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Im Epilog verkehren wir den Schwerpunkt »Flucht« in sein Gegenteil. Weitere Epiloge finden Sie hier.

Kristalle sind Kunstobjekte. Metallisch glänzend und spiegelglatt sind sie meist. Auch ihr Wert ist beachtlich: Einige der Ausgangsmaterialien, etwa die verschiedenen Isotope von Silizium, kosten zwei- bis dreimal mehr als Gold. Deshalb stehen mir für die Kristallzüchtung nur begrenzte Mengen zur Verfügung, nichts darf verloren gehen. Meinen ersten Kristall habe ich im März 1976 hergestellt. Er war nichts Außergewöhnliches, aber der Anfang von mittlerweile etwa 1.000 verschiedenen Arten.

Zu sehen, wie die Kristalle wachsen, berührt mich bis heute. Vieles kann schiefgehen, deshalb stehe ich oft nervös und schweißgebadet neben den Apparaturen. Anfang Mai war einer dieser Momente: Für die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) haben wir einen Kristall aus 28Si-Isotopen fertiggestellt. Isotope sind Atome desselben Elements, die jedoch eine unterschiedliche Anzahl an Neutronen und damit auch eine unterschiedliche Masse haben. Unser Silizium-Kristall hat eine ganz besondere Aufgabe: Er soll helfen, das Kilogramm neu zu definieren. Maßeinheiten dürfen sich nicht verändern, sie müssen bleiben.

Das Kilo ist die einzige Einheit im internationalen Maßsystem, die nicht über eine Naturkonstante definiert ist. Der Meter etwa wird über die Lichtgeschwindigkeit abgeleitet. Dieser Wert ist endgültig und kann theoretisch in jedem Labor der Welt geprüft werden. Beim Kilogramm dagegen dient ein Zylinder aus Metall als Bezugsgröße, Kopien dieses »Urkilos« sind in der ganzen Welt verteilt. Doch zwischen den Kopien und dem Original in Paris liegen mittlerweile Welten: 0,00005 Gramm Gewichtsunterschied, obwohl die Masse eigentlich beständig sein sollte. Wir wollen dieses Problem lösen und das Kilogramm für alle Zeiten über die Zahl der Atome definieren.

Die Theorie klingt einfach: Sind die Menge der Atome in einem Volumen und die Masse bekannt, können wir die Avogadro-Konstante errechnen, eine Naturkonstante. Äußerst kompliziert ist jedoch die Umsetzung. Es muss ein Kristall entstehen, der so viele Silizium-Atome enthält, dass die PTB aus ihm zwei Kugeln mit der Masse von je exakt einem Kilogramm schleifen lassen kann. Als Material für solche Kugel-Kristalle kommt nur Silizium in Frage, denn es ist beständig, chemisch stabil und lässt sich gut reinigen. Jede Verschmutzung könnte die Berechnung am Ende verfälschen. Der Kristall von Anfang Mai ist für mich perfekt.

NIKOLAY V. ABROSIMOV vom Leibniz-Institut für Kristallzüchtung ist im Titelbild mit einem selbst gezüchteten, über fünf Kilogramm schweren Silizium-Kristall zu sehen. Ein Nachfolger des Kristalls soll schon bald das Urkilogramm in Paris ersetzen.

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