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In einer Wohngemeinschaft lebt es sich im besten Fall bunt, lebendig und abwechslungsreich. Man ist selten allein, ergänzt sich – und gerät gelegentlich auch mal aneinander. Dass auch wir so eine vielfältige Lebensgemeinschaft beherbergen, weiß die Wissenschaft erst seit ein paar Jahren. In unserem Darm ist immer Full House. Mit dem sogenannten Mikrobiom wohnt unserem Verdauungsorgan eines der komplexesten Ökosysteme überhaupt inne. Es steht für Abermilliarden von Mikroorganismen, die in einem komplizierten Gewirr untereinander und mit dem sie umgebenden Körper kommunizieren. Insgesamt konnten bereits mehr als 4.500 verschiedene Spezies identifiziert werden. Bedingt durch Genetik und Umwelt kommen sie im Darm jedes Menschen in einem einzigartigen Mix vor.

Doch die Bewohner des Darms leben nicht nur zusammen. Sie übernehmen auch zahlreiche Aufgaben, sind WG-Genossen und Hausmeister des Körpers zugleich. Denn die Mikroben beeinflussen unsere Gesundheit maßgeblich. Je nachdem, wie das Mikrobiom zusammengesetzt ist, kann es Krankheiten verhindern – oder sie begünstigen: Denn einige Bakterien in unserer WG fördern Entzündungen, bauen lebenswichtige Proteine ab und setzen Toxine frei. Studien belegen, dass Darmbakterien mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn, mit Darmkrebs, Herz- Kreislauf-Erkrankungen, Rheuma, Multipler Sklerose oder Adipositas in Verbindung stehen.

Für Mikrobiologen und die Medizin ist die Vielfalt in unserem Darm eine verheißungsvolle Wundertüte: Welche Geheimnisse und Chancen schlummern in ihr? Wie können wir sie auf positive Weise beeinflussen? Und sind die Hoffnungen berechtigt, dass wir mithilfe der vielfältigen kleinen Helfer sogar bestimmte Krankheiten therapieren oder ihnen vorbeugen können? Um das herauszufinden, reicht es nicht, schlicht die Bakterienspezies und ihre Lebensgewohnheiten zu kennen. Wir müssen verstehen, wie das Mikrobiom als Ganzes funktioniert.

Es bringt rund anderthalb Kilogramm auf die Waage. Über 95 Prozent der dort wimmelnden Arten sind Darmbakterien der Stämme Bacteroidetes oder Firmicutes. Im Darm helfen sie zum Beispiel bei der Verdauung, indem sie Enzyme produzieren. Aus unverdaulichen Ballaststoffen fertigen sie kurzkettige Fettsäuren, die die Dickdarmzellen mit Energie beliefern und die Darmbewegung fördern. Die Mikroorganismen versorgen den Körper zudem mit wichtigen Vitaminen wie Folsäure, Biotin, Vitamin K oder Vitamin B12. Einige Darmbakterien können giftige oder krebserregende Substanzen neutralisieren, oder sie zersetzen Medikamente, sodass sie im Körper wirksam werden können. Andere schützen die Darmbarriere vor krankmachenden Keimen und regulieren das Immunsystem. So wirkt das Mikrobiom lokal im Verdauungstrakt, beeinflusst aber auch entfernte Organe wie die Leber – oder das Gehirn: Denn Darmbakterien produzieren Neurotransmitter wie Dopamin oder Serotonin, die im Körper zur Kommunikation zwischen den Nerven dienen.

Humoristische Illustration eines Bakteriums mit Demo-Banner, auf dem steht: "1,2,3, Gemüse ist dabe, 7,8,9, dein Körper wird sich freun!"

