter, die wir beim Überqueren einer Ampel sehen, sind auf der anderen Straßenseite schon wieder vergessen. Langweilige Nachrichtenmeldung? Nie gehört! In das Langzeitgedächtnis schaffen es nur Reize, die wir entweder oft wiederholen, wie Vokabeln. Oder Reize, die uns emotional bewegen, die eine hohe emotionale Prävalenz haben.

Dann setzen sich diese Ereignisse in unserem Gehirn fest, sie bilden neue Verbindungen zwischen Nervenzellen und wir sind unserer Erinnerung zunächst einmal recht machtlos ausgeliefert. Grundsätzlich gilt: Je höher die emotionale Prävalenz, desto stabiler ist die Erinnerung. Das bedeutet leider auch: Je schmerzhafter ein Ereignis, also auch der Wunsch nach Heilung, ist, desto intensiver und präsenter bleibt die Erinnerung.

Es gibt natürlich Ausnahmen: Ereignisse können traumatisch sein. Sie sind so schwer begreifbar und so schmerzhaft, dass unser Gehirn entscheidet, das Erlebte aus der uns zugänglichen Erinnerung zu verbannen. Dieser Prozess nennt sich in der Psychologie Verdrängung und ist eine hoch funktionale Schutzreaktion bei akuter Überforderung. Betroffene leiden häufig an post-traumatischen Belastungsstörungen, denn das Problem ist auch hier: Das Ereignis ist weiterhin im Langzeitgedächtnis vorhanden und kann, ausgelöst durch bestimmte Situationen, zurück in unser Bewusstsein gelangen und zu einer starken emotionalen Reaktion führen.

Der Heilungsprozess funktioniert sowohl bei schweren traumatischen Erlebnissen als auch bei emotional bewegenden Ereignissen über aktive Arbeit, über eine Neuordnung der Verbindungen zwischen Nervenzellen, ein Prozess, der in der Wissenschaft »aktives Vergessen« genannt wird.

Wenn Sie beim Gedanken an Ihre erste Trennung tatsächlich schmunzeln, dann haben Sie vermutlich aktiv vergessen: Vielleicht haben Sie weitere schmerzhafte Abschiede erlebt, aber auch gelernt, wie es sich anfühlt, mit einem Verlust umzugehen oder gar, dass ein Abschied auch guttun kann. Sie können aus einer bunten Mischung aus ähnlichen Erlebnissen wählen, mit der die alten Erlebnisse umgedeutet werden können. Wir Forschende nennen das Extinktionslernen: Erlebtes wird in einen neuen Kontext gesetzt und anhand von Gelerntem neu bewertet. Die Antwort auf die Eingangsfrage ist also, wie so oft in der Wissenschaft, ein eindeutiges »Ja, aber«: Vergessen kann heilen, aber dafür müssen wir auch etwas tun.

ALBRECHT STROH ist Biophysiker und Biologe am Leibniz-Institut für Resilienzforschung und Professor am Institut für Pathophysiologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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