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Prominente Afrikaforscher, deutscher Auslandsbergbau, exportierte DDR-Architektur. Der Sammelband »Koloniale Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft« vereint Beiträge aus elf Leibniz-Forschungseinrichtungen. Mit Heinz Peter Brogiato vom Leibniz-Institut für Länderkunde, der den Band gemeinsam mit Matthias Röschner vom Deutschen Museum herausgegeben hat, haben wir über Sinn und Zweck des Buchs, die aktuelle Debatte zur Kolonialgeschichte und die Verantwortung des Historikers in der Gesellschaft gesprochen.

LEIBNIZ Herr Brogiato, wie kam es eigentlich zur Entstehung des Bandes?

HEINZ PETER BROGIATO Die Idee entstammt dem Arbeitskreis Archive der Leibniz-Gemeinschaft, in dem sich verschiedene Institute vernetzt haben, um sich regelmäßig auszutauschen und um gemeinsame Projekte zu entwickeln. Wir sind ein relativ kleiner Arbeitskreis aus Wissenschaftler*innen mit sehr, sehr unterschiedlichen Schwerpunkten. Auch unsere Interessen liegen weit auseinander, und wir treffen uns nur zwei Mal im Jahr. Deshalb war der gemeinsame Anfang schwierig, und es erklärt, dass es vier Jahre gedauert hat, bis der Band erschienen ist. Gleichzeitig bot das Thema »Kolonialismus« als ein Querschnittsthema Vielen die Möglichkeit, an dem Buch mitzuarbeiten.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Themen ausgewählt?

Eigentlich haben wir überhaupt keine Einschränkungen vorgenommen – wir wollten vor allem möglichst viele verschiedene Themen im Band haben. Die meisten von uns haben Texte mit kolonialgeschichtlichem Bezug gewählt. Aber es kommen eben auch Texte vor, die keinen direkten Bezug zur Kolonialzeit haben, sondern deren Wirkmächtigkeit betrachten oder koloniales Denken und Handeln in anderen Kontexten untersuchen. Wir haben die Klammer bewusst sehr groß gehalten. Wichtig war uns, zu zeigen, welche thematische Vielfalt zum Kolonialismus in unseren Archiven abgedeckt wird. Letztlich wollen wir mit dem Buch Interesse und Neugier unter den Forschenden wecken.

Hat Sie manches vorgeschlagene Thema überrascht?

Ja, das war ja eine wahre Wundertüte. Die Architektur im Rahmen der Entwicklungspolitik der DDR zum Beispiel oder das Atlantropa-Projekt, das im Archiv des Deutschen Museums dokumentiert ist.

Eine moralisierende Geschichtswissenschaft finde ich problematisch.

HEINZ PETER BROGIATO

Heinz Peter Brogiato in seinem Büro

Wie hat sich der Blick der Gesellschaft auf die Kolonialgeschichte denn überhaupt über die Zeit verändert?

Seit einiger Zeit herrscht ein richtiger Hype um das Thema. Das war nicht immer so. Nach dem Verlust der Kolonien etwa gab es starke revanchistische Strömungen: Viele Vereine und Einrichtungen forderten eine Rückgabe der Kolonien und betrieben Kolonialpropaganda. Der Umgang mit der Kolonialgeschichte im Nationalsozialismus war ambivalenter. Es gab Phasen, in denen Kolonialpropaganda betrieben wurde, aber auch Zeiten, in denen das koloniale Thema unerwünscht war. Spätestens nach Kriegsbeginn war den Nazis die Expansion im europäischen Osten wichtiger als die Rückgabe der überseeischen Kolonien. Auch nach 1945 fand noch lange Zeit keine kritische Aufarbeitung des Themas statt. Bekanntlich waren die Nachkriegsjahre eine Zeit der Verdrängung und Ausblendung. Das galt für die NS-Zeit, aber auch für den Kolonialismus, denn dessen Ende lag gerade mal drei Jahrzehnte zurück. Man war noch viel zu dicht dran, es gab noch viel zu viele Akteure, die in Kolonialpolitik und -propaganda involviert gewesen waren.

Wann hat sich das geändert?

Einen grundlegenden Wandel des politischen Bewusstseins in den beiden deutschen Staaten gab es in den 1970er Jahren. Zumindest für den Westen kann man sagen, dass das durch die 68er-Bewegung kam – da entstand eine neue Denke und auch ein neuer Blick auf Entwicklungspolitik. Damals hat man sich sehr kritisch mit der Politik der Bundesrepublik auseinandergesetzt, und natürlich waren die koloniale Vergangenheit und die Verantwortung für die Folgen ein Thema. Außerdem wurde der eurozentrische Blick an sich stark hinterfragt. Aber selbst von da war es noch ein weiter Weg, bis sich eine so breite Debatte wie heute um die Kolonialgeschichte entspinnen konnte. Heute gibt es ja sehr viele Themenbereiche, die in irgendeiner Form daran anknüpfen. Es ist gerade ein Modethema, denken wir an die Debatte um das Humboldt Forum in Berlin und über die Rolle der Völkerkundemuseen in heutiger Zeit, die Provenienzforschung und die Restitution von kolonialem Raubgut oder die Einstufung von Kolonialkriegen als Völkermord.

Tatsächlich ist das Thema derzeit in aller Munde. Wie sehen Sie als Fachwissenschaftler denn die gesellschaftliche Debatte zur deutschen Kolonialgeschichte?

Selbstverständlich ist es längst an der Zeit, sich kritisch mit dem kolonialistischen und rassistischen Erbe der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Aber am Diskurs beteiligen sich ja keineswegs nur Historiker und andere Wissenschaftler. Längst hat die Diskussion die Mitte der Gesellschaft erreicht. Und wie das häufig bei hitzigen Debatten ist, wird Vieles nur noch schwarz-weiß gesehen. Häufig wird in Einzelfragen das Kind mit dem Bade ausgekippt.

