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Jutta Allmendinger öffnet die Tür zu ihrem Büro im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Vor ein paar Stunden hat sie an dem Berliner Leibniz-Institut noch mit Redakteuren der ZEIT zusammengesessen, sie gehört dem Herausgeberrat der Wochenzeitung an. Später am Abend will sie zu einem Termin ins Naturkundemuseum Berlin. Wie oft an ihren Arbeitstagen ist sie viel in Bewegung. Während der Autor das Aufnahmegerät vorbereitet, freut sich Jutta Allmendinger, ihren Pressesprecher zu sehen, der gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt ist.

LEIBNIZ Frau Allmendinger, was ist Ihr Lieblingsfortbewegungsmittel?

JUTTA ALLMENDINGER Meine Beine.

Nur die Beine?

Na ja – zunächst die Beine. Dann die Arme, ich schwimme gern.

Und wenn es ein Hilfsmittel sein muss, also irgendetwas, das nicht seit Ihrer Geburt zu Ihrem Körper gehört?

Lange war es ein Skateboard. Jetzt ist es der Zug.

Kein Auto oder E-Auto?

Ich habe privat gar kein Auto, schon seit 20 Jahren nicht mehr. Für die Arbeit benutze ich einen Dienstwagen, für Strecken außerhalb Berlins meistens den Zug. 

Ein typisch deutscher Fall: Wir fordern eine Bewegungsänderung und sind dann doch nicht vorbereitet.

JUTTA ALLMENDINGER

Das Gespräch mit Jutta Allmendinger führten wir vor dem Beginn der Corona-Krise. Hier schreibt ihr Mitarbeiter Jan Wetzel, was man aus der Vermächtnisstudie für die Pandemie lernen kann.

Vielleicht erleben wir gerade eine Zeitenwende oder gar eine Art Bewegungsrevolution in der Mobilität. Selbst deutsche Autobauer produzieren inzwischen serienmäßig E-Autos. Und die Bundesregierung hat beschlossen, die Bahn auszubauen.

Ja, der neue Dienstwagen ist ein E-Auto. Vom Ausbau der Bahn merkt man dagegen nichts. Im Gegenteil. Ich muss leider zu oft Flüge buchen.

Warum das?

Die Züge sind immer häufiger überfüllt, damit geht die Flexibilität verloren. Mehr noch: Massive Verspätungen führen oft dazu, dass ich Termine und Anschlusstermine nicht wahrnehmen kann. Ein typisch deutscher Fall: Wir fordern eine Bewegungsänderung und sind dann doch nicht vorbereitet. Und das, obgleich der Kurswechsel sehr spät kommt.

Was meinen Sie?

Man hätte den Schienenverkehr viel früher ausbauen müssen. Wir haben die Klimaschutzabkommen schon vor langer Zeit unterschrieben, es aber unterlassen, massiv in die Bahn zu investieren. Auch die Forderung, die Mehrwertsteuer für Bahnreisen zu senken, gibt es schon seit langem.

Klingt wenig begeistert.

Ich bin eigentlich gutmütig und sicher kein Mensch, der alles schlechtredet, aber in letzter Zeit bin ich immer wieder an meine Toleranzgrenze gestoßen. Ein Beispiel: Ich hatte einen Termin in Mannheim, er endete um 19.30 Uhr. Doch nach 18.30 Uhr fährt kein direkter Zug mehr zurück nach Berlin. Ich musste also in Erfurt umsteigen, völlig ok. Dann aber kam der Zug leicht verspätet in Erfurt an, trotz entsprechender Ankündigung wartete der Anschlusszug nicht, und so stand ich knappe zwei Stunden auf dem Bahnsteig, inmitten der kalten Nacht. Ich unterstütze das Vorhaben der Politik, mehr Verkehr vom Flugzeug auf die Bahn zu lenken. Diesen Prozess muss man aber auch steuern, damit nicht 150 Leute auf einen Zug warten müssen, der schon gut besetzt auch nur drei Waggons hat. Die Fahrgäste müssen dann auf dem Boden sitzen. Ich kam erst am frühen Morgen in Berlin an; was dazu führte, dass ich am Tag danach geflogen bin, von Berlin nach Frankfurt.

Nein!