Tobias Goris vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) will genauer wissen, wie die Bewohner dieser Wohngemeinschaft nun eigentlich ihr Zuhause in Schuss halten. Konkret erforscht der Mikrobiologe an dem Potsdamer Leibniz-Institut, wie verschiedene Darmbakterien den Körper bei der Verarbeitung sekundärer Pflanzenstoffe unterstützen – das sind Farb-, Duft- und Aromastoffe in Pflanzen. Besonders interessieren ihn die sogenannten Flavonoide. Sie kommen in pflanzlichen Lebensmitteln wie Obst, Gemüse und Tee vor, aber auch in Schokolade und Wein. Das körpereigene Darmmikrobiom baut die Flavonoide ab oder um – und wirkt sich so zum Beispiel positiv auf das Herz-Kreislauf-System aus. Studien zufolge können Flavonoide immunstärkende, verdauungsfördernde, gefäß- und zellschützende sowie entzündungshemmende Wirkungen haben.

Bisher hat die Wissenschaft gezeigt: Darmbakterien können die Flavonoide mithilfe bestimmter Enzyme strukturell verändern oder hemmen. Enzyme sind Substanzen, die einzelne Stoffwechselprozesse unterstützen. Mit biotechnologischen Methoden will Tobias Goris neue, bisher unbekannte, aber hochwirksame Enzyme im Mikrobiom finden. Kennt man nämlich den genetischen Code dieser Katalysatoren, kann man Flavonoide mikrobiell nachbauen. Etwa 20 dieser Enzymgensequenzen sind bereits bekannt, die weltweite Forschung dazu steht aber noch am Anfang.

Goris durchforstet zunächst riesige Datenbanken, in denen die Gensequenzen aller Mikrobiota, also aller Darmbakterien weltweit, registriert sind. Hat er – nach komplizierten Analysen – ein Bakterium ausgemacht, dessen Enzym Flavonoide umbauen kann, isoliert und charakterisiert er dieses Enzym biochemisch im Labor in Potsdam. In einem Partnerlabor in Italien, mit dem das DIfE in einem EU-Projekt zusammenarbeitet, lässt er die Gensequenz des Enzyms dann biotechnologisch herstellen. Sie bildet die Basis, um das gesuchte Flavonoid mikrobiell nachzubauen.

Wofür aber braucht man mikrobiell hergestellte Flavonoide, wenn man sie auch in Lebensmitteln wie Obst und Gemüse finden kann? In Pflanzenzellen kommen die Flavonoide oft in geringer Menge vor und müssen extrem aufwendig aus dem komplexen Stoffgewirr der Zelle getrennt werden, sagt Goris. Können wir aber einzelne, hochwirksame Flavonoide mikrobiell produzieren, könnten sie in Zukunft zum Beispiel in Arzneimittel einfließen. In der Entwicklung von Medikamenten gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder bei Diabetes ist die Nachfrage groß. Auch als Nahrungsergänzungsmittel könnten sie genutzt werden.

Illustration von Lebensmitteln: Ein Glas Rotwein, eine Blaubeere, eine Tafel Schokolade, eine Aubergine und ein Teebeutel. Sie stehen auf einem Siegertreppchen, die Schokolade ganz oben, der Gehalt ihrer Flavonoide ist unter ihnen zu lesen.

Noch einen Schritt früher setzt Sören Ocvirk an. Am DIfE untersucht er, wie es sich auf die WG in unserem Darm auswirkt, wenn ständig nur Party gemacht und Pizza gegessen wird – oder sich alle vegetarisch ernähren. Dafür reist der Postdoktorand um die halbe Welt: In Alaska und dem südlichen Afrika, zum Beispiel in Südafrika und Zimbabwe, wollte er herausfinden, wie die Bakterien im Verdauungstrakt auf die regionaltypische Ernährungsweise der Menschen reagieren.

