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Die Corona-Winterwelle nimmt gerade mächtig Fahrt auf. Viele fragen sich dennoch, ob und wie sehr sie eigentlich noch aufpassen müssen. Täuscht der Eindruck, dass das Virus immer harmloser wird? Schützen die neuen Impfstoffe besser? Und was haben wir eigentlich aus den vergangenen beiden Jahren gelernt? In unserem Podcast »Tonspur Wissen« hat die Journalistin Ursula Weidenfeld den Epidemiologen Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) gefragt.

LEIBNIZ Herr Zeeb, die Corona-Zahlen steigen wieder, zuletzt rollte etwa in München die Oktoberfest-Welle. Trotzdem machen wir uns keine Sorgen. Ist diese Haltung richtig?

HAJO ZEEB Diese Beobachtung zumindest ist richtig. Ob es allerdings richtig ist, jetzt überhaupt keine Besorgnis mehr an den Tag zu legen, da bin ich skeptisch. Die steigenden Zahlen sind ja Anzeichen, dass Corona weiter da ist. Ich glaube, wir müssen weiter aufpassen, damit uns das nicht noch einmal über den Kopf wächst.

Sind wir angesichts der steigenden Zahlen nicht schon jetzt ziemlich hoch in der Kurve, wenn wir doch eigentlich eine Winterwelle erwarten?

Wir sind jetzt schon auf dem Weg nach oben, es ist aber noch deutlich mehr zu erwarten. Zum Glück bleibt es dabei, dass die Erkrankungen bisher weitgehend mild sind und wir keine dramatischen Zustände in den Krankenhäusern oder bei der Sterblichkeitsrate haben.

Das hängt auch mit den im Moment kursierenden Varianten zusammen, die zwar sehr ansteckend sind, aber keine schlimmen Verläufe auslösen. Corona ist also noch da, hat aber nach Meinung vieler seinen Schrecken verloren.

Es ist ja gut, dass wir den großen Schrecken – den wir zu Recht hatten – jetzt nicht mehr haben müssen. Aber jetzt geht es darum, dass wir vernünftig mit dem endemischen Zustand umgehen, mit entsprechenden Schutzmaßnahmen. Wahrscheinlich müssen wir lernen, mit Corona noch eine Weile zu leben.

Was sind denn Ihrer Meinung nach vernünftige Schutzmaßnahmen? Maske, ja oder nein?

Masken bleiben weiterhin ein entscheidendes Instrument im Repertoire. Besonders in Situationen, wo viele Menschen aufeinandertreffen, sind sie empfehlenswert. Aber selbst beim Oktoberfest waren einige der Meinung, dass deutlichere Hinweise auf das Maskentragen vielleicht sinnvoller gewesen wären.

Porträt von Hajo Zeeb
Der Epidemiologe Hajo Zeeb. Foto SEBASTIAN BUDDE/BIPS

HAJO ZEEB
leitet die Abteilung Prävention und Evaluation am BIPS. Er arbeitete unter anderem in Namibia und bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die evidenzbasierte Prävention und Evaluation chronischer Erkrankungen sowie die epidemiologische Forschung zur Gesundheit von Migranten.

Halten Sie es für sinnvoll, vor Großveranstaltungen verpflichtende Schnelltests anzuordnen?

Schnelltests gehören auch ganz klar zum Instrumentarium. Es hilft schon, wenn man vorab einen Test machen lässt, denn wir wissen, dass es auch jetzt noch eine Menge asymptomatischer Verläufe gibt. Mit Tests kann man vor einem Fest einige Menschen »herausfischen«, die positiv sind. Endgültige Sicherheit bieten sie jedoch auch nicht.

Asymptomatische Verläufe heißt: Es sind Leute infiziert, die sich aber gar nicht krank fühlen. Trotzdem sind sie ansteckend. Müssen wir mit Blick auf die Winterwelle von einer großen Dunkelziffer ausgehen?

Einige Menschen werden tatsächlich das Virus weitergeben, obwohl sie vielleicht nur milde Symptome haben oder diese nicht Corona zuordnen. Schließlich gibt es auch weiterhin die normale Erkältung und den normalen Schnupfen – sogar wieder ein wenig häufiger, weil wir durch den großen Infektionsschutz damit zuletzt weniger konfrontiert waren. Gerade weil viele Betriebe und Einrichtungen das dauerhafte Testen eingestellt haben, sollten wir weiterhin daran denken, dass auch diese Symptome Corona bedeuten könnten.

Wie schlimm ist es für Epidemiologen, wenn sie nicht wissen, wie viele Menschen genau infiziert sind?

Epidemiologen finden das insofern schlimm, weil sie ja vernünftige, evidenzbasierte Zahlen liefern möchten, um den Status von Corona bestimmen zu können. Aber auch aus den vorhandenen Informationen kann man Schlüsse ziehen, selbst wenn wir nur die Spitze des Eisbergs sehen.

Sind wir in einer Art Blindflug unterwegs?

Gewissermaßen schon. Durch die PCR-Tests haben wir einen Teil der Infektionen im Blick. Aber die Infektionszahlen derer, die sich zu Hause oder gar nicht testen, kennen wir nicht. Wir haben auch keine laufenden Informationen, aus Studien beispielsweise, die konkret auf die Erfassung unbekannter Infektionen abzielen. Wenigstens sieht es im Moment so aus, dass die Kliniken nicht überlaufen werden.