Doch, ich bin innerhalb Deutschlands geflogen.

Ein kleiner Skandal!

Das können Sie gerne so schreiben. Ich fliege wirklich nicht gern, auch weil es eine Zeitvernichtungsmaschine ist. Ich kann weder am Flughafen noch im Flieger richtig arbeiten.

Aber manchmal ist die Reise mit dem Flieger schneller.

Sicher. Aber fünf Stunden im Zug ein Buch lesen zu können oder Anfragen zu beantworten, ist immer noch produktiver als nur drei Stunden unterwegs zu sein und letztlich gerade zwei Stunden Lese- und Arbeitszeit zu haben. Doch zurück zur Bewegung. Die Flughafenbetreiber scheinen jetzt schneller zu werden. Beim Sicherheitscheck in Frankfurt fragt nicht mehr ein Flughafenangestellter einen Passagier, ob er noch den Gürtel trägt oder einen Laptop dabeihat. Nein, jetzt fragt ein einziger Angestellter drei Menschen, die nebeneinander stehen, hinter ihnen jeweils zwei weitere Dreier-Gruppen. Das Boarding erfolgt nun nach Gruppen. Alles geht flotter.

In der Ökonomie bedeutet Effizienz etwas Gutes.

Aber auch hier gilt: Weitsicht und Vorsorge sind noch besser. Angemessen, ja zwingend angesagt, wäre es doch, den Angestellten die Angst zu nehmen, demnächst abgeschafft zu werden. Angst, die zu Lähmung statt Bewegung führt.

Jutta Allmendinger in einem Treppenhaus mit verziertem Geländer.
Ein Treppenhaus mit verziertem Geländer.

Sie sind nicht vollends zufrieden mit dem Tempo des Wandels in Deutschland?

Richtig. Wir sind zu reaktiv aufgestellt, müssen zur Bewegung gezwungen werden. Die klimapolitischen Ziele kennen wir seit langem, Deutschland hat das Pariser Abkommen mit unterzeichnet. Handeln wir entsprechend? Steuern wir entsprechend zügig um?

Und?

Ich finde nicht. Auch die Folgen von Digitalisierung und Effizienzgewinnen kennen wir seit langem. Wir wälzen uns dann in Horrorszenarien des Endes von Erwerbsarbeit, anstatt auf die Tätigkeitsbereiche vorzubereiten, die es auch in Zukunft noch geben wird. Denken Sie an die Pflegearbeit, die in einer viel älter werdenden Gesellschaft nötig ist. Denken Sie an die Bildung für die vielen Menschen, die in den kommenden Jahrzehnten nach Deutschland kommen werden. Das Nachsehen haben die Beschäftigten. Es gibt beispielsweise keine Digitalisierungsexperten, die etwa mit Flughafenmitarbeitern sprechen und sagen: So, jetzt fertigen Sie noch ein halbes Jahr Passagiere wie am Fließband ab, dann ist Schluss. Dafür können Sie dann aber in diesen oder jenen Tätigkeitsbereich gehen, am besten Sie machen dafür jetzt diese oder jene neue Ausbildung.

Der Wandel in eine Gesellschaft der Zukunft, in der man beweglicher und schneller sein muss, ist Ihnen nicht sozial genug?

Der Wandel gestaltet sich nicht sozial – er muss deshalb rechtzeitig vorbereitet werden.

Wir leben aber doch immer noch in einer sozialen Marktwirtschaft. Die Arbeitslosenzahlen waren lange nicht so gering wie heute.

Das ist ein Schnappschuss, von dem sich die Menschen nicht täuschen lassen. Sie merken, dass sich viel bewegt. Und sie sehen, dass Erwerbstätigkeit noch lange nicht heißt, dass man von der Arbeit auch leben kann. Immer mehr Menschen arbeiten im Niedriglohnbereich, haben mehr als einen Job, sind von staatlichen Subventionen abhängig. Die Ungleichheit unter den Erwerbstätigen ist gestiegen.

Dabei sollen die Deutschen ziemlich gelassen und cool sein. Das ist zumindest ein Ergebnis der großen Vermächtnisstudie, die Sie durchgeführt haben. Sie selbst wirken gerade jedoch nicht gelassen mit Blick auf die Zukunft.