Wie meinen Sie das?

Ich halte es für problematisch, wenn ich alles, was aus einer bestimmten Epoche kommt, mit einem pauschalen Urteil versehe. Wichtiger wäre es doch, die Kontexte zu analysieren. Wenn wir das mal am Beispiel Hans Meyers deutlich machen, mit dem ich mich lange befasst habe. Vor 130 Jahren hat Meyer im dritten Anlauf den Kilimandscharo bestiegen – und zum höchsten Berg des Deutschen Reichs erklärt. Natürlich war er Kolonialist, überzeugter Anhänger einer deutschen Kolonialexpansion. Und er hat Vieles geschrieben, was man heute so nicht mehr schreiben könnte und wollte. Aber da mit einer moralisierenden Geschichtswissenschaft heranzugehen, finde ich problematisch. Wenn die historische Kontextualisierung nicht mehr vorgesehen ist, wird es nämlich schwierig, unterschiedliche Facetten herauszuarbeiten. Differenzierung sollte nach wie vor ein wichtiges Ziel der Geschichtswissenschaft sein.

Kolonialist und Entdecker Hans Meyer mit Einheimischen auf einer Expedition in Afrika
Entdecker, Schriftsteller, Verleger – und überzeugter Kolonialist. Hans Meyer auf einer seiner Kilimandscharo-Expeditionen.

Sie wollen mehr darüber erfahren, welchen Spuren der Kolonialzeit Leibniz-Forschende in ihren Recherchen nachgegangen sind? Hier haben wir uns vier Beipiele genauer angesehen.

Welche Facetten und Kontexte wären das im Fall Meyer?

Er war ein Self-made man, hat sich selbst vermarktet. Vieles, was er geschrieben hat, diente dem Zweck der Publikation – also dem Verkauf seiner Bücher. Als Besitzer eines Verlages, dessen Maxime es war, Bildung zu vermitteln, kannte er sich in diesem Geschäft gut aus. Wenn wir von ihm heute Schriften lesen, erfahren wir also mehr über den Schriftsteller Meyer, eine Kunstfigur, als über den tatsächlichen Reisenden. Und besser einordnen können wir das nur, wenn wir die Hintergründe wissen. Welche Rolle spielte etwa der familiäre Hintergrund? Was war seine Intention beim Schreiben? Wer waren die Adressaten?

Sie empfinden das Wissen der Debattierenden als mangelhaft. Welches Missverständnis in Bezug auf Kolonialisierung stellt aus Ihrer Sicht eine besonders große Wissenslücke dar?

Beispielsweise herrscht oft die Vorstellung, dass Kolonialisierung und Kolonialpolitik sehr zielgerichtet und systematisch stattfand. Doch insbesondere vor der offiziellen Gründung der Kolonien war das nicht so. Gerade vor 1880 befanden sich unter den Akteuren zahlreiche Abenteurer und Raubritter. Von staatlicher Ordnung keine Spur, in vielen Bereichen herrschte pure Anarchie. Nicht umsonst hat Hans Meyer in seinen Briefen entrüstet an seine Familie geschrieben, welch wildes Leben da mancher seiner Zeitgenossen führte. Seine harsche Kritik machte ihn in Kolonialkreisen zunächst nicht gerade beliebt, und heutige Leser seiner Bücher »überlesen« solche Stellen geflissentlich. Allerdings muss man auch sehen, dass er sich später, als die Verwaltung der Kolonien besser funktionierte, begeistert darüber äußerte. Den Verlust der Kolonien empfand er als zutiefst ungerecht, daher gehörte er zu den entschiedensten Verfechtern einer Rückgabe an das Deutsche Reich.

Sehen Sie sich da als Experte auch in der Verantwortung, am Verlauf von Debatten etwas zu ändern?

Das ist eine große Frage. Vielleicht. Mein Eindruck ist, dass in den Diskussionen oft erstaunlich wenig historisches Wissen vorherrscht. Archive, Bibliotheken und Museen tragen da eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Sie sollten in Diskurse stärker eingebunden sein, ihr Wissen und ihre Kompetenzen einbringen – schlicht, damit eine Debatte auf breitere Schultern gestellt wird.

Gibt es denn Stellen, wo sich auch das kolonialgeschichtliche Wissen von heute noch erweitern ließe?

Auf jeden Fall, viele ungehobene Schätze warten in den Missions- und Wirtschaftsarchiven. Sie zu heben, ist eine Zeit- und Ressourcenfrage. In unserem Archiv in Leipzig spielt der Kolonialismus auch eine zentrale Rolle. In anderen Fällen ist er nach meinem Eindruck nach wie vor eine Orchidee … Die Frage ist eher: Wenn man diese Wissenslücken schließt – erreicht man damit wirklich jemanden? Heute scheint Wissenserwerb häufig von der Digitalität der Quellen abzuhängen. Es wird aber noch lange dauern, bis alle relevanten Quellen digital vorliegen. So lange muss man sich auf die traditionelle Ochsentour begeben und den Weg in die Archive nicht scheuen. Vielleicht kann unser Buch die Neugier wecken, in die Archive der Leibniz-Gemeinschaft zu gehen und bisher unbeachtete Bestände zum Kolonialismus zu heben. Wenn das erreicht würde, hätte das Buch seine Aufgabe erfüllt.

 

Noch mehr über den Sammelband »Koloniale Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft« finden Sie hier.

Die Außefassade des Humboldt-Forums in Berlin
Vieldiskutierter Wiederaufbau: Das Humboldt Forum in Berlin. Foto GIULIANI/VON GIESE

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