In der Pandemie haben wir vieles gelernt – und schmerzhaft lernen müssen.

HAJO ZEEB

Inzwischen gibt es angepasste Impfstoffe. Bedeutet eine dritte oder vierte Impfung damit, dass wir uns nicht mehr anstecken?

Die Ansteckungsmöglichkeit bleibt durchaus weiter erhalten, auch bei den neuen Impfstoffen. Sie wurden darauf auch gar nicht explizit getestet. Die aktuelle Studienlage baut stattdessen stärker auf Analogien zu den vorhandenen Impfstoffen und auf relativ kleinen Versuchsreihen auf, die zum Teil nur aus Tierversuchen oder Zellkulturreihen bestanden.

Das klingt ein bisschen bedenklich. Ist es nicht mehr so wichtig, dass die neuen, angepassten Impfstoffe auch sorgfältig getestet sind?

Es ging vor allem darum, ob sie so ähnlich wirken wie die bisherigen. Das ist definitiv der Fall, deswegen haben die Zulassungsbehörden sie auch als Fortsetzung erlaubt. Sie sind aber viel genauer auf die jetzt zirkulierenden Virusvarianten zugeschnitten und werden daher wahrscheinlich auch beim Ansteckungsschutz genauer arbeiten.

Sie sagten vorhin, dass wir uns andere Viruserkrankungen in den letzten beiden Jahren »erspart« haben, weil wir weniger rausgegangen sind und die Maske aufhatten. Was heißt das bezüglich einer Grippewelle?

Die Grippewelle ist dadurch wieder ein größeres Thema, denn die Schutzmechanismen waren auch sehr wirksam gegen sie. Ältere oder Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sollten deshalb jetzt auch auf die Grippeschutzimpfung achten.

Ist sie wichtiger als die vierte Coronaimpfung?

Bei der Grippe kann man nie im Voraus absehen, wie viele Fälle es tatsächlich werden. Insgesamt haben die Wellen der Corona-Pandemie in Deutschland aber natürlich wesentlich mehr Leute erfasst. Bei der Arbeit werden in diesem Winter die meisten wohl eher wegen Corona ausfallen.

 

Personen mit medizinischen Masken auf einem Wochenmarkt.
Foto GABRIELLA CLARE MARINO/UNSPLASH

Was haben Sie als Epidemiologe in den vergangenen beiden Jahren über Seuchen und Pandemien gelernt?

Zum Beispiel, dass wir zwar schon vorher über die Vorbereitung auf Pandemien gesprochen haben, nun aber sehen mussten, dass unsere Pläne vielfach nicht zogen. Auch waren aus epidemiologischer Sicht Daten nicht schnell genug verfügbar und Reaktionen oft zu langsam. Andere Länder haben zum Beispiel schneller auf neue Erkenntnisse aus klinischen Studien zu Medikamenten oder Impfstoffen reagiert.

Anfangs haben wir voller Bewunderung nach China geschaut. Kommen autokratische Systeme besser mit Pandemien zurecht?

China hat sehr schnell und an vielen Stellen auch sehr bemerkenswert reagiert. Innerhalb kürzester Zeit konnte eine großartige Infrastruktur mit Krankenhäusern und Isoliereinrichtungen aufgebaut werden. Mit massiven Maßnahmen kann es also durchaus gelingen, selbst ein so infektiöses Virus einzudämmen. Allerdings war damals schon klar, wie sehr China die Bevölkerung mit restriktiven Mitteln drangsaliert. Welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen in der Bevölkerung damit einhergingen, ist ein noch ungeschriebenes Kapitel. Die Einbußen sind aber sicherlich immens.

Die europäischen Länder können sich nicht so stark abschotten wie das autokratisch regierte China. Welche Lehren können sie daraus ziehen?

Es gibt auch einige asiatische Länder, die nicht autokratisch geführt werden, aber trotzdem sehr schnell und gut reagiert und das schädigende Potenzial der Viren früh erkannt haben. Südkorea und Taiwan gehören dazu. Sie waren aus der Vergangenheit aber auch besser vorbereitet, weil sie mit solchen Situationen schon einmal zu tun hatten. Und natürlich wurden dort die Bürgerrechte viel stärker eingeschränkt, als wir es bei uns vielleicht akzeptieren würden – diese Diskussion müssen wir weiterführen. Die Ansätze zum digitalen Arbeiten und Nachverfolgen der Kontakte bei uns haben ja auch schon gut funktioniert.

Werden wir beim nächsten Mal wieder in dieselben Fallen laufen?

Ganz ausschließen kann man das nicht. Wir haben aber natürlich schon eine Menge gelernt und zum Teil auch schmerzhaft lernen müssen. Vielleicht werden wir auch andere Fehler machen. An vielen Stellen bleibt eine Pandemie schließlich ein überraschendes Geschehen. Kein Land der Welt ist komplett ohne größere Blessuren durch die Pandemie gekommen. Alle mussten Federn lassen.

TONSPUR WISSEN

Das Gespräch mit Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) können Sie in voller Länge im Podcast Tonspur Wissen von Rheinischer Post und der Leibniz-Gemeischaft hören. Für leibniz haben wir es leicht gekürzt und bearbeitet. Im Podcast widmet sich die Journalistin Ursula Weidenfeld aktuellen Themen und Entwicklungen und spricht darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Leibniz-Gemeinschaft. Alle Folgen des Podcasts finden Sie hier.

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