Richtig. Mich ärgert, dass die Politik wichtige Weichenstellungen verschlafen hat. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, dass die Bundesregierung beim Thema Klimawandel noch nicht gut genug gearbeitet hat.

DIE VERMÄCHTNISSTUDIE

Sie wird auch als gesellschaftlicher Seismograf bezeichnet. Für die Vermächtnisstudie haben die Interviewer von Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, infas Institut und der Wochenzeitung Die Zeit in ausführlichen Einzelgesprächen rund 2.700 Menschen den Puls gefühlt. Wie arbeiten, wohnen, kommunizieren und lieben die Deutschen? Wie wichtig sind ihnen Gesundheit und Besitz? Die Ergebnisse, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden, sind vielschichtig: So sind die Befragten zwar zufrieden mit ihrer Situation und blicken gelassen in ihre Zukunft – für die Gesellschaft als Ganzes jedoch fürchten sie einen Wertewandel. „Die Menschen in Deutschland nehmen Veränderungen sehr genau wahr, verneinen aber, dass sie selbst davon erfasst werden“, sagt WZB-Direktorin Jutta Allmendinger. Die Politik müsse aktiv werden, um gesellschaftlicher Spaltung entgegenzuwirken.

Glauben Sie eigentlich, die Welt ist heute besser oder schlechter als vor 30 Jahren?

Natürlich geht es den Menschen besser als vor 30 Jahren. Der Wohlstand ist gestiegen. Die Lebenserwartung in guter Gesundheit auch. Die Kindersterblichkeit ist weiter deutlich zurückgegangen. Die Möglichkeiten und Freiheiten, die die Leute heute haben, sind ebenfalls vielfältiger.

Wie kommt es, dass sich trotzdem einige Menschen nicht besser fühlen? Medienwissenschaftler sagen, wir leben in einer Erregungsdemokratie.

Eine Erregungsdemokratie hat auch etwas Positives. Sie zeigt Partizipation. Viele Menschen sind nicht abgestumpft und lassen nicht alles mit sich machen. Andere, besonders jene mit niedriger Bildung, ziehen sich dagegen ganz zurück. Und das Misstrauen zwischen den Menschen steigt. Sie stellen einander die Vertrauensfrage, meinen, nicht mehr an einem Strang zu ziehen, gleiche Werte und Normen zu teilen. Das zeigen mein Kollege Jan Wetzel und ich in unserem neuen Buch anhand der Daten der Vermächtnisstudie.

Ich komme gerade aus der mecklenburgischen Schweiz. Dort auf dem Land sagten mir Leute, es sei ihnen vieles zu viel, gehe zu schnell. Kann es sein, dass diese Menschen die vielen neuen Möglichkeiten gar nicht wahrnehmen können oder wollen? Vielleicht weil sie nicht so beweglich sind, wie es die Zeit erfordert?

Es gibt eine aktuelle Studie aus dem WZB, die zeigt, dass dort, wo Sie gerade herkommen, Strukturen entstanden sind, in denen Menschen sich zurückgelassen fühlen. Stichworte: Alterung der Gesellschaft, Männerüberschuss. Frauen mit besserem Bildungsstand sind eher abgewandert als Männer. Es geht um jene, die sich nicht in urbane Zentren bewegt haben, die nicht so beweglich sind oder sein konnten wie andere.

Wie beweglich muss ein Mensch im Jahr 2020 denn sein?

Im 21. Jahrhundert müssen Menschen vor allem mental beweglich sein, das heißt: Sie müssen prinzipiell offen für Veränderungen sein. Dazu gehört der digitale Wandel oder eine veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung, sei es aufgrund von Zuwanderung oder Alterung.

Je gebildeter ein Mensch ist, desto beweglicher ist er mental – stimmt diese Annahme?