Unsere Ernährung beeinflusst maßgeblich, wie sich das Mikrobiom zusammensetzt, und das hat wiederum Einfluss auf das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, sagt er. Die Menschen in den ländlichen Regionen der Subsahara haben deshalb das niedrigste Darmkrebsrisiko weltweit. Der Hauptgrund dafür ist eine überwiegend pflanzliche Ernährung. Je mehr Fett und Fleisch man hingegen isst – je »westlicher« die Ernährung sich also gestaltet – desto mehr verändert sich auch die Aktivität des Mikrobioms. Unsere Darmbakterien produzieren dann viele sogenannte sekundäre Gallensäuren: Risikomarker, die Sören Ocvirk in den Stuhlproben der Menschen nachweisen und messen kann.

Steigt ihr Gehalt in den Proben stark an, kann das auf ein erhöhtes Darmkrebsrisiko hinweisen, sagt der Mikrobiologe. Und auch das Risiko für chronische Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck nimmt zu. In der Subsahara konnten wir das in einer kleineren Studie belegen, in der wir Proben vom Land mit Proben aus Städten verglichen haben, deren Bewohner sich weniger gesund ernähren. Besonders deutlich ist der negative Effekt einer fett- und fleischlastigen Ernährung in Ocvirks Untersuchungsgebiet auf der anderen Seite der Erde: Die Ureinwohner Alaskas haben das weltweit höchste Risiko, an Darmkrebs zu erkranken.

Körnerbrot, Linsensuppe und Bohnensalat hingegen heben die Stimmung in unserer inneren Bakterien-WG erheblich. Nehmen wir unverdauliche Ballaststoffe durch Vollkorn oder Hülsenfrüchte auf, produzieren unsere Darmbakterien daraus kurzkettige Fettsäuren, sagt Sören Ocvirk. Einige davon wirken tumorsuppressiv, können also das Wachstum von Krebs hemmen.

Unsere Ernährung beeinflusst maßgeblich, wie sich das Mikrobiom zusammensetzt.

SÖREN OCVIRK

Humoristische Illustration von Bakterien, die gegen Seife, Desinfektionsmittel und Putzmittel demonstrieren.

Auch in Afrika könnte das Risiko für Zivilisationskrankheiten allerdings bald massiv steigen, da sich der westliche Lebensstil auch dort immer weiter verbreitet. Wir teilen unser Wissen daher mit lokalen Gesundheitsexperten und wollen so dazu beitragen, dass afrikanische Länder nicht dieselben Fehler machen wie wir. Im Umkehrschluss könne man von der Ernährung der Menschen im südlichen Afrika lernen. Und von ihrem Lebensstil.

Wir vermuten nämlich, dass neben der Ernährung auch die Hygiene eine Rolle bei der Entstehung von Darmkrebs spielt, sagt Ocvirk. Im Zentrum der Überlegung steht eine Erkrankung, unter der die Menschen in der Subsahara regelmäßig leiden: ein Durchfall, der durch einen spezifischen Krankheitskeim ausgelöst wird, der besonders auf dem Land im Umlauf ist, wo die hygienischen Standards oft niedriger sind. Die genauen Zusammenhänge erforschen wir gerade noch, aber eventuell stoßen die Krankheitserreger dieses Durchfalls Prozesse im Mikrobiom an, die das Darmkrebsrisiko langfristig senken. Die oft übertriebene Hygiene in anderen Teilen der Welt könnte das Risiko dagegen eher erhöhen. Ocvirks Erkenntnisse könnten in Zukunft gezielt zur Prävention von Darmkrebs beitragen.

Was aber bedeutet all das für die vielfältige Bakterien-WG, die uns allen innewohnt? Wenn wir als Teambuilding für die bakteriellen Mitbewohner regelmäßig gesunde Kochabende veranstalten und beim Putzplan auch mal fünfe gerade sein lassen, können wir das Haus mit relativ überschaubarem Einsatz – weniger Fleisch, mehr pflanzlicher Kost mit Ballaststoffen und Flavonoiden sowie einem gesunden Umgang mit Hygiene – in Ordnung halten. Wir müssen es einfach nur tun.

Humoristische Illustration von Bakterien, die an einem Tisch sitzen.

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