Ja. Und zwar in jeder Hinsicht, wie uns die Ergebnisse der Vermächtnisstudie zeigen. Menschen, die gut gebildet sind, haben ein wesentlich größeres Vertrauen in andere Menschen und kommen eher ins Gespräch als jene mit geringer Bildung. Sie sind eher in der Lage, Stereotypisierungen abzubauen und etwa technologische Veränderungen positiv zu bewerten. Bildungsarme Personen werden dagegen doppelt ausgeschlossen. Sie haben kein großes Interesse, andere kennenzulernen, und andere Personen haben wenig Interesse, sie kennenzulernen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und schließen sich aus. Bisher galt: je mehr Bildung, desto besser der Job, desto besser das Einkommen, desto besser der soziale Status. Aber Bildung wird auch wichtiger, wenn es um Offenheit geht.

Darf ich mir einen Keks nehmen?

Sie können gerne alle essen. Auch das Kauen ist schließlich Bewegung. Und ich kann währenddessen weitersprechen.

Vielen Dank, dass Sie so beweglich sind. Sollte Bildung eigentlich am besten lebenslang kostenfrei für alle Bürger sein – in der Uni, in der Schule und im Kindergarten?

Ja, aber das würde noch nicht reichen. Ich hätte gerne eine Diskussion um ein bedingtes Grundeinkommen, ein freiwilliges soziales Jahr, zweite und dritte Ausbildungsphasen, um Sabbaticals.

Ein freiwilliges soziales Jahr im Alter von 45 Jahren und dafür Geld bekommen?

Absolut.

Was wäre, wenn alle Universitäten immer kostenfrei wären? Egal wie alt die Studenten sind und egal, wie viele Ausbildungs- oder Studienabschlüsse sie schon haben.

Das wäre sehr gut und ich fordere es schon lange.

Wenn dann auf einmal ganz viele Fünfzigjährige zur Uni kommen, müsste das auch bezahlt werden.

Ich fände das hervorragend. Denn dann würden wir Bildung endlich anders sehen: Im Moment spricht niemand wirklich positiv über eine zweite, dritte Ausbildung. Ein ordentlicher und normaler Lebensverlauf bedeutet noch immer: Bildung und Ausbildung zu Beginn des Lebens, dann 45 Jahre Erwerbsarbeit, um die vollen Rentenpunkte zu bekommen, dann Erholung von der Arbeit. Unser Sozialstaat, unsere Altersnormen, alles ist nach diesem Modell, auf diese Unbeweglichkeit hin ausgerichtet.

Frauen waren schon immer beweglicher als Männer.

JUTTA ALLMENDINGER

Jutta Allmendinger steht vor einer dunklen Holzvertäfelung.

Sie haben einen erwachsenen Sohn. Würde er heute zur Schule gehen, was würden Sie ihm sagen: Wie viele Berufe sollte er in seinem Leben erlernen?

Ich würde meinem Sohn niemals sagen, was er tun soll. Ich würde ihm aber raten, eine grundlegende Offenheit zu behalten. Gerade an seinem sehr privilegierten Beispiel sehe ich, was aktiv getan werden kann. In seinem Medizinstudium musste er Wissen und Techniken, die er in früheren Semestern gelernt hatte, bereits wieder ad acta legen. Diagnoseverfahren und Medizintechnik unterliegen einem dermaßen schnellen Fortschritt, der den angehenden Ärztinnen und Ärzten bereits im Studium ein Höchstmaß an Flexibilität abverlangt.

Wer ist beweglicher, Frauen oder Männer?

Nach unseren Daten sind Frauen beweglicher. Sie sind offener für Neues. Verwundert hat mich das nicht. Im Gegensatz zu Männern hatten Frauen schon immer einen, sagen wir, unordentlicheren Lebensverlauf, mussten und konnten viele Dinge parallel wuppen, waren ständig in Bewegung.

Was möchten Sie in Ihrem Leben noch bewegen und erleben?

Ich möchte dazu beitragen, dass der Anteil bildungsarmer Menschen deutlich abnimmt. Andere Länder machen uns vor, wie das geht. Ich möchte noch erleben, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, wenn eine Frau den Nobelpreis erhält, dass ihr Geschlecht dann nicht extra Erwähnung findet. Ich möchte erleben, dass wir gemeinsam mutig und proaktiv in die Zukunft gehen.

Und mit welchem Bewegungsmittel werden Sie jetzt gleich weiterreisen?

Der nächste Termin ist eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Naturkundemuseum. Zu Fuß schaffen wir das jetzt nicht mehr, wir nehmen den Dienstwagen